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07.09.19 Samstag, 7. September 2019DWBE-HP
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8 POLITIK DIE WELT SAMSTAG,7.SEPTEMBER
W
enn alles noch so wäre, wie es
bisher immer war in Emden,
dann würde am Sonntag
Manfred Eertmoed die Ober-
bürgermeisterwahl gewin-
nen, der Sozialdemokrat. Alle anderen hätten
keine Chance. Aber in diesem Jahr ist vieles an-
ders in der ostfriesischen SPD-Hochburg, und
das liegt auch an der Kandidatur einer Bordell-
wirtin, eines Döner-Verkäufers und eines poli-
tisch engagierten Sparkassenangestellten.
VON ULRICH EXNER
Es läuft erst mal alles ganz prima an diesem
Tag. Die Sonne scheint. Ein leichter Wind geht.
Die meisten Menschen haben gute Laune. Ihre
Türen öffnen sich fast schon von selbst. Sie lä-
cheln, sind freundlich, lassen sich widerstands-
los ein Wahlkampf-Faltblatt in die Hand drü-
cken. Keiner schimpft, keine meckert. Manch-
mal, wenn Manfred Eertmoed noch ein bisschen
Glück hat, klopft ihm ein älterer Herr in der Tür
seines Einfamilienhauses aufmunternd auf die
Schulter und sagt: „Keine Sorge, ich hab Sie doch
schon gewählt.“
Das ist nicht selbstverständlich in Emden,
Ostfriesland. Manfred Eertmoed ist Mitglied der
SPD. Und anders als in fast allen früheren Jah-
ren, in denen die Sozialdemokratenhier oben im
nordwestlichsten Zipfel Deutschlands auch je-
den Pappkameraden ins Amt hätten bringen
können, wenn sie ihn nur rechtzeitig aufgestellt
hätten, kann Eertmoed schon froh sein, wenn er
am kommenden Sonntag wenigstens ein Ste-
chen erzwingen kann bei der Direktwahl des
Emder Oberbürgermeisters. Das wird, da sind
sich alle sicher, mindestens sehr knapp für den
Kandidaten der Sozialdemokraten. Und das liegt
keinesfalls an den anderen Parteien.
Die CDU, die Grünen, die Linke, die FDP ha-
ben allesamt keinen eigenen Oberbürgermeis-
terkandidaten aufgestellt in der 50.000 Einwoh-
ner-Stadt am Dollart. Weil niemand aus den ei-
genen Reihen antreten wollte. Weil die eigenen
Leute frustriert waren von den vielen Niederla-
gen der vergangenen Jahrzehnte. Weil sich kein
geeigneter Kandidat gefunden hat und man den
bisher allmächtigen Sozialdemokraten trotzdem
eins auswischen wollte. Weil die Parteivorstände
es denjenigen aus den eigenen Reihen, die es
vielleicht doch gewollt hätten, nicht zugetraut
haben. Außerdem: So viele personelle Alternati-
ven gibt es auch gar nicht mehr bei den hiesigen
Parteien.
122 Mitglieder haben Emdens Christdemokra-
ten, die Grünen bringen es gerade mal auf 50
Leute; und davon sind keineswegs alle aktiv. Die
FDP zählt derzeit 57 Parteifreunde. Die AfD, die
hier bei den Bundestags- und Europawahlen im-
merhin auf gut neun Prozent gekommen ist,
spielt auf kommunaler Ebene keine Rolle. Die
traditionelle Parteiendemokratie lastet inzwi-
schen auf ziemlich wenigen Schultern in Ost-
frieslands größter Gemeinde.
Bei der Emder SPD sind es immerhin noch 419
meist ältere Menschen, die ein Parteibuch ha-
ben. Ein potenzieller Oberbürgermeisterkandi-
dat, der dem bisherigen Amtsinhaber Bernd Bor-
nemann hätte folgen können, war allerdings
nicht darunter. Stattdessen haben die Sozialde-
mokraten mit Manfred Eertmoed den Bürger-
meister der kleinen Nachbargemeinde Hinte be-
nannt. Eine Nominierung, die nicht allen Genos-
sen gepasst hat. Zumindest zu Beginn des Wahl-
kampfs, das räumen auch eingefleischte Emder
Sozialdemokraten ein, hat es Eertmoed an Un-
terstützung aus den eigenen Reihen gemangelt.
Der Kandidat selbst lässt sich das nicht an-
merken. Betont im Gespräch mit WELT, dass er
nur in Ausnahmefällen abgewiesen werde in sei-
nem Haustürwahlkampf; dass es im Europa-
Wahlkampf im Mai zwar tatsächlich „sehr reser-
viert“ zugegangen sei in der Emder SPD; dass
das Engagement der örtlichen Genossen inzwi-
schen aber wieder deutlich höher sei.
