Die Welt - 07.09.2019

(Axel Boer) #1

S


eit Anfang Juni protestieren
HunderttausendeMenschen
in der chinesischen Sonder-
verwaltungszone für den Er-
halt von Meinungsfreiheit
und für demokratische Werte. Dabei
konnten sie zumindest einen Teilerfolg
erreichen: Die Hongkonger Regierungs-
chefin Carrie Lam nahm ein umstrittenes
Gesetz formell zurück, das Auslieferun-
gen an China möglich gemacht hätte.
Doch die Demonstranten wollen mehr
als das. Sie fordern die Freilassung aller
bei den Protesten Festgenommenen und
das Recht, ihre Führung selbst zu wählen.
Die Demonstranten sind Teil einer Bewe-
gggung, die auch in anderen Ländern zu be-ung, die auch in anderen Ländern zu be-
obachten ist, in denen demokratische
Freiheiten eingeschränkt sind: In der Tür-
kei, in Uganda und in Russland

AAAgnes Chow Ting, 22, Hongkong: gnes Chow Ting, 22, Hongkong: Meist
schaut sie lächelnd, mal nachdenklich in
die Kamera, auf einem Bild posiert sie im
Matrosenkleid, auf einem anderen hält sie
sich ein Auge zu. Wer sich durch Agnes
Chow Tings Instagram-Profil scrollt,
denkt nicht an Massenproteste und Sitz-
streiks. Doch beim Blick auf die Texte un-
ter den Bildern wird klar: Die 22-Jährige
ist ein fester Teil der Hongkonger Pro-
testbewegung, die seit Juni gegen das
mittlerweile zurückgenommene Ausliefe-
rungsgesetz, für freie Wahlen und Mei-
nungsfreiheit kämpft.
Chows Selfie mit einer Hand vor dem
AAAuge ist ein trauriger Verweis auf eine an-uge ist ein trauriger Verweis auf eine an-
dere Demonstrantin, die bei dem oft bru-
talen Vorgehen der Polizei gegen die Pro-
teste ein Auge verlor. Von Husten und
Hautausschlag durch Tränengas und von
Polizeigewalt erzählt Chow, wenn man
sie nach den Protesten fragt. „Aber all das
ist kein Grund für mich, nicht mehr zu
protestieren“, sagt sie in einem Telefonat
Mitte August.
Schon seit Wochen beginnen ihre Tage
damit, dass sie auf dem Handy in sozialen
Netzwerken checkt, wer bei Protesten in
der vergangenen Nacht verletzt oder fest-
genommen wurde, erzählt sie. Wenige Ta-
ge später, am 30. August, wurde sie selbst
zur „Nachricht“. Chow, wie auch der Ak-
tivist Joshua Wong, wurden an besagtem
Morgen von der Hongkonger Polizei fest-
genommen, erst nach einigen Stunden
kamen sie auf Kaution wieder frei. Der
VVVorwurf: Anstiftung und Teilnahme an ei-orwurf: Anstiftung und Teilnahme an ei-
ner unerlaubten Protestversammlung.
Für Chow ist es nicht das erste Mal, dass
sie mit der Polizei zu tun hat. Schon 2014,
damals war sie gerade 16 Jahre alt, de-
monstrierte sie in Hongkong wochenlang
fffür freie Wahlen, bis Sicherheitskräfte dieür freie Wahlen, bis Sicherheitskräfte die
Proteste auflösten. Peking hat zugesagt,
dass bis zum Jahr 2047 in der ehemaligen
britischen Kolonie Hongkong demokrati-
sche Werte gelten, „Ein Staat, zwei Syste-
me“, lautet die Vereinbarung. Dass dieses
AAAbkommen eingehalten wird, dafür setztbkommen eingehalten wird, dafür setzt
sich Chow auch in der von ihr und ande-
ren Aktivisten gegründeten Partei Demo-
sisto ein. 2018 wollte sie Hongkongs
jüngste Parlamentarierin werden, legte
sogar ihre britische Staatsbürgerschaft
dafür ab. Doch sie wurde nicht zur Wahl
zugelassen – die Forderung einer Selbst-
bestimmung für Hongkong ging Peking
zu weit. Mittlerweile studiert Chow In-
ternationale Beziehungen. Und danach?

