Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1
nicht, bis die Tür selbst schließt: Sie ha-
cken panisch auf den Knopf, der die Auf-
zugstür noch den Bruchteil einer Sekunde
früher bewegt. Hongkong ist Hort des Kapi-
talismus und Mündel des Kommunismus
zugleich. Die Stadt wird von der rechten
amerikanischen Heritage-Foundation je-
des Jahr zur freiesten Marktwirtschaft der
Welt gewählt. Und sie wird seit Jahrzehn-
ten von ihren Bürgern ebenso regelmäßig
zum freudlosesten Ort des Erdballs er-
klärt: In globalen Umfragen zum Sexual-
leben finden sich die Hongkonger abge-
schlagen am Ende, im letzten World Happi-
ness Report der Vereinten Nationen beleg-
ten sie Platz 76, noch hinter den Libyern
und den Tadschiken.
Wo sollte das Glück auch Platz finden
bei dem irrsinnigen Druck, der die Hong-
konger in ihrem Hamsterrad am Laufen
hält: die Hypotheken, die abzubezahlen
sind, die Mieten, die höher sind als in Lon-
don oder New York, für winzige Wohnun-
gen. Hongkong ist reich. Prozentual hat die
Stadt weltweit die meisten Millionäre. Nur
ist auch jeder fünfte Hongkonger bitter-
arm. Ein soziales Netz gibt es praktisch
nicht. Politisches Missmanagement und
Vetternwirtschaft haben die Schere zwi-
schen Arm und Reich immer weiter aufge-
rissen. Und nie waren die Reichen mächti-
ger als heute, unter der Herrschaft der Pe-
kinger KP. Die Partei installierte nach 1997
Regierungschefs, die dem Volk keine Re-
chenschaft schulden, und legte die Macht
de facto in die Hände der Tycoons. Ihre Ge-
schäfte laufen seither noch prächtiger.
Für einfache Hongkonger bedeutet das:
„Wir sind Sklaven. Sklaven des Immobili-
enmarktes.“ Der Student, der
das sagt, ist 20 Jahre alt, aber
wenn er von früher erzählt,
klingt er wie ein alter Mann. Er
kann sich noch an die Zeit erin-
nern, als im Einkaufszentrum
die Teigtaschen handgemacht
waren und die Ladenbesitzer
sich mit Namen kannten. Vor ei-
nigen Jahren hat die Stadt die
Anlage an einen Immobilienty-
coon verkauft. Viele Läden
mussten seitdem schließen.
Neu eingezogen sind teure Mo-
deketten. „Wir könnten sie boy-
kottieren“, sagt der Student,
„aber ändern würde das nichts.“
Er sitzt in einem Café auf der
Dachterrasse, hat aber nichts be-
stellt. Er studiert Europawissen-
schaften. Ein schlaksiger Typ,
die Haare sind nach oben gegelt,
auf der Hose prangen schwarze
Totenköpfe. Mit seinen Eltern
wohnt er in einem Hochhaus im Norden
Hongkongs, in den New Territories. Die
Wohnung ist gerade einmal so groß wie ei-
ne kleine Einzimmer-wohnung in Deutsch-
land. Dabei zählt die Familie zu den Glückli-
chen. Die Eltern haben vor vielen Jahren
die Wohnung von der Stadt weit unter dem
Marktpreis zugeteilt bekommen. Der Stu-
dent hat sogar ein eigenes Zimmer. Es
passt gerade ein Kinderbett hinein, beim
Schlafen ragen seine Füße heraus. Dane-
ben stapeln sich Bücher auf dem winzigen
Schreibtisch. Alles, was der junge Mann be-
sitzt, ist unter dem Bett verstaut.
Im Wohnzimmer isst die Familie. Das So-
fa ist unter Kisten und Wäsche begraben.
Es ist so eng in der Wohnung, dass der Stu-
dent meist nur zum Schlafen nach Hause
geht. Nie von zu Hause auszuziehen, für
junge Hongkonger ist das normal. Wasch-
salons haben sich in den letzten zwei, drei
Jahren zu hippen Treffpunkten entwi-
ckelt, man kann dort etwas trinken, Gleich-
altrige treffen, ohne dass man Eltern und
Großeltern auf den Füßen steht.