Es gebe eine „Aufbruchstimmung“ in der Par-
tei, berichtet Eertmoed und nennt als treueste
Helfer dann dennoch seine eigene Verwandt-
schaft. Den Sohn, die drei Töchter, die Ehefrau.
Der Wahlkampf, sagt Eertmoed, habe seine Fa-
milie enger zusammengeschweißt. Wie das so
ist, wenn eine kleine Gruppe gegen den großen
Trend kämpft. Und ein bisschen auch gegen den
Rest von Emden.
Statt einen eigenen Kandidaten aufzustellen,
haben CDU, Grüne, FDP und Linkspartei ent-
schieden, mehr oder weniger direkt einen partei-
losen Einzelbewerber zu unterstützen, der sich
schon zu Beginn des Jahres um das Amt des Em-
der Oberbürgermeisters beworben hat. Tim
Kruithoff, ein umtriebiger leitender Mitarbeiter
der örtlichen Sparkasse, der seine Dienste als
parteiloser Oberbürgermeisterkandidat bemer-
kenswerterweise zunächst der Emder SPD ange-
boten hatte. Die Sozialdemokraten winkten – ein
bisschen pikiert, ein bisschen trotzig – ab. Kruit-
hoff, der sich längst gut vorbereitet und vernetzt
hatte in seiner Heimatstadt, trat dennoch an.
Inzwischen protegiert neben den anderen im
Emder Rat vertretenen Parteien auch die Wäh-
lervereinigung „Gemeinsam für Emden“, die bei
der Kommunalwahl 2016 mit 20 Prozent die
Stimmen der hiesigen Protestwähler eingesam-
melt hatte, die Bewerbung des smarten Finan-
zers Kruithoff. Dessen buntes Sammelsurium
von Unterstützern eint unter dem Slogan „Ver-
emderung“ vor allem ein großes Ziel: die SPD,
die in Emden seit 1956 ununterbrochen den Bür-
germeister stellt, die den Emder Landtagsabge-
ordneten entsendet und den hiesigen Bundes-
tagsabgeordneten, die trotz Verlusten von 20
Prozentpunkten immer noch die stärkste Partei
im Rathaus der Stadt ist, endlich einmal in die
Schranken zu weisen.
Aus dieser einen, von einem pfiffigen Wahl-
kampfkonzept einerseits und einer gewissen Be-
häbigkeit der aktuellen sozialdemokratischen
Amtsträger andererseits zusätzlich befeuerten
Gemeinsamkeit der anderen, so schätzt es nicht
nur Kruithoff ein, ist in Emden im Laufe dieses
Jahres „so etwas wie eine Bewegung“ geworden.
Man höre das, man spüre das überall in der
Stadt, berichtet zum Beispiel Heiko Müller, lang-
jähriger Emden-Berichterstatter der „Ostfrie-
sen-Zeitung“. „Die Emder“, sagt Müller, „wollen
eine frische Verwaltung.“ Kruithoff sei deshalb
der eindeutige Favorit für die Wahl des neuen
Oberbürgermeisters.
Es herrscht also Wechselstimmung an der nie-
dersächsischen Nordseeküste. Sie speist sich aus
einer latenten Unzufriedenheit mit der jüngeren
Entwicklung der Stadt, auch aus Unsicherheit
über die eigene wirtschaftliche Perspektive und
aus einer allgemeinen Abschätzigkeit gegenüber
Regierenden. Das alles wendet sich im roten Em-
den zwangsläufig gegen die hier „ewige“ SPD,
meint aber im Grunde das demokratische Sys-
tem der Republik insgesamt und wirft ein weite-
res, in diesem Fall kommunales Schlaglicht auf
die gefühlte Bürgerferne der Parteien bundes-
weit. Ein einzelner Kandidat kann in diesem Mo-
ment, wenn er es einigermaßen geschickt an-
stellt und hinreichend smart agiert, das ganze al-
te System aushebeln. Eine Aussicht, vielleicht
auch nur eine Ahnung, die in Emden bereits wei-
tere Wirkung zeigt.
Nach dem Motto „Was die können, können
wir schon lange“ bewirbt sich in der Ostfriesen-
Metropole inzwischen nicht nur der professio-
nell vorbereitete Sparkassen-Mann Kruithoff um
das Amt des Oberbürgermeisters. Zur Wahl ge-
stellt – und die dafür nötigen immerhin 220 Un-
terstützerunterschriften zügig und ordnungsge-
mäß beigebracht – haben sich auch die Wirtin ei-
nes Bordellbetriebs in der Nähe des Emder Fähr-
hafens, der Betreiber eines Döner-Imbisses, die
Mitarbeiterin eines Discount-Supermarktes, ein
Ex-Boxer, ein IT-Experte sowie ein aus Burkina
Faso stammender Maschinenbau-Ingenieur, der
sich bisher ehrenamtlich im Integrationsrat der
Stadt engagiert hat.
