Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1

 Fortsetzung von Seite 11


Telegram, das ist der Maschinenraum der
Bewegung. Während der Demonstratio-
nen kommen in den Chatgruppen im
Sekundentakt neue Meldungen rein. Vor al-
lem geht es darum, zu lokalisieren, wo Poli-
zisten gerade anrücken – in Echtzeit. Fotos
werden eingestellt, versehen mit Pfeilen:
„40 Polizisten an der Haltestelle Prince Ed-
ward gesichtet, bitte umfahren.“ Falsch-
nachrichten oder Manipulationen durch
Geheimdienste und Agents Provocateurs
zu verhindern, das ist der Anspruch der
Wächter von Hongkong, der Gruppe der
Lehrerin. Keine Meldung ohne Quelle. Wo
wird demonstriert? Wie ist die Situation
am Flughafen? Jede Information wird mit
einer Nummer versehen. Und einem Hash-
tag: „#Neededit“. Dann wird sie bearbei-
tet. Gegengelesen. Auf Telegram wird auch
abgestimmt: Wo marschieren wir hin? Bre-
chen wir ab, ändern wir den Weg? Das soll
die Polizei verwirren und erschöpfen. Sei
wie Wasser.
„Wir erleben gerade eine Revolution der
sozialen Medien“, sagt Ying Chan, Medien-
wissenschaftlerin an der University of
Hongkong. „Hongkong ist mit seiner ho-
hen Text- und Digitalkompetenz, der exzel-
lenten IT und der hohen Internet- und
Smartphone-Verbreitung einzigartig. Es
ist der perfekte Sturm“, sagt Ying Chan. „Es
ist die erste Rebellion, die live digital über-
tragen wird.“ Als die Polizei Mitte August
versuchte, den besetzten Flughafen zu stür-
men, und Beamte ins Abflugter-
minal eindrangen, sahen sich
Demonstranten im Ankunftsbe-
reich keine 20 Meter tiefer jeden
Schritt der Polizisten über ih-
nen auf ihren Smartphones an.
150 Jahre war Hongkong briti-
sche Kronkolonie. Die Briten
dachten nie daran, der Stadt De-
mokratie zu gewähren, aber sie
schenkten ihr einen Rechts-
staat. So gewöhnten sich die
Hongkonger an Fairness, Mei-
nungsfreiheit, eine saubere Ver-
waltung. Vor allem Flüchtlinge
trieben hier eineinhalb Jahrhun-
derte an wie Strandgut: Men-
schen, die vor Hunger, Unter-
drückung und Repression in
China geflohen waren. 1997
übergaben die Briten die Stadt
an China, da fanden sich alle in
dem Land wieder, vor dem sie
einst davongelaufen waren. Pe-
king versprach den Hongkongern im
„Basic Law“, dem Grundgesetz der Stadt,
50 Jahre weitere Autonomie. „Ein Land,
zwei Systeme“ war das Schlagwort. Bis



  1. Chinas Patriarch Deng Xiaoping sag-
    te damals, weder um ihre Rennpferde noch
    um ihre Discos brauchten sich die Hong-
    konger Sorgen zu machen.
    „Wir hatten keine Wahl“, sagt Anson
    Chan, zum Zeitpunkt der Machtübernah-
    me 1997 Verwaltungschefin der Stadt, also
    die Nummer zwei in Hongkong. „Wir hoff-
    ten einfach auf das Beste.“ Anson Chan war
    populär, sie war die erste gebürtige Chine-
    sin auf diesem Posten, „eiserne Lady“
    nannten die Hongkonger sie. Pekings Pro-
    paganda benutzte sie damals: Seht her,
    wenn Anson Chan keine Angst hat vor uns,
    dann braucht ihr auch keine zu haben. Heu-
    te schimpft dieselbe Parteipresse sie eine
    „Verräterin“, eine „Sklavin des Auslands“.
    Die heute 79-jährige Chan ist längst eine
    der schärfsten Kritikerinnen der KP. Dabei
    habe sie sich immer nur als Chinesin emp-
    funden, sagt Chan. „Und doch beschimpft
    Peking mich als zu ‚verwestlicht‘. Ich habe
    keine Ahnung, was sie meinen. Wahr-
    scheinlich, dass ich es wage, eigenständig
    zu denken. Und dass ich mich weigere, ein-
    fach das zu tun, was man mir befiehlt.“
    In Hongkong lässt sich beobachten, wie
    mehr als sieben Millionen Menschen chine-
    sischer Herkunft denken, fühlen und spre-
    chen, die von Chinas KP nicht der Gehirn-
    wäsche unterzogen wurden, bei denen die
    Instrumente der Willkürherrschaft nicht
    greifen. Noch nicht. Genau deshalb ist die
    Stadt ein ständiger Stachel im Fleische der


