Die Welt - 07.09.2019

(Axel Boer) #1

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ranz Kafka:
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ranz Kafka:

(^3) D (^3) D (^333) as Schlossas Schloss
Eine menschliche Standardsituation, die
auf der ganzen Welt nachvollziehbar ist:
Ein Einzelner trifft auf eine eingeschwore-
ne Dorfgemeinschaft und merkt sofort: Die
brauchen hier keine Fremden. Es zeigt sich
aber bald, dass sowohl die Gemeinschaft
wie der Einzelne ihre Position infrage stel-
len müssen. Der Landvermesser K. über-
legt sich: Das sind solche Idioten im Dorf,
so unterwürfig gegenüber dem Schloss.
Will ich wirklich hier leben? – um den Preis
der Unterwerfung? Umgekehrt beginnen
im Dorf manche Leute allein durch die Tat-
sache, dass da jemand von außen kommt,
zu begreifen: Ich muss hier nicht versau-
ern. Frieda will sogar mit dem Landver-
messer auswandern. „Das Schloss“ ist
nicht so populär wie „Der Prozess“, auch
nicht so spektakulär im Plot. Aber für mich
biografisch wichtig, weil es 1982 der erste
Kafka-Text war, der bei S. Fischer als kriti-
sche Ausgabe erschien. Zum ersten Mal
konnte ich sehen, wie Kafka arbeitet, und
das war aufregend. Zum Beispiel hat er den
Roman in der Ich-Form begonnen. Doch
genau an der Stelle, wo es zum ersten Mal
zu einer sexuellen Begegnung kommt, geht
er zurück zu Seite 1 und ersetzt – über 50
Seiten hinweg – alle Ichs durch „K.“. Kafka
war offenbar nicht fähig, eine sexuelle Sze-
ne aus der Ich-Perspektive zu schildern.
Über Kafkas Bild der Frau habe ich dann
meine Dissertation geschrieben („Kafkas
erotischer Mythos“), „Das Schloss“ war da-
bei eine meine wichtigsten Quellen.
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heodor W. Adorno/Max Horkheimer:
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heodor W. Adorno/Max Horkheimer:
11111 Dialektik der Aufklärungialektik der Aufklärung
Ich habe 1969 in Pforzheim Abitur gemacht
und bin 1970 zum Studium nach Frankfurt.
Ich wollte zur „Frankfurter Schule“. Ador-
no war gerade verstorben, die Studenten-
bewegung hatte mit ihren Stoßtrupps bis
in die Schulen gewirkt, auch bei uns. Schon
ein Jahr vor dem Abi war ich wegen familiä-
rer Konflikte daheim zur Familie eines
Klassenkameraden gezogen. Weil ich Tur-
nierschach spielte, hatte ich viel Kontakt
zu Älteren – von denen ich auch mein ers-
tes Kafka-Buch in die Hände bekam: „Der
Prozess“. Damals war ich für die Komik
seiner Bücher empfänglich, die Tragik
spürte ich noch nicht. So kam der erste
Schlag auf den Hinterkopf, den mir ein
Buch verpasste, von ganz anderer Seite:
von der „Dialektik der Aufklärung“, in mei-
nem ersten Semester. Davor hatte ich – mit
Kant – geglaubt, Vernunft könne alle Pro-
bleme und Missstände der Welt lösen.
Adorno und Horkheimer stellten die Rolle
der Vernunft jedoch massiv infrage: als
Mittel der Unterwerfung der Natur, insbe-
sondere der eigenen, menschlichen Natur.
Die beiden waren offenbar geschockt da-
von, wie überproportional gerade Akade-
miker, also die scheinbar aufgeklärtesten
Leute, die Nazi-Partei gewählt hatten. Die
NS-Ideologie war hochgradig irrational.
Aber die Mittel, mit denen diese Ideologie
durchgesetzt wurde, waren durchrationali-
siert und technokratisch. Adorno und
Horkheimer fragten, wie der Aberglaube an
Rassentheorien mit diesen modernen
Herrschaftstechniken vereinbar war. Auch
heute haben wir wieder hochgebildete Leu-
te, die AfD wählen. Die „Dialektik der Auf-
klärung“ lehrt: Es genügt nicht, an die Ver-
nunft zu appellieren. Denn auch irrationale
Bedürfnisse und Befindlichkeiten können
sich die Vernunft zunutze machen.
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07.09.19 Samstag, 7. September 2019DWBE-HP