Der Student hat mitdemonstriert in den
vergangenen Wochen. Er ist der Erste in
seiner Familie, der es an eine Uni geschafft
hat. Er ist ein Einzelkind. Einen Bruder
oder eine Schwester, das konnten sich sei-
ne Eltern nicht leisten. Wo hätten sie schla-
fen sollen? Umso stolzer waren sie auf sei-
nen Erfolg. „Aber eine gute Ausbildung
heißt in Hongkong nichts mehr. Egal, wie
hart du heute arbeitest. Das Geld verdie-
nen immer die anderen.“ Für eine durch-
schnittliche Wohnung muss der Durch-
schnittshongkonger im Moment 20 Jahre
sparen. Während die Gehälter stagnieren,
sind die Wohnungspreise in den vergange-
nen 15 Jahren um das Dreifache gestiegen.
„Wenn ich später heirate“, sagt der Stu-
dent, „dann stelle ich ein größeres Bett in
mein Zimmer.“ Dann muss der Tisch raus.
Groß klagen möchte der junge Mann
nicht. Das Schuhschachtel-Appartement,
die Fron, in Hongkong nennen sie das Mit-
telschicht, vielen geht es schlechter.

Als der Student in Europa war, für einen
Sprachkurs, traf er auch dort Festlandchi-
nesen. Den ersten Satz, den sie lernen soll-
ten, lautete: „Hallo, wo kommst du her?“
Er sagte flüssig und stolz auf seine gute
Aussprache: „Hallo, ich komme aus Hong-
kong.“ Seine Kommilitonen aus Festland-
china seien empört gewesen. Der Satz hei-
ße korrekt: „Hallo, ich komme aus Hong-
kong, Komma, China!“ Nein, böse sei er
nicht geworden. „Sie wissen nicht, was
Freiheit ist. “
Hongkong, Komma, China, Fragezei-
chen? Als eine Umfrage im Juli die Hong-
konger fragte, ob sie stolze Chinesen seien,
antworteten 71 Prozent mit Nein. Bei den
unter 29-Jährigen waren es 90 Prozent. Pe-
king hat sich durch seine Politik eine ganze
Generation zu Fremden gemacht. Der Riss
geht auch durch Familien. Durch die von
Huang Weiquan zum Beispiel. Huang lebt
im Stadtteil North Point, wo lange schon
Clans aus der Provinz Fujian Geschäfte be-
treiben, bekannt für ihre Loyalität zur kom-
munistischen Regierung. Huang nennt
sich selbst einen Patrioten. Seit 40 Jahren
betreibt er einen kleinen Frischwarenla-
den im Viertel. Vor seinem Geschäft rat-
tern die doppelstöckigen britischen Stra-
ßenbahnen vorbei, lautmalerisch „Ding-
dings“ genannt. „Präsident Xi Jinping hat
China wieder stark gemacht“, sagt er. Hong-
kongs sei so frei wie immer, und die Ameri-
kaner „nichts als neidisch auf Chinas Er-
folg“.
Vier Kinder hat Huang – und alle vier
marschieren bei den Demonstrationen
mit. An seinem Geburtstag kürzlich knall-
te es richtig. Er hatte ein Festessen geplant,
im Restaurant tauchten seine
Kinder in den schwarzen
T-Shirts der Protestbewegung
auf. „Schwarz ist ein Vorbote
großen Unheils“, sagt Huang.
Noch heute ist er stocksauer.
Spätestens 2047 habe Hong-
kong sowieso keinen Sondersta-
tus mehr, sagt er. „Besser wäre
es, meine Kinder würden die Si-
tuation akzeptieren.“
Im Herzen der Insel sind die
Straßen eng. Wer den Himmel
sehen möchte, legt sich entwe-
der flach auf den Bürgersteig
oder wird Chef eines Immobi-
liengiganten. Mit Büro unterm
Dach, oder aber mit Zugang zu
einem der exklusivsten Cafés
der Stadt wie hier im 49. Stock
in Admiralty. Zwei Kaffee kos-
ten zwanzig Euro. Dafür hat
man alles im Blick. Den Beton-
kasten mit der Zentrale der
Volksbefreiungsarmee in Hongkong. Das
Regierungsgebäude gleich daneben, in
dem Chief Executive Carrie Lam und ihr
Apparat sitzen. „Wenn es wieder kracht,
schauen Sie sich es von hier oben an. Trä-
nengas, Wasserwerfer und die Hubschrau-
ber, man sieht alles.“
Der Mann, der das sagt, gehört zu den
reichsten Menschen Hongkongs. Geldadel
in der zweiten Generation. Milliarden-
schwer. Und scheu. Er ist einer jener viel-
leicht 200 Geschäftsleute, die sie in Hong-
kong Tycoons nennen. Die meisten von ih-
nen sind mit Immobilien reich geworden.
