Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1

D


ie Schiffe der Star Ferry, da vor-
ne liegen sie. Ins Drehkreuz
fallen die Dollarstücke, die
schweren. Die Lehrerin packt
ihre Tasche und läuft los. Im
Rücken die Stadt: die skandierten Parolen,
der Widerschein der Feuer. Der Sprung auf
die Planken. Achtung. Hier tut sich der Ho-
rizont auf, mitten in Hongkong. Einmal
tief durchatmen. Schmale Männer rollen
dicke Taue zusammen. Männer in Leinen,
marineblau. Glockengeläut, dann legt sie
ab, diePolarstern.
Hier ist Wasser, Weite, Frische, hier ist
alles, was Hongkong nicht ist. Hongkong
war immer schon eine Stadt unter Stark-
strom. Die Fähren waren immer schon: ein
paar Augenblicke Frieden. Wenn Träume-
rei eine Chance hat in dieser Stadt, dann
hier. Ein paar Minuten sind es nur, von der
Insel zum Kontinent, von Central nach
Kowloon. Seit 130 Jahren schon transpor-
tieren die Schiffe die Hongkonger.
3,10 Hongkong-Dollar, umgerechnet 36
Cent, zahlt einer wochenends im Unter-
deck, ein paar Cent mehr oben,
aber auch das gibt es in dieser
Stadt nur hier, dass einer unten
in der Holzklasse, durch die der
Seewind weht, vergnügter und
frischer fährt als oben bei Klima-
anlage und hinter geschlosse-
nen Fenstern.
Die Lehrerin ist Anfang vier-
zig. Sie trägt Turnschuhe, die
Haare streng zusammengebun-
den, kein Make-up. Sie liebt die
Star Ferry, hat auf einem der
Schiffe ihre Hochzeit gefeiert,
das ist schon ein Jahrzehnt her.
Sie setzt sich an die Reling, zieht
ihr Tablet aus der Tasche. Sie
hat keinen Blick für die Skyline,
die diePolarsternhinter sich
lässt, keinen Blick für die ersten
Rauchwolken, die über dem Re-
gierungsviertel aufsteigen, wo
in diesem Moment Barrikaden
in Flammen aufgehen. Sie kommt gerade
von dort. Sie hat zu tun. „Protestierende he-
ben Tränengasgranaten auf“, liest sie vor,
„und werfen sie aufs Gelände der Volksbe-
freiungsarmee.“ Sie hält inne. „Oh shit“,
sagt sie. „Jetzt geht unsere Arbeit eigent-
lich erst los.“ Sie beginnt zu tippen, atem-
los.
Es hat sich einiges getan in Hongkong.
Die Hongkonger haben die Hoffnung einge-
tauscht gegen die Courage. Darüber haben
nicht wenige ihre Gesichter und ihre Na-
men verloren: Sie tragen auf der Straße
und in Cafés Masken, gegen das Tränengas
und gegen das Erkennen, und ihre Namen
geben sie nicht preis. Nicht ihren Mitstrei-
tern, und schon gar nicht Journalisten. Das
ist neu, so viel Vorsicht war früher nicht: Pe-
king könnte zuschauen und mithören. Ein
paar Botschaften haben sie schon, die sie
lautstark durch die Schluchten der Stadt
rufen und auf den Asphalt sprayen: „Wenn
wir brennen, dann brennt ihr mit uns!“
Was ist da passiert in dieser seit jeher
den Profit und den Wettbewerb zelebrie-
renden Stadtmaschine, wo zielstrebige El-
tern ihre Zweijährigen drillen für das Aus-
wahlgespräch mit dem Kindergarten? Ein
braver, ein konservativer Menschenschlag