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32 DIE LITERARISCHE WELT DIE WELT SAMSTAG, 7. SEPTEMBER 2019


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ranz Kafka:
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ranz Kafka:
2 T 2 T 222 agebücheragebücher

Ich habe zuerst Philosophie und Mathema-
tik studiert. Dann wurde mir klar: Ich be-
sitze nicht die philosophische Genialität,
um davon zu leben können. Dann sattelte
ich auf die Kombination Germanistik und
Mathematik um, mit der vagen Vorstel-
lung, notfalls Lehrer werden zu können. Zu
Kafkas Tagebüchern kam ich, indem ich sie
bei einem Preisausschreiben des Verlags S.
Fischer gewann. Es gibt ja Schriftsteller
(etwa Thomas Mann), deren Tagebücher
im Vergleich zum Werk eher unliterarisch
daherkommen. Bei Kafkas Tagebüchern,
später auch bei seinen Briefen, wurde mir
klar: Hier wird alles zur Literatur. Dieser
Mensch kann gar nicht anders. Kafka
schreibt literarisch, so wie andere Leute at-
men. Er hat die unglaubliche Gabe, schein-
bar ohne Anstrengung jeden Gedanken in
Bilder zu fassen. Vielleicht können Sie und
ich formallogisch besser denken als Kafka.
Doch für die Literatur ist die Fähigkeit ent-
scheidend, für Dinge, Ereignisse und Pro-
bleme überzeugende Bilder zu finden. Je-
der, der diese Begabung zu besitzen meint,
sollte Kafkas Tagebücher lesen und dann
noch mal in sich gehen.

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ürgen Osterhammel:
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ürgen Osterhammel:
9 D 9 D 999 ie Verwandlung der Weltie Verwandlung der Welt

Als ich über die frühen Jahre Kafkas schrieb,
also die Zeit von 1883 bis etwa 1910, wollte
ich die Welt, in der er aufgewachsen ist, ver-
stehen. War die Schwelle zur Moderne da-
mals schon überschritten? Bei der Antwort
auf diese Frage half mir Osterhammels
Buch. Ich habe es durchgearbeitet und hatte
danach wirklich das Gefühl, ich habe einen
Planeten kennengelernt: eine unglaubliche
Fülle an Wissen, keine hingekippte Daten-
bank, sondern alles durchdacht und ver-
netzt. Mit Osterhammel verstand ich, wie
modern die Welt um 1900 schon war. Nicht
nur wegen Eisenbahn und Auto. Auch we-
gen der Unterseekabel. Die Verkabelung der
Welt hat das Finanzwesen globalisiert, als
Kafka noch ein Kind war. Osterhammel
schreibt auch über das Kino. Über die zu-
nehmende Bedeutung der Verwaltung, die
statistische Erfassung der Bevölkerung. Das
Versicherungswesen, in dem Kafka Beschäf-
tigung fand, war damals ultramodern. Die
Methode des Globalhistorikers, nach der
Osterhammel verfährt, machen sich heute
viele zu eigen. Kaum je habe ich aus einem
Sachbuch so viel gelernt.
PROTOKOLL: MARC REICHWEIN

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ckhard Henscheid:
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ckhard Henscheid:
6 D 6 D 666 ie Vollidiotenie Vollidioten

In meiner Schule und im Studium gab es
keine komische Literatur. Wenn das Stich-
wort Humor im Zusammenhang mit Lite-
ratur überhaupt fiel, hieß es: Wir haben
Jean Paul. Henscheid ist der Beleg dafür,
dass es abgrundtief komische deutschspra-
chige Literatur auch im 20. Jahrhundert
gibt. Sein 1973 erschienener „historischer
Roman aus dem Jahr 1972“, so der Unterti-
tel, ist der Auftakt einer Trilogie – und pa-
piertrockene Komik vom Feinsten. Ohne
Zoten, komisch allein schon durch die Fall-
höhe zwischen der elaborierten Sprache
und den trivialen Sorgen, über die da ge-
schwätzt wird – die komplexe Rückzahlung
von 56,60 Mark Schulden zum Beispiel.
Der Roman spielt in der Frankfurter Knei-
penszene. Es gibt „Titanic“-Redakteure,
Sekretärinnen, Studenten im 20. Semester.
Auch Horkheimer tritt auf. Aber nicht als
Professor, sondern als Zocker, der am
Spielautomat mit unlauteren Mitteln ge-
winnt. Literatur ganz anders, als reine
Lustlektüre, ohne die Notwendigkeit, nach
Symbolen und Allegorien zu suchen.