„Eigentlich sollte ich bei den Wahlen kan-
didieren, aber ich weiß natürlich, dass das
nicht möglich sein wird“, sagt sie. Aber sie
will weiter dafür kämpfen. SONJA GILLERT

Julius Katongole, 23, Uganda:Seine
Mutter hat ihn neulich zur Seite genom-
men. „Sie werden dich töten, du musst
aaaufhören“, sagte sie. Ein Polizist hatte an-ufhören“, sagte sie. Ein Polizist hatte an-
gerufen und die Familie eindringlich ge-
warnt. Es ging um die Aktivitäten ihres
2 3-jährigen Sohnes Julius Katongole.
Doch der antwortete mit einem Zitat des
Reggae-Sängers Bob Marley: „Es ist bes-
ser, kämpfend für die Freiheit zu sterben,

als ein Gefangener für den Rest deines
Lebens zu sein.“
Die Mutter, die den Sohn nach dem
Theologiestudium einst auf dem Weg
zum geruhsamen Leben eines Pastors ge-
sehen hatte, hat es seitdem aufgegeben,
ihn umzustimmen.
Längst sieht sich Katongole auf einer
Mission, die über sein eigenes Schicksal
hinausgeht. Als einer der engagiertesten
Anhänger des populären Oppositionspoli-
tikers Bobi Wine hat er in den vergange-
nen Jahren an Dutzenden Demonstratio-
nen gegen Präsident Yoweri Museveni
teilgenommen.
Einst war er ein Hoffnungsträger der
internationalen Gemeinschaft, jetzt re-
giert der Politiker das Land nunmehr seit
3 3 Jahren – mit zunehmend autokrati-
schen Tendenzen. Er schaffte Begrenzun-
gen seiner Amtszeit ab und lässt Proteste
brutal niederschlagen. Zuletzt führte er
eine Steuer für die Nutzung der sozialen
Medien ein. „Er glaubt, das wird uns
bremsen und ihn an der Macht halten“,
sagt Katongole. „Da liegt er falsch.“
Inzwischen studiert er Jura, will die
Zukunft seines Landes aktiv mitgestalten


  • trotz der Gefahr. Zweimal hat die Poli-
    zei ihn verhaftet, nachdem er in Fernseh-
    und Radiointerviews über seine Frustrati-
    on über die Regierung gesprochen hatte.
    Katongole berichtet, wie er stundenlang
    mit verbundenen Augen in einem Raum
    aaausharren musste. Von den Schlägen, denusharren musste. Von den Schlägen, den
    QQQuetschungen an den Genitalien. Dreiuetschungen an den Genitalien. Drei
    WWWochen lang verbrachte er ohne Anklageochen lang verbrachte er ohne Anklage


im Gefängnis. „Viele laufen davon, wenn
die Polizei kommt“, sagt er. „Ich bleibe.
Ich lasse mich nicht einschüchtern.“
Doch der Preis ist hoch. Sein Studium
finanzierte Katongole lange über den
Verkauf von importierter Kleidung.
Doch die Behörden kamen mit immer
neuen Steuerforderungen. Schließlich
musste er sein Geschäft schließen. „Sie
haben meinem Vermieter mit Konse-
quenzen gedroht, wenn er mich weiter
mein Geschäft betreiben lässt“, sagt Ka-
tongole. Das Regime kenne viele Mög-
lichkeiten, einem das Leben schwer zu
machen. CHRISTIAN PUTSCH

Olga Misik, 17, Moskau:Das wohl be-
kannteste Gesicht der Proteste in Moskau
ist die 17-jährige Olga Misik. Auf einer
nicht genehmigten Demonstration für die
Zulassung oppositioneller Kandidaten zu
Moskaus Regionalwahl fiel die zierliche
junge Frau auf: Sie las den schwer gerüs-
teten Beamten der Sondereinsatzkräfte
der Polizei aus dem russischen Grundge-
setz vor und versuchte, sie in Gespräche
zu verwickeln. Ihr Bild ging im Internet
vvviral. Später wurde sie festgenommen, zu-iral. Später wurde sie festgenommen, zu-
sammen mit rund 1400 weiteren Demons-
tranten.
In Artikel 31 des russischen Grundge-
setzes wird die Versammlungsfreiheit ge-
nannt, ein Recht, das die russischen Be-
hörden immer wieder ignorieren. Denn
Protestaktionen müssen vorab genehmigt
werden, was eigentlich grundgesetzwid-
rig ist. In der Regel erklären die Behörden
die Aktionen von vornherein für illegal.
Es war nicht Misiks erste Demonstra-
tion. Die Abiturientin, die erst vor zwei
Monaten die Schule als Jahrgangsbeste
beendete, hatte bereits für den Journalis-
ten Iwan Golunowsowie im vergangenen
Jahr zuvor gegen Wladimir Putins kon-
troverse Rentenreformdemonstriert.
Der Vater der 17-Jährigen ist ein ehemali-
ger Armeeoffizier und Unterstützer von
Wladimir Putin, ihre Mutter hat bei der
Präsidentschaftswahl im vergangenen
Jahr für den Kandidaten der Kommunis-
ten, Pawel Grudinin, gestimmt. Vom po-
litischen Engagement ihrer Tochter hal-
ten sie nichts. „Ungerechtigkeit geht je-