ist das eigentlich. Wenn die Hongkonger
sich auflehnen, wenn sie millionenfach auf
die Straße gehen, Schüler, Lehrer, Flug-
begleiter, Bauarbeiter, Architekten und
Rechtsanwälte, junge Eltern mit Kindern
ebenso wie Großmütter mit schlohweißem
Haar, wenn sie Brandsätze schleudernde
Jugendliche verteidigen, dann muss Außer-
gewöhnliches geschehen sein. Und Graffi-
ti, wann hat es in dieser sauberen Stadt je-
mals Graffiti gegeben? Jetzt prangen über-
all diese Zeichen: ga yau! Hongkonger,
gebt Gas! Haltet durch! Man kann die bei-
den Schriftzeichen für Hongkong so schrei-
ben, dass sie, wenn man den Kopf zur Seite
legt, mit einem Mal „Gebt Gas!“ heißen.
Hongkong kämpft. Vordergründig geht
es um ein Auslieferungsgesetz, das die von
Peking gekürte Regierungschefin Carrie
Lam durchs Parlament drücken wollte und
das die Auslieferung von Bürgern Hong-
kongs an die Volksrepublik China erlaubt
hätte. „In Wirklichkeit geht es um alles“,
sagt die Lehrerin auf derPolarstern.Um
Freiheit, um Rechtsstaatlichkeit, um die
Zukunft ihrer Kinder. „Wir lie-
ben diese Stadt“, sagt sie, „wir
machen das aus Liebe.“
Hongkong. Der einzige Fle-
cken in der Volksrepublik Chi-
na, in dem Menschen zu Millio-
nen auf die Straße gehen dür-
fen. Der einzige Flecken, in dem
sie zu Hunderttausenden des
Tiananmen-Massakers von
1989 und anderer Verbrechen
der KP Chinas gedenken kön-
nen. Nirgendwo herrscht mehr
Freiheit in China als auf diesen
knapp 1100 Quadratkilome-
tern. Wie lange noch?
Sei wie Wasser. Bruce Lee hat
das einst gesagt über seine
Kung-Fu-Technik: „Sei ohne
Form, sei ohne Schatten, sei wie
Wasser.“ Jeder Einzelne ein win-
ziger Tropfen, zusammen aber
eine mächtige Welle, die alles
überrollt. So will die Bewegung sein. An-
ders als bei der Regenschirmrevolte vor
fünf Jahren gibt es keine Anführer. Keine
feste Organisation. Aber unzählige Organi-
satoren. So wie die Lehrerin. Mit einer wie
ihr in Kontakt zu treten, ist nicht leicht. Sie
haben Angst davor, dass ihre Gruppe unter-
wandert wird, von chinesischen Agenten
etwa. Schließlich sitzen sie da, in einem
Café in einem Einkaufszentrum, zwei der
Aktivisten: die Lehrerin und der Program-
mierer. Die Lehrerin hat zwei Kinder.
„Mein Mann weiß nicht genau, was ich ma-
che“, sagt sie. Der Programmierer, mit dem
sie arbeitet, kennt ihren Namen nicht und
sie nicht den seinen.
Ihre Gruppe, das sind die „Wächter
Hongkongs“, im Internet tragen sie Namen
wie honeyofmoney oder disco97. Ihre Ar-
beit beginnt, wenn Tränengasgranaten
geworfen werden, die Gummigeschosse
fliegen und der Wasserwerfer in Stellung
gebracht wird. Sie stellen sicher, dass die
Leute vor Ort verlässliche Informationen
haben. Der Social-Media-Dienst, den sie
nutzen, heißt Telegram. Die Kommunikati-
on ist verschlüsselt.

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Nirgendwo
inChina
herrscht
mehr
Freiheit
als in
Hongkong

DEFGH Nr. 207, Samstag/Sonntag, 7./8. September 2019 11


BUCH ZWEI


Mit dem Rücken zur Wand stehen Hongkongs Demonstranten der örtlichen Polizei gegenüber – und die geht mit großer Härte vor (oben).
Fürchten müssen die Aktivisten aber einen noch mächtigeren Gegner: die Volksrepublik China und deren Kommunistische Partei.
Peking mischt sich unverhohlen in die Belange der ehemals britischen Kronkolonie ein und scheint keine Hemmungen zu haben,
die bis 2047 verbrieften Freiheitsgarantien in der Sonderverwaltungszone Hongkong zu brechen. Legt man die chinesischen Schriftzeichen
für Hongkong (unten) übrigens auf die Seite, lesen sie sich als Slogan der Bewegung „ga yau“ – „Gib Gas!“.
FOTOS: KYODO NEWS / IMAGO IMAGES, MALTE JAEGER / LAIF, KYO/CIVIL HUMAN RIGHTS FRONT

Stadt,


Land, Frust


Seit Monaten begehren die Bewohner von


Hongkong gegen den Würgegriff der Volksrepublik


China auf. Beobachtungen aus einer


asiatischen Metropole, die sich


ihre Freiheit nicht nehmen lassen will


von lea deuber, christoph giesen und kai strittmatter
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