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ean-Paul Sartre:
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ean-Paul Sartre:
4 D 4 D 444 er Idiot der Familieer Idiot der Familie

Diese Flaubert-Biografie ist ein Monstrum.
3300 Seiten dick – und trotzdem Fragment,
denn Sartre war zu krank, um den Haupt-
teil über „Madame Bovary“ noch vollenden
zu können. Redundanzen blähen dieses
Werk enorm auf. Sartre hat es seiner Au-
genkrankheit wegen komplett diktiert. Der
Sartre-Übersetzer Traugott König erzählte
mir mal, dass er beim Übersetzen des
Mammutwerks alle vier Wochen nach Paris
fuhr und Sartre auf wörtliche Wiederho-
lungen hinwies. Worauf Sartre ihm sagte:
„Dann streichen Sie’s doch.“ Doch trotz
dieser Schwächen: Sartres „Idiot der Fami-
lie“ machte mir klar, was eine große Bio-
grafie ist, was ihr Anspruch sein kann: Alles
über einen Menschen in Erfahrung zu brin-
gen, was nur möglich ist, ein Individuum
vollkommen einzubetten in seine Zeit. Das
wurde mir zum Vorbild – wenngleich ich
gegenüber meinem Verlag erst mal nichts
davon verlauten ließ, denn dieser Anspruch
ist ja eigentlich größenwahnsinnig. Aber
Biografik kann nicht bedeuten, aufzuzäh-
len, welche Eigenschaften und Erlebnisse
ein Mensch hatte. Nein, man lässt diese Ei-
genschaften erzählend hervortreten, man
zeigt sein Handeln und kontrastiert es ge-
gen die Mentalität der Zeit. Wenn ich über
Kafkas Sexualität schreibe, muss ich wis-
sen, was die Sexualität seiner Zeit und
Klasse ausgezeichnet hat. In der linken Be-
wegung hatten wir das Genre Biografie lan-
ge unterschätzt, leider! Wir dachten, das
sei etwas für Voyeure und die Sammler his-
torischer Anekdoten. Nein. Biografik,
ernstgenommen, ist ganz und gar interdis-
ziplinär. Sie vereint Psychologie, Soziolo-
gie, Kulturgeschichte, Mentalitätsge-
schichte, Literaturgeschichte, das alles
muss sie kunstvoll miteinander verweben,
ohne in den Jargon dieser Fächer zu verfal-
len. Extrem anspruchsvoll. Bei Sartre habe
ich übrigens auch die wunderbare Meta-
pher des Gleitflugs gefunden. Wer die Um-
stände seiner Zeit als massiven Gegenwind
erfährt, der kann sich entweder umwerfen
lassen oder er hebt ab und lässt sich tragen.
Flaubert befand sich gegenüber seiner Fa-
milie in einer schwachen Position und
setzte irgendwann die Gleitflugtechnik ein,
nach dem Motto: Wenn ihr mich alle für ei-
nen Idioten haltet, sehr gut, dann versorgt
mich auch als solchen. Daher der seltsame
Titel dieser Biografie.

Ist Kafka-Biograf ein Beruf – oder ein Lebenswerk? Reiner
Stachs monumentale Biografie zu Franz Kafka umfasst
drei Bände und ist 2002, 2008 und 2014 im Verlag S. Fi-
scher erschienen. Mit der Chronik „Kafka von Tag zu Tag“
(Band 4, für echte Stalker!) wurde das Opus Magnum 2688
Seiten stark und ein Nachschlagewerk, das inzwischen
auch auf Englisch, Spanisch, Tschechisch, Türkisch, Ara-
bisch und Chinesisch vorliegt. Stach kann Kafka auch
kurz: Gerade hat er Kafkas Aphorismen kommentiert und
herausgegeben, auf nur 250 Seiten: „Du bist die Aufgabe“
(bei Wallstein). Und weil Kafka das Abiturprüfungsthema
schlechthin ist, Lehrer aber nicht selten Kafka-Bammel
haben, machte Stach auch Lehrerfortbildungen. Wie der
Literaturwissenschaftler, der 1951 in Rochlitz in Sachsen
geboren wurde und in Baden-Württemberg aufwuchs, zu
Kafka kam und was es in seinem Leseleben neben Kafka
sonst noch gibt, verrät er uns in seiner Altbauwohnung in
Berlin-Charlottenburg.