KP. Hier lässt sich studieren, wie wunder-
bar das funktioniert, wenn Chinesen sich
in Freiheit und Fairness selbst organisie-
ren. Hier gedeiht das Gedankengut, das die
KP auszulöschen sucht.
Um ihre Rennpferde sorgen sich die
Hongkonger tatsächlich bis heute nicht.
Wohl aber um ihre Zeitungen, ihre Gerich-
te, ihre Universitäten, ihre Selbstverwal-
tung. Die KP mischte sich schon seit ein
paar Jahren mehr und mehr ein, brachte
Zeitungen auf Linie, bedrohte Kritiker, ver-
schleppte Hongkonger Buchhändler und
Verleger in chinesische Gefängnisse. Die
Hongkonger fühlen sich betrogen, sehen
die Versprechen von 1997 gebrochen.
Zumal sie sehen, wie in China Repressi-
on und Ideologie wiederkehren, wie sich
die Volksrepublik unter Parteichef Xi Jin-
ping Schritt für Schritt zurück in ein totali-
täres System verwandelt. Das ist nicht das
China, auf das sie gehofft hatten für jenes
schicksalhafte Jahr 2047. Gleichzeitig ist
Erstaunliches passiert. Die Hongkonger,
die einst von sich sagten, sie lebten in gelie-
hener Zeit an einem geliehenen Ort, fan-
den zu sich selbst, machten die Stadt end-
lich zu ihrer Heimat. Und je größer der
Druck wurde, desto aufrechter gingen sie.
Von Tag zu Tag nun werden die Men-
schen zorniger. Am Mittwoch nahm Regie-
rungschefin Carrie Lam endlich ihr Auslie-
ferungsgesetz zurück, das sie bis dahin
nur auf Eis gelegt hatte. Zu wenig, zu spät.
Gruppen wie die Civil Human Rights Front
kündigten an, weiter zu demonstrieren.
Die Aktivisten verlangen die Er-
füllung sämtlicher Forderun-
gen der Bewegung: Sie wollen
nicht nur freie Wahlen, wie im
„Basic Law“ versprochen, son-
dern auch ein Ende der Verfol-
gung und eine unabhängige Un-
tersuchung der Polizeigewalt.
Manchmal scheint es, als näh-
men es sich die Behörden vor,
die Unzufriedenen bis aufs Blut
zu reizen. Wenn sie die große De-
monstration verbieten, zu der
die Organisatoren bis zu drei
Millionen Teilnehmer erwartet
hatten. Und in der Nacht davor
die ehemaligen Studentenfüh-
rer Joshua Wong und Agnes
Chow festnehmen und auch
noch drei demokratische Parla-
mentsabgeordnete dazu. Wenn
am Tag der verbotenen Demon-
stration dann Brandsätze flie-
gen, passt der Propaganda Pe-
kings das wunderbar ins Konzept.
Samstag. Demo-Tag. Auf der Hennessy
Road. Aus den Nebenstraßen kommen im-
mer mehr Menschen dazu. Erst Hunderte,
Tausende, dann Zehntausende. Als die
Menge das Polizeipräsidium passiert, ru-
fen sie: „Triaden, Triaden, Triaden!“ Eine
Anspielung auf die Hundertschaft weiß ge-
kleideter Mobster, die Ende Juli in einer
U-Bahn-Station mit Stöcken Demonstran-
ten und Passanten blutig prügelte, ohne
dass die Polizei eingegriffen hätte. Als Par-
tei existiert die KP in Hongkong bis heute
offiziell nicht, aber in der Stadt wimmelt es
von ihren offiziellen Vertretern, ihren
heimlichen Alliierten, ihren Spionen und
Handlangern.
Die Lehrerin macht ein Foto mit ihrem
Tablet. Dann schreibt sie dazu: „16 Uhr:
Große Menge mit Tausenden Demonstran-
ten auf dem Weg nach Sai Wan. Quelle: Aus
erster Hand.“ Das nächste Foto. „16:40 Uhr:
Der Western Cross-Harbour Tunnel ist von
Protestierenden besetzt. Quelle: Aus erster
Hand.“ Wenig später bricht die Hölle los,
vor dem Regierungsgebäude schießen Was-
serwerfer in Menge, Molotowcocktails flie-
gen. „Oje“, sagt die Lehrerin. „Ich muss
los.“ Die Kinder warten. Sie eilt zurPolar-
stern. Sitzt auf dem Schiff und tippt.
Kurz vor Mitternacht, die Lehrerin ist
längst zu Hause. In Causeway Bay brennen
die Barrikaden. Seit Stunden geht es hin
und her. Wo Überwachungskameras sind,
blenden Teams sie mit Laserpointern. In
der ersten Reihe hat sich ein Schutzwall
aus Schirmen aufgebaut. Nur wenige Minu-
ten später ein Knall. Das Tränengas brennt
in den ersten Minuten unerträglich im
Hals, den Lungen, den Augen. Ein Mäd-
chen schreit vor Schmerz. Helfer lassen
Wasser über ihre Augen laufen. Vereinzelt
fliegen Brandsätze. Man sieht sie nicht,
hört sie erst, wenn die Glasflaschen auf
dem Asphalt zerspringen und explodieren.
„Laam Chow“ nennen das einige Demons-
tranten: gemeinsam zur Hölle fahren. Sie,
die Polizei, Hongkong.
Je länger die Nacht dauert, desto größer
wird die Erschöpfung auf beiden Seiten. Es
gibt mehr Verletzte. Am Rand hocken De-