den an“, sagte Misik in einem Interview.
Bei der aktuellen Demonstrationswelle
gehe es nicht nur um das Wahlrecht, son-
dern um „elementare konstitutionell
verbriefte Rechte“ der Russen, die der
Staat ignoriere, wie die Versammlungs-
fffreiheit. Misiks Engagement hat ihr bis-reiheit. Misiks Engagement hat ihr bis-
lang Festnahmen und zahlreiche Dro-
hungen seitens der Sicherheitskräfte ein-
gebracht. Da sie minderjährig ist, kann
sie nicht wie erwachsene Teilnehmer
nicht genehmigter Demonstrationen
verfolgt werden. Diese werden zumeist
zu Geldstrafen verurteilt, einigen drohen
wegen fragwürdiger Vorwürfe Gefäng-
nisstrafen. Aufgeben will Misik nicht. In
ihrem Telegram-Kanal schrieb sie: „Es ist
wie ein Perpetuum mobile. Je mehr ich
demonstriere, desto mehr Energie habe
ich dafür.“ PAVEL LOKSHIN

Tugce Duygu Köksal, 35, Türkei: Wer in
der Türkei Anwältin wird, noch dazu für
Menschenrechte, hat sich keine leichte
AAAufgabe ausgesucht – so wie Tugce Duyguufgabe ausgesucht – so wie Tugce Duygu
Köksal. „Natürlich ist es schwierig, frei
und unabhängig zu arbeiten“, sagt sie.
„Man muss besonders vorsichtig sein,
was man sagt und was man tut, um nicht
ins Visier der Behörden zu geraten.“ Kök-
sal ließ sich davon nicht aufhalten. Die 35-
Jährige studierte zunächst Jura an der Ga-
latasaray-Universität in Istanbul, später
an der Universität im französischen
Straßburg.
VVVier Jahre lang war sie Prozessanwältinier Jahre lang war sie Prozessanwältin
in der Kanzlei des Europäischen Ge-
richtshofes für Menschenrechte. Wäh-
rend sie in Straßburg lebte und arbeitete,
ließ der türkische Präsident Recep Tayyip
Erdogan in ihrem Heimatland die Gezi-
Protestebrutal niederschlagen, er erklär-
te den Friedensprozess mit den Kurden
fffür gescheitert, er schränkte die Mei-ür gescheitert, er schränkte die Mei-
nungsfreiheit ein und ließ Internetseiten
sperren.
Schon vor dem Putschversuch im Som-
mer 2016 war kritische Berichterstattung
kaum noch möglich. Nach dem Putsch-
versuch geriet auch die Justiz immer
mehr unter Druck: Knapp ein Drittel der
Richter und Staatsanwälte wurde entlas-
sen. Hunderttausende wurden inhaftiert,
unter ihnen Oppositionspolitiker, Anwäl-
te und Journalisten. So manch einer ent-
schied sich angesichts der autoritären
Tendenzen in der Türkei für ein Leben im
AAAusland. Köksal lebte bereits in Frank-usland. Köksal lebte bereits in Frank-
reich, es wäre leicht gewesen, der Türkei
den Rücken zu kehren.
Doch 2016 kam sie zurück. Ihren
Kampf für Menschen- und Freiheitsrech-
te ficht sie nicht auf der Straße aus, son-
dern im Gerichtssaal: Sie ist Leiterin des
Menschenrechtszentrums der Istanbuler
Rechtsanwaltskammer und eine der An-
wältinnen im Prozess gegen Vertreter der
Gezi-Park-Proteste.
„Ich respektiere die Entscheidung al-
ler, die das Land verlassen haben“, sagt
Köksal. Sie ziehe es jedoch vor, zu blei-
ben und weiter für Menschenrechte und
die Verbesserung des Systems zu kämp-
fffen. „Ich mache das nicht nur für mich.en. „Ich mache das nicht nur für mich.
Ich mache das für alle Menschen, die in
der Türkei leben“, sagt sie. „Wenn ich
auch nur ein wenig zur Verbesserung der
Rechtsstaatlichkeit und der Menschen-
rechte beitragen kann, hat es sich schon
gelohnt.“ CAROLINA DRÜTEN