Und mit der Nähe zu China noch reicher.
„Wir können es uns nicht leisten, Peking öf-
fentlich zu kritisieren“, sagt er. Deshalb
auch spricht er nur unter einer Bedingung:
keine Fotos, keine Namen. Leger gekleidet
ist er, trägt Shorts und ein enges T-Shirt.
Er sagt, er mache sich Sorgen. „Die Stadt
ist außer Kontrolle, die Polizei kann die Si-
cherheit nicht mehr gewährleisten.“ Das
ist schlecht. „Schlecht fürs Geschäft“, sagt
der Tycoon.
Durch die Krise kommen weniger chine-
sische Touristen in die Stadt, um einzukau-
fen. Viersternehotels in Central verschleu-
dern ihre Zimmer schon für weniger als
30 Euro die Nacht, bei Gucci und Prada
bleiben sie auf ihren Handtaschen sitzen.
Für Immobilienunternehmer wie ihn heißt
das: keine neuen Mieter, keine neuen Lä-
den, keine neuen Hotels. Und weniger
Nachfrage nach Wohnimmobilien aus Chi-

na. „Und das alles wegen eines Missver-
ständnisses“, flucht er. Er meint das Auslie-
ferungsgesetz. „Der chinesische Staat
kann einen in Hongkong auch ohne Gesetz
schnappen.“ Ging es nicht dem Milliardär
Xiao Jianhua so? Chinesischer Neureicher,
kanadischer Staatsbürger, 2017 ver-
schwunden. „Gleich hier aus dem Four Sea-
sons wurde er entführt.“ Der Tycoon zeigt
aus dem Fenster in Richtung Hafen. „Ein
Dutzend weiblicher Bodyguards soll er ge-
habt haben, retten konnten sie ihn nicht.
Jetzt sitzt er im Gefängnis.“
Wie Peking die Lage so falsch einschät-
zen konnte? Glaubt man dem Tycoon,
dann ist das Problem das chinesische Ver-
bindungsbüro in der Stadt. „Die Beamten
dort haben keine Ahnung von Hongkong,
sie sprechen nicht einmal Kantonesisch“,
sagt er. „Statt die Stimmung in der Stadt zu
beurteilen, geben sie Befehle. An die Poli-
tik und an die Geschäftsleute. Blasen Pe-
kings Beamte in die Pfeife, werden die Ge-
hirne ausgeschaltet, das ist leider so.“
Auch beim Auslieferungsgesetz sei das
der Fall gewesen. In der Folge gingen eine
Million Menschen auf die Straße. Dann
zwei Millionen. Und nun hat Peking, kurz
vor dem 70. Geburtstag der Volksrepublik,
ein gewaltiges Problem. Einer der verzwei-
felten Versuche der Statthalter Pekings,
die Lage wieder in den Griff zu bekommen,
ist eine Anzeigenkampagne. Die wichtigs-
ten Geschäftsleute wurden verdonnert, Zei-
tungsseiten zu kaufen mit den immer glei-
chen Sätzen: „Ich liebe Hongkong und ich
liebe China.“ Der Milliardär nippt an sei-
nem doppelten Espresso. Als ob irgendei-
ner sich für diese Anzeigen interessieren
würde. „Was für ein Quatsch“, sagt er.