monstranten, starren vor sich hin. „Wir
kämpfen, weil es unsere letzte Chance ist.“
Das sagen hier viele. Immer wieder die Ru-
fe: „Freies Hongkong! Freiheit, Freiheit!“
Viele stellen sich in die erste Reihe, zu ver-
lieren hat man nichts mehr. Die Polizeige-
walt, die ihnen entgegenschlägt, wirkt wie
Brandbeschleuniger.
Vor fünf Jahren waren diese Straßen
schon einmal besetzt worden, von den Re-
genschirm-Rebellen. Und heute wie da-
mals ist die überwältigende Mehrzahl der
Demonstranten friedlich. Aber anders als
damals distanzieren sich viele der Friedli-
chen heute nicht mehr von denen, die Stei-
ne und Brandsätze werfen. Nicht mehr,
seit sie gesehen haben, wie prügelnde Poli-
zisten in U-Bahn-Stationen Demonstran-
ten und Passanten jagten. Manchmal kann
man erleben, wie Anwohner auf die Stra-
ßen laufen und den Polizisten „Gangster!
Gangster!“ ins Gesicht rufen. Sie verteilen
Wasser und Burger an die Demonstranten.
Sie bedanken sich, klopfen ihnen auf die
Schulter.
Manche, die sich nicht auf die Straße
trauen, unterstützen die Protestierenden
hinter den Kulissen. So wie jener Rech-
nungsprüfer, der in einem Café wartet.
Auch er versteckt sich hinter einer Ge-
sichtsmaske, schlürft seinen geeisten Cap-
puccino durch einen Strohhalm, den er un-
ter die Maske schiebt, während er erzählt,