Die jungen,


neuen


Freiheitskämpfer


Angela Merkel fordert in Peking „Rechte und


Freiheiten“ für die Bewohner von Hongkong.


Nicht nur dort verteidigen junge Menschen die


Demokratie gegen ein autoritäres Regime


Menschnerechtlerin
TTTugce Duygu Köksalugce Duygu Köksal
kämpft in der Türkei für
mehr Demokratie (oben
links), in Honkgong geht
Aktivistin Agnes Chow
Ting (oben rechts) auf
die Straße, in Moskau
Olga Misik (unten
links), in Uganda pro-
testiert Julius Katongole
(unten) trotz aller Schi-
kanen des Regimes

CAROLINA DRÜTEN

PICTURE ALLIANCE / ZUMAPRESS.COM

/LIAU CHUNG REN

PRIVAT

/

PICTURE ALLIANCE/DPA

/EUGENE ODINOKOV

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07.09.19 Samstag, 7. September 2019DWBE-HP


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6 POLITIK DIE WELT SAMSTAG,7.SEPTEMBER


R


und 2000 Meter über den russi-
schen Weiten findet in der Nacht
zum Freitag ein Spitzentreffen der
deutschen Wirtschaft mit der Bundes-
kanzlerin statt. Angela Merkel fliegt nach
Peking und bittet die mitreisenden Vor-
standsvorsitzenden, Aufsichtsratschefs
und Mittelständler zum vertraulichen
Gespräch. Wer mit der Kanzlerin fliegen
darf, hat die Bundesregierung bis zuletzt
geheim gehalten, auch um böses Blut zu
vermeiden: Viel zu viele wollten mit.

VON ROBIN ALEXANDER
AUS PEKING

Nun sind es – unter anderem – die
Chefs oder Chefaufseher von Allianz und
BASF, von VW, BMW und Daimler, von
der Deutschen Bank und von Infineon
und natürlich Joe Kaeser, der CEO von
Siemens, der bei fast allen Merkel-Reisen
dabei ist und diesmal in seiner neuen
Funktion als Chef des wichtigen Asien-
Pazifik-Ausschusses der Deutschen Wirt-
schaft unterwegs ist.
WWWas Kaeser und Co über den Wolkenas Kaeser und Co über den Wolken
mit Merkel besprechen, soll vertraulich
bleiben. Auf dem neunstündigen Flug von
Berlin nach Peking ist aber genug Zeit für
ein paar Andeutungen. Wie deutlich die
Wirtschaftsleute es Merkel vorgetragen
haben, lassen sie nicht durchblicken, aber
klar ist: Sie wollen keine zusätzliche Un-
ruhe. Das China-Geschäft ist schon unru-
hig genug geworden in den vergangenen
Jahren. Seit US-Präsident Donald Trump
einen Handelskrieg gegen die Volksrepu-
blik begonnen hat, fürchten sich die
Deutschen, zwischen die Fronten zu gera-
ten. Noch mehr Stress braucht keiner –
aaauch nicht für Hongkong. In der ehemali-uch nicht für Hongkong. In der ehemali-
gen britischen Kolonie und Sonderwirt-
schaftszone begehrt eine Demokratiebe-
wegung auf. Soll Merkel deren Drangsa-
lierung durch die von Peking gelenkte
Führung in Hongkong kritisieren – wäh-
rend sie in China ist?
AAAber im Regierungsflieger gibt es auchber im Regierungsflieger gibt es auch
Mitreisende, die das ganz anders sehen:
Die Reporter in der Delegation der Kanz-
lerin glauben, dass nicht nur die deut-
sche, sondern auch die internationale Öf-
fffentlichkeit ein Wort der Bundeskanzle-entlichkeit ein Wort der Bundeskanzle-
rin zu Hongkong erwartet. Die Journalis-
ten haben bereits verabredet, die Kanzle-
rin danach fragen zu wollen. Aber wird es
dazu überhaupt eine Gelegenheit auf der
zzzweitägigen Reise geben?weitägigen Reise geben?
Eine Pressekonferenz steht nämlich
nicht im Programm, sondern nur eine
„Pressebegegnung“. Bedeutet das, dass
der chinesische Ministerpräsident Li Ke-
qiang und die Kanzlerin nur Statements
aaabgeben und keine Fragen zugelassenbgeben und keine Fragen zugelassen
sind? Tatsächlich ist genau darüber hinter
den Kulissen wochenlang auf allen diplo-
matischen Kanälen gerungen worden.
Mindestens zwei Fragen von jeder Seite –
wollten die Deutschen. Keine Fragen –
meinten die Chinesen. Erst kurz vor dem
Besuch der Kompromiss: Jede Seite eine
Frage. Doch das Ringen ging weiter: Erst
am Morgen konnten Merkels Leute
durchsetzen, dass wenigstens vier deut-
sche Journalisten, die aus Peking berich-
ten, zur Pressebegegnung in die großen
Halle des Volkes kommen dürfen. Vorher
war geplant, die deutsche Ortspresse
komplett auszuschließen.
Nach einem gemeinsamen Frühstück
von Li Keqiang und Merkel, der gemein-
samen Abnahme militärischer Ehren, die
in China immer besonders martialisch
aaausfallen, einem offiziellen Gespräch, derusfallen, einem offiziellen Gespräch, der
Teilnahme an einer Sitzung des Beraten-
den Ausschusses der Deutsch-Chinesi-
schen Wirtschaft und einer weiteren Sit-
zung des Deutsch-Chinesischen Dialogfo-