Dann kommt er zum Eingemachten. Die
Polizei in Hongkong, meint er, habe
schlicht nicht genug Leute, um der Krise
Herr zu werden. Es gebe nun nur mehr eine
Chance, die Ordnung wiederherzustellen:
„Chinesische Truppen.“ Wahrscheinlich
ist er nicht der Einzige in der Stadt, der den
Verlust seiner Profite mehr fürchtet als
den Einmarsch der Volksbefreiungsar-
mee. Aber er fügt eilig etwas hinzu. „Ich
meine natürlich nicht Panzer und Soldaten
mit Kalaschnikows, sondern Polizisten mit
Schildern und Schlagstöcken aus der Volks-
republik.“ Dann schiebt er noch diesen
Satz nach: „Verzeihen Sie den Vergleich,
aber die Taliban sind in Afghanistan nicht
deshalb beliebt, weil sie die Menschenrech-
te achten, sondern weil sie in der Lage sind,
Ruhe und Ordnung herzustellen. Genau
das braucht aber Hongkong.“
Ruhe und Ordnung also für die, die viel
Geld verdienen mit dem Status quo. Die
Volksbefreiungsarmee ist schon in der
Stadt, seit 1997, mit heute wahrscheinlich
6000 Soldaten. Truppen, die „nicht nur ge-
dacht sind als Strohmänner, die immer in
ihrer Garnison bleiben werden“, wie die
prochinesische Politikerin Maria Tam ver-
gangene Woche warnte. Noch glaubt kei-
ner wirklich, dass Peking Soldaten einset-
zen könnte. Aber die Unruhen in Hong-
kong sind die größte Herausforderung für
Parteichef Xi Jinping, seit er Ende 2012 die
Macht in Peking übernahm. Die KP-Propa-
ganda hat die Demonstrationen mehrfach
„terroristische Akte“ genannt, von ihr ge-
zielt verbreitete Videos zeigten Truppen-
konzentrationen an der Grenze und chine-
sische Soldaten, die im benachbarten
Shenzhen die Niederschlagung von Stra-
ßenprotesten trainierten.
Bis zum Jahr 2047 sind es noch 28 Jahre.
Vielleicht aber kommt das Ende ja viel
schneller über sie, dann könnte es schon
morgen geschehen sein um Hongkong, die
Großartige. Wenn Hongkong dann tatsäch-
lich nur mehr eine chinesische Stadt unter
vielen wäre, wieso sollte die Welt das küm-
mern? Weil sie hier die Front sind im
Kampf um Freiheit und Demokratie, sa-
gen die Menschen auf der Straße. „Weil es
nicht nur um die 7,3 Millionen Hongkon-
ger geht“, sagt Anson Chan, die ehemalige
Verwaltungschefin und eiserne Lady. Letzt-
lich gehe es um das in die Welt strebende
China. Anson Chan ist bald 80, aber sie
reist noch viel: nach London, Washington,
Berlin. „Wenn ihr eure grundlegenden Wer-
te hier nicht verteidigt, weil ihr denkt, Pro-
fite seien wichtiger, dann seid ihr selbst
schuld, wenn ihr eines Tages aufwacht und
bemerkt, dass eure Werte sich denen der
KP Chinas untergeordnet haben“, sagt
Chan. Im Übrigen, fügt sie noch an, gesche-
he das längst.
„Wenn wir brennen, dann brennt ihr mit
uns!“ Der Kampfruf der Demonstranten,
er ist nicht nur an die KP Chinas gerichtet,
sondern auch an die Welt: Wenn ihr die
Freiheit hier in Flammen aufgehen lasst,
dann Gnade auch euch Gott.

DEFGH Nr. 207, Samstag/Sonntag, 7./8. September 2019 BUCH ZWEI 13


Die Briten
schenktenden
Hongkongern
einen
Rechtsstaat –
und die
gewöhnten sich
an Fairness

Von der prosperierenden Stadtmaschine Hongkong haben nicht
allewas. Ein Fünftel aller Bewohner lebt in Armut, so wie
diese Wohnsitzlosen. Zugleich ist die Stadt kultureller Brennpunkt mit
Events wie der Art Basel. Seit den Protesten bleiben die Touristen vom
Festland aus, die sonst SoHo ansteuern, das Western Market Building
oder die Aussichtsplattform an der Stubbs Road.
FOTOS: CLAJOT / REPORTERS / LAIF (2), GRANT ROONEY / MAURITIUS IMAGES / ALAMY,
JEAN-MICHEL CLAJOT / REDUX/LAIF
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