wie er auf Amazon in den USA für viele Tau-
send Dollar Helme, Gasmasken und
Schwimmbrillen bestellt und anonym an
die Studenten schicken lässt. „In Hong-
kong ist das Zeug längst ausverkauft“, sagt
er. Und: „Wer heute nicht auf die Straße
gehst, der wird morgen nicht mehr die
Chance dazu kriegen.“ 70 bis 80 Prozent sei-
ner Kollegen im Finanzsektor, schätzt er,
stünden auf der Seite der Demonstranten.
Und noch etwas ist anders. Vor fünf Jahren
war es die Hoffnung, die den Protest nähr-
te, man berauschte sich an der neu gefun-
denen Gemeinschaft. Heute treibt sie die
Verzweiflung, zorniger Trotz. Auch sie sei
verzweifelt, erzählt die Lehrerin. Dann er-
zählt sie, dass im Kino gerade der vierte
Teil der Avengers-Reihe laufe, der Film
heißt „Endgame“. „Genauso fühlen wir
uns: Das hier ist unser Endgame, unsere
letzte Schlacht.“ Sieg mag keine Option
sein, Aufgeben ist es noch weniger.
Hongkong ist eine himmelstrebende
Stadt, notgeboren. Zuerst flohen die Men-
schen China, dann flohen sie die Erde, klet-
terten gen Himmel und holten sich auf
dem Weg Stockwerk für Stockwerk all die
Quadratmeter, die ihnen der Felsen im Süd-
chinesischen Meer nicht geben wollte.
Man kann heute beim Wandern in Hong-
kongs New Territories Schlangen begeg-
nen, und am Strand von Lantau galoppie-
renden Wasserbüffel. Hongkongs Nerven-
zentrum aber ist der Finanzplatz in Cen-
tral, und die Existenz der Stadt kreist um
ihre Hochhäuser. Sie lebt davon, im Wort-
sinn: Die Regierung finanziert sich vor al-
lem durch Grundstücksverkauf, nur des-
halb kann Hongkong es sich leisten, Steuer-
paradies zu sein. Die Folgen: eine der atem-
beraubendsten Skylines des Erdballs,
noch atemberaubendere Mieten.
Hongkong kratzt so an den Wolken wie
sonst nur noch New York. New York ist
schnell. Aber Hongkong ist schneller. Hong-
konger, die im Aufzug stehen, warten

Die Stadt
amMeer ist
Hort des
Kapitalismus
und
Mündel des
Kommunismus
zugleich

BEVÖLKERUNG
Hongkong:7,2 Millionen
Volksrepublik:1,38 Milliarden
LANDESFLÄCHE
Hongkong:1073 km
Volksrepublik:9 326 410 km
BEVÖLKERUNGSDICHTE
Hongkong:6700 Personen pro km
Volksrepublik:148 Personen pro km
LEBENSERWARTUNG
Hongkong:83,1 Jahre
Volksrepublik:75,8 Jahre
WIRTSCHAFTSLEISTUNG (2018)
(kaufkraftbereinigt)
Hongkong:480,5 Milliarden US-Dollar
Volksrepublik:25,4 Billionen US-Dollar
WIRTSCHAFTSLEISTUNG PRO KOPF(2018)
Hongkong:64 487 US-Dollar
Volksrepublik:18 210 US-Dollar
QUELLEN: CIA, WELTBANK

12 BUCH ZWEI Samstag/Sonntag,7./8. September 2019, Nr. 207 DEFGH


Alltag zwischen Normalität und Widerstand:
Ein Aktivist wappnet sich mit Helm und Gasmaske gegen
Polizisten, die Gummiknüppel, Pfefferspray und Tränengas
einsetzen. Millionen Menschen protestieren, dennoch geht das
Leben weiter. Lieblingsbeschäftigung vieler Hongkonger:
shoppen gehen und gedämpfte Teigtaschen Dim Sum essen.
FOTOS: SEBASTIAN WELLS / OSTKREUZ, BERND SCHUNACK / MAURITIUS IMAGES,
TANIA REINICKE / LAIF, PAUL RUSHTON / MAURITIUS IMAGES / ALAMY
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