rums kommt am Mittag der mit Span-
nung erwartete Moment: Der Minister-
präsident und die Kanzlerin treten vor
die Presse.
Schon bei ihrem Eingangsstatement
vor dem Gespräch mit Li Keqiang hatte
Merkel gesagt, in Hongkong müsse eine
Lösung ohne Gewalt und im Dialog ge-
fffunden werden. Jetzt spricht sie das The-unden werden. Jetzt spricht sie das The-
ma von sich aus nicht noch einmal an.
Doch auf die Frage des von seinen Kolle-

gen ausgewählten deutschen Reporters
nach der Demokratiebewegung, antwor-
tet zunächst Merkel. Sie fordert erneut
alle Beteiligten auf, von Gewalt abzuse-
hen. Eine Lösung müsse im Dialog gefun-
den werden. Dann begrüßt sie, dass die
Hongkonger Regierung das umstrittene
Gesetz für Auslieferungen nach China
komplett zurückgezogen hat, und lobt,
dass es nun einen Dialog geben soll. „Ich
hoffe nun, dass die Demonstranten im
Rahmen bürgerlicher Freiheiten am Dia-
log teilnehmen können“, sagt Merkel.
Formal bleibt sie auf der Linie, die von
den westlichen Staats- und Regierungs-
chefs vor einer Woche beim G-7-Gipfel in
Biarritz festgelegt wurde.
Das kann man als sehr vorsichtiges Be-
kenntnis zur Meinungsfreiheit interpre-
tieren. Aber auch als unverschämtes Ein-
mischen in chinesische Angelegenheiten,
wie es regierungsnahe Blogger sofort tun.
Wichtiger ist, was Li Keqiang zu Hong-
kong sagt. Bisher hat sich noch überhaupt
kein so ranghoher chinesischer Funktio-
när vor Kameras zur Demokratiebewe-
gggung geäußert. Ob er deren Niederschla-ung geäußert. Ob er deren Niederschla-
gggung durch die chinesische Volksbefrei-ung durch die chinesische Volksbefrei-
ungsarmee ausschließe, hatte die Frage
gelautet. Doch vielleicht muss er sie doch
nicht beantworten. Denn als Merkel mit
ihrer Antwort gerade fertig ist, springt ei-
ne junge chinesische Reporterin auf und
stellt schnell ihre Frage. Sie will nichts zu
Hongkong wissen, sondern zur allgemei-
nen Wirtschaftslage. Merkel scheint für
einen Moment irritiert, ja wendet sich so-
gar nach links, zu ihrem Gastgeber, als
wolle sie ihn erinnern, was er zuerst be-
antworten solle. Doch Li Keqiang redet
schon los – zur Wirtschaft.
WWWar das der Trick, um die Stellungnah-ar das der Trick, um die Stellungnah-
me zu Hongkong zu umgehen, mit dem
einige schon im Vorfeld gerechnet haben?
Nein, doch nicht. Ganz am Ende seines
Statements erinnert sich der Minister-
präsident von selbst an die Frage des
Deutschen und sagt, Peking werde die
Hongkonger Regierung unterstützen, das
„Chaos“ zu beenden, „im Rahmen der
Gesetze“. Und dann fügt er hinzu: „Glau-
ben Sie mir, China ist dazu in der Lage
und hat auch die Weisheit dazu.“ Damit
ist die Pressekonferenz zu Ende.
Merkel lässt sich noch eine Fabrik in
Peking zeigen, in der ein deutsches Un-
ternehmen Achsen für Windräder und
Getriebe für U-Bahnen herstellt. Danach