Sie alle eint neben ihrer demonstrativen Par-
teilosigkeit, ihrem frisch entdeckten politischen
Engagement und der für solche Ad-hoc-Kandida-
turen nötigen Chuzpe eine gewisse Naivität und
Sorglosigkeit im Umgang mit den Aufgaben des
Oberbürgermeisters einer für die Funktionsfä-
higkeit einer ganzen Region bedeutenden Küs-
tenstadt. Mit der Verantwortung für 50.000 Ein-
wohner, 34.000 Arbeitsplätze, 800 städtische
Beschäftigte und 20 Stadtteile. Für ein keines-
wegs zukunftsfestes VW-Werk und einen Hafen,
in dem seit der endgültigen Insolvenz der Nord-
seewerke auch kein Poller mehr neben dem an-
deren steht.
Emden hat zu wenig bezahlbaren Wohnraum,
zu viel Leerstand selbst in der Innenstadt, eine
zu große Abhängigkeit vom Volkswagenkon-
zernund zu hohe Sozialkosten. Dagegen ste-
hen, quasi auf der Habenseite, Henri Nannens
wwwunderbares Kunstmuseum, underbares Kunstmuseum, Otto Waalkesna-
türlich, der Stadtheilige, der Tourismus und die
KKKüstennähe sowie eine trotz aller Probleme garüstennähe sowie eine trotz aller Probleme gar
nicht so schlechte Zukunftsperspektive als po-
tenzielles Zentrum grüner Mobilitäts- und
Energiewirtschaft. Allerdings müsste für eine
solche Wende zum Guten schon einiges funk-
tionieren in den kommenden Jahren.
Gemessen daran ist es fast schon rührend,
wie sich Emdens ebenso skurrile wie selbstbe-
wusste Einzelbewerber-Schar darum bemüht,
die Ernsthaftigkeit ihrer jeweiligen Oberbürger-
meisterkandidaturen und ihres guten Willens
zu unterstreichen. Tanja Meyer, die Bordellwir-
tin, zum Beispiel, hat sich ein Jeton-Modell aus-
gedacht, mit dem sie erfolgreiche Schüler gera-
de aus ärmeren Schichten belohnen möchte. Im
Übrigen, findet Meyer, die im Fall eines Wahl-
siegs im Obergeschoss des Nachtklubs „Cheri“
wohnen bleiben will, „wächst der Mensch mit
seinen Aufgaben“.
Davon geht auch Reza Darbani aus. Der Hei-
zungsbauer und Ex-Boxer bedauert zwar, dass er
seinen potenziellen Anhängern kein Wahlpro-
gramm vorlegen könne, beteuert aber zugleich,
dass er sich auf jeden Fall „schlaumachen“ werde
im Fall seiner Wahl. Sari Sansar wiederum, Be-
treiber des Ali-Baba-Imbisses in der Emder In-
nenstadt, geht im Gespräch mit WELT felsenfest
davon aus, dass er schon jetzt ganz sicher „alle
Fähigkeiten“ besitze, „die Stadt wieder nach vor-
ne zu bringen“. Im Grunde, findet Sansar, sei es
kein großer Unterschied, ob man nun ein Döner-
Restaurant führe oder eine Stadtverwaltung.
„Das ist doch fast das Gleiche.“ Demokratie, die
Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung
als lockere Mitmach-Show.
Es läuft am Ende doch nicht alles prima für
Manfred Eertmoed an diesem warmen Wahl-
kampftag in Emden. Am Abend, bei einer von der
„Ostfriesen-Zeitung“ veranstalteten Podiums-
diskussion der acht Oberbürgermeisterkandida-
ten, öffnen sich dem tapferen Sozialdemokraten
weder die Türen noch die Herzen der fast 200
Zuhörer im lange ausverkauften Fährterminal
des Emder Hafens.
Es klopft ihm auch niemand auf die Schulter
nach seinem Plädoyer für mehr Wohnungsbau
und die Ansiedlung neuer, grüner Industrie in
Ostfriesland. Der Beifall für den Kandidaten der
SPD bleibt in etwa so zurückhaltend wie der für
Tanja Meyer vom „Cheri“-Klub. Besonders beru-
higend ist das nicht. Nicht für Eertmoed, nicht
für Emden, nicht für die SPD. Und auch nicht für
den Rest der Republik.
BORDELL,
IMBISS
oder
doch
lieber die
SPD?
Die Sozialdemokraten
drohen ihre nächste
Hochburg zu verlieren:
Emden in Ostfriesland.
Gegen ihren Kandidaten
treten an: ein
Sparkassen-Mann, ein
Döner-Verkäufer und
eine Bordellwirtin
Bordellwirtin Tanja Meyer,
Timo Kruithoff von der
Sparkasse (kl. Foto) und
Döner-Gastronom Sari San-
sar (unten) bewerben sich
um das Amt des Emder
Oberbürgermeisters. Da
hat SPD-Kandidat Manfred
Eertmoed (unten links) einen
schweren Stand
LARS BERG (4)
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