Reiner


Stach,


KAFKA-BIOGRAF
K
K
K
K
AFKA-BIOGRAFAFKA-BIOGRAF
K
AFKA-BIOGRAF
KAFKA-BIOGRAF
AFKA-BIOGRAF
AFKA-BIOGRAFAFKA-BIOGRAF
AFKA-BIOGRAF
AFKA-BIOGRAF

BIOGRAFIE IN BÜCHERN


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MARC REICHWEIN

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ohn Banville:
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ohn Banville:
88888 Im Lichte der Vergangenheitm Lichte der Vergangenheit

Während der 18 Jahre Arbeit an meiner
Kafka-Biografie las ich nur wenig neue Bel-
letristik. Insofern war Banville, den ich
heute auch persönlich kenne, eine echte
Entdeckung. Ich halte ihn für einen der
größten lebenden Autoren, nobelpreiswür-
dig. Sein zentrales Thema, das er immer
wieder variiert: Wer an sein Leben zurück-
denkt, hat bestimmte Erinnerungen – an
Dinge, die geglückt sind, gescheitert sind.
Beziehungen, Reisen, Unglücke – lauter er-
zählbare Momente erschaffen eine Identi-
tät. Was aber passiert, wenn man feststel-
len muss, dass viele dieser Erinnerungen
nur Konstrukte sind? Dieses Problem wird
umso virulenter, je älter man wird. Hier er-
innert sich ein Mann um die 70, wie er als
16-jähriger Jugendlicher eine sexuelle Be-
ziehung zu einer 35-jährigen Frau hatte.
Banville kann als einer von sehr wenigen
gut über Sex schreiben. Am Ende des Ro-
mans stellt sich heraus: Der Erzähler hat –
mit Blick auf diese Affäre – jahrzehntelang
mit einem Missverständnis gelebt. Es war
alles ganz anders. Banville zeigt: Wir sind
alle Meister der unzuverlässigen Erinne-
rung, und wir brauchen genau das.

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eo Tolstoi:
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eo Tolstoi:
5 D 5 D 555 er Tod des Iwan Iljitscher Tod des Iwan Iljitsch

Hier bekommt jemand mit Mitte vierzig
Krebs und lernt: Ich muss sterben. Jetzt
muss er es sich und seinen Angehörigen
plausibel machen. Tolstoi schildert diesen
Vorgang mit all seinen entsetzlichen Be-
gleiterscheinungen. Erst will der Mann es
nicht wahrhaben. Glaubt der Diagnose
nicht, holt einen anderen Arzt. Dann wol-
len es seine Angehörigen nicht wahrhaben,
weigern sich, mit dem Patienten über den
Tod zu reden. Als die Krankheitssymptome
unangenehm werden, distanziert sich die
eigene Ehefrau von ihm, berührt ihn nicht
mehr. Die körperliche Entfernung zu den
Lebenden nimmt stetig zu. Schilderungen
des Sterbens kommen auch bei Kafka vor,
sind aber vergleichsweise distanziert. Tols-
toi hingegen gelingt es, über diese Erfah-
rung so zu schreiben, als ob er selbst sie
durchgemacht hätte. Reines empathisches
Vermögen. Bei einem Autor, der „Anna Ka-
renina“ geschaffen hat, nicht überra-
schend. Trotzdem großartig und lange
nachwirkend.

Stanislaw Lem:
Summa technologiae

Lem ist in Deutschland fast nur
als Science-Fiction-Autor be-
kannt. Aber er war auch ein be-
deutender Essayist. Damals war
der Begriff „Futurologie“ groß in
Mode. Es ging um Fragen wie: Ist
Atomkraft beherrschbar? Wie
sieht unsere Welt aus, wenn wir
alles mit friedlicher Atomenergie
versorgt haben? In seinem 1964
(1976 auf Deutsch) erschienenen
Sachbuch greift Lem viel weiter
aus: Ist die Expansion der
Menschheit zwangsläufig? Könn-
te es sein, dass im Kosmos intelli-
gente Zivilisationen existieren,
die gar kein Interesse an Expansi-
on haben? Gelten die Darwin-
’schen Gesetze der Evolution
auch für Maschinen? Und: Kann
man sich einen Endzustand der
Zivilisation vorstellen? Solche
Fragen stellt Lem. Und er stellt
sich auch schon Maschinen vor,
die virtuelle Welten erzeugen. Er
nennt das nur anders: Phantoma-
tik. Dieses Buch war ein giganti-
sches Radar in die Zukunft.

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