dürfen die Reporter sie nicht weiter be-
gleiten. Und auch die mitreisenden Kon-
zernchefs und Unternehmer machen
jetzt ihr eigenes Programm. Denn am
Freitagabend beginnt der wirklich wichti-
ge Teil der Reise. Ihn macht Merkel allein.
Die Kanzlerin trifft Xi Jinping. Der
Staatspräsident ist der starke Mann Chi-
nas. Er hat es geschafft, das System der
kollektiven Führung der Kommunisti-
schen Partei abzustreifen, das seit Mao
gilt. Heute herrscht er allein – Merkels
Sparringspartner bei der Pressekonferenz
am Mittag, Ministerpräsident Le Ke-
quiang, gilt China-Kennern nicht mehr
als eigener Machtfaktor. Xi müsste Mer-
kel gar nicht treffen – protokollarisch ist
sie als Kanzlerin nicht auf seiner Flughö-
he. Dass er sich dennoch erst für ein Vier-
aaaugengespräch, dann für ein Gesprächugengespräch, dann für ein Gespräch
mit Beratern und schließlich für ein Ban-
kett Zeit nimmt, zeigt, wie ernst er
Deutschland und seine Kanzlerin nimmt.
ZZZwölfmal war Angela Merkel schon inwölfmal war Angela Merkel schon in
China – wenn man nur die Reisen als
Bundeskanzlerin zählt. Öfter als in den
USA, öfter als in Russland, viel öfter als in
Indien, Brasilien oder einem anderen
Schwellenland. Merkel hat die deutsch-
chinesischen Regierungskonsultationen
etabliert, ein Treffen in einem Format,
das vorher nur engen Verbündeten vorbe-
halten war. Im kommenden Jahr plant sie
als Krönung der deutschen EU-Ratspräsi-
dentschaft einen riesigen EU-China-Gip-
fffel. Sie liest viel über China, wenn sie da-el. Sie liest viel über China, wenn sie da-
zu kommt. Und fragt befreundete asiati-
sche und pazifische Staats- und Regie-
rungschefs regelmäßig über China aus.
Begeisterung für das boomende Reich der
Mitte hatten auch schon ihre Vorgänger –
von Helmut Schmidt bis Gerhard Schrö-
der. Doch Merkel ist die erste China-Ex-
pertin im Kanzleramt.
Merkels China-Interesse – manche sa-
gen sogar, ihre China-Begeisterung – ist
ein besonderes Merkmal ihrer Kanzler-
schaft: Einmal im Jahr hat sie der kom-
munistischen Staatsführung in der
Hauptstadt ihre Aufwartung gemacht, ist
aaaber anschließend immer noch weiterge-ber anschließend immer noch weiterge-
ffflogen, um jeweils eine neue Provinz deslogen, um jeweils eine neue Provinz des
Riesenreiches kennenzulernen. Zum
Glück ist China so groß, dass Merkel die
Reiseziele nicht ausgehen. Am Samstag
geht es weiter nach Wuhan in Mittelchi-
na. Dort war sie noch nie.

Das Wichtigste bespricht die


Kanzlerin unter vier Augen


Als Merkel in China das Thema Hongkong anschneidet,


sorgen sich die deutschen Konzernchefs


KKKanzlerin Angela Merkel mit dem chinesi-anzlerin Angela Merkel mit dem chinesi-
schen Ministerpräsidenten Li Keqiang

GETTY IMAGES

/ANDREA VERDELLI

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