Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1
Studie: Warum funktioniert rechter Hass
insozialen Netzwerken so viel besser als
vernünftige Politik?  Seite 17

D


er grundlose Verdacht“, singt Giu-
seppe Verdis Opernheld Otello,
„nützt gar nichts. Vor dem Zweifel
die Untersuchung, nach dem Zweifel der
Beweis, nach dem Beweis ... “ Plácido Do-
mingo ist als Otello in den Siebzigerjah-
ren als Tenor weltberühmt geworden.
Mittlerweile schafft der 78-jährige
Sänger von seinen abnehmenden Stimm-
kräften her zwar nur noch Baritonpar-
tien, er füllt aber noch immer die Säle
und Hallen und dirigiert auch.
Jetzt steht er selbst unter Verdacht.
Mittlerweile erheben 20 Frauen Vorwür-
fe, von ihm sexuell belästigt worden zu
sein, die Nachrichtenagentur AP hat sie
publik gemacht. Die ersten Vorwürfe wur-
de Mitte August laut, Domingo hat sie
damals zurückgewiesen: „Die Anschuldi-
gungen dieser ungenannten Personen,
die bis zu dreißig Jahre zurückliegen,
sind zutiefst beunruhigend und – so wie
sie dargestellt werden – unzutreffend.“
Er hat aber eingeschränkt: „Ich habe ge-
glaubt, dass all meine Handlungen und
Beziehungen immer gewünscht und ein-
vernehmlich waren.“ Die neuen Vorwürfe
jetzt nannte seine Sprecherin unzutref-
fend, sie sprach von „unethisch“ und
„Kampagne“.


Der Verdacht ist nun also in der Welt,
Untersuchungen und Beweis stehen noch
aus. Aber alle, die mit Domingo zu tun ha-
ben – Intendanten, Orchester, Opernhäu-
ser, Publikum – müssen Haltung bezie-
hen: Ob sie Domingo glauben oder den
Frauen, ob ihnen die Kunst wichtiger ist
oder die Moral. Das Publikum in Salz-
burg hat Domingo im August ostentativ
bejubelt. Die Festspiele haben an dem
Sänger genauso festgehalten, wie es die
Wiener Staatsoper oder die Hamburger
Elbphilharmonie tun. Das Philadelphia
Orchestra und die Oper in San Francisco
sagten dagegen Domingo-Auftritte ab.
Die Oper von Los Angeles, die Domingo
seit 2003 leitet, kündigte eigene Ermitt-
lungen an, die auch die New Yorker Met
abwarten will, bevor sie darüber entschei-
det, ob Domingo wie geplant in Verdis
„Macbeth“ und Giacomo Puccinis „Mada-
ma Butterfly“ auftreten wird.
Das Dilemma, in dem sich die sich so
gern unpolitisch und weltfern gebende,
weil nur dem Erhabenen verpflichtete
Klassikwelt und einer ihrer wichtigsten
Superstars befinden, ist unübersehbar.
Auch dass sich einige berühmte Sängerin-
nen mit Domingo solidarisiert haben, weil
er sich ihnen gegenüber immer korrekt
verhalten habe, besagt rein gar nichts. Ers-
tens könnte er auch ein Gelegenheitstäter
sein, und zweitens werden Übergriffe
durch hierarchische Ordnungen begüns-
tigt, die die Klassikszene nach wie vor
übermäßig stark dominieren.
Dass Intendanten auf Vorwürfe hin kei-
ne Aufführungen absagen wollen, ist ver-
ständlich. Erstens gilt die Unschuldsver-
mutung, zweitens kosten Absagen viel
Geld. Verständlich auch, dass nach sol-
chen Vorwürfen gelegentlich still und
heimlich Lösungen an der Öffentlichkeit
vorbei ausgehandelt werden. So zwi-
schen dem Dirigenten Daniele Gatti und
dem Amsterdamer Concertgebouw-Or-
chester, das ihn nach Vorwürfen wegen
sexueller Übergriffe fristlos entließ. Sol-
che Übereinkünfte sind aber höchst unbe-
friedigend, grenzen sie doch an Mausche-
leien.
Wenn solche Vorwürfe erhoben wer-
den, müssten die betroffenen Männer
nicht nur dementieren, sie müssten ihren
guten Ruf aktiv verteidigen, am besten
vor Gericht. Denn Gerichte, das hat der
Fall des wegen sexueller Nötigung verur-
teilten Münchner Musikhochschulchefs
Siegfried Mauser gezeigt, haben bessere
Möglichkeiten der Wahrheitsfindung als
jeder Laie. Dieser Weg hätte Daniele Gatti
offengestanden, auch Plácido Domingo
könnte sich jetzt dafür entscheiden. Ein
solches Vorgehen ist nicht ohne Risiko.
Aber es würde der Öffentlichkeit eindeu-
tig signalisieren, dass sich der Betroffene
tatsächlich zu Unrecht beschuldigt fühlt.


Reinhard J. Brembeck freut
sichdarauf, am Wochenen-
de wieder Bach zu spielen.

FOTO: GETTY IMAGES

Wie die Erinnerung aus den Dingen
spricht:Ein Besuch bei Jenny Erpenbeck
und ihrer Sammlung  Seite 18

von felix stephan

W


enn man im Spätsommer
2019 bei deutschen Verla-
gen nachfragt, wann der
Punkt erreicht sein wird,
an dem sie mit ihrem Digi-
talgeschäft mehr verdienen als mit dem
Verkauf klassischer, dreidimensionaler,
gedruckter Bücher, dann bekommt man
verschiedene Antworten. Aber keine die-
ser Antworten, und das ist an dieser Stelle
vielleicht die eigentliche Nachricht, be-
steht in herzhaftem Gelächter.

Das hat möglicherweise mit einer Ge-
schichte zu tun, die sich vor einigen Jahren
in Schweden zugetragen hat. Dort hatte
sich ein Start-up namens „Storytel“ ge-
gründet und allen möglichen Verlagen bil-
lig die Streaming-Rechte ihrer Bücher ab-
gekauft, mit denen sie selbst nichts anzu-
fangen wussten, um diese dann wie eine
Art Netflix für Hörbücher auf seiner Home-
page anzubieten. Die Kunden zahlten pro
Monat einen festen Betrag und bekamen
dafür unbegrenzten Zugang zu sämtlichen
Hörbüchern, die Storytel im Angebot hatte.
Damit verdiente das Unternehmen inner-
halb von drei Jahren so viel Geld, dass es
kurzerhand Nordstedts kaufte, den ältes-
ten Verlag des Landes, in dem unter ande-
rem Astrid Lindgren und August Strind-
berg erscheinen. Heute ist Nordstedts eine
Tochter von Storytel, was etwa so ist, als
würde Suhrkamp dem Deutschen Hör-
buch-Verlag gehören. Die deutschen Verla-
ge sind also gewarnt. Das digitale Buchge-
schäft umfasst heute E-Books und Hörbü-
cher in verschiedenen Darreichungsfor-
men: auf CDs, als Download, als Stream. Ge-
naue Umsatzzahlen sind nicht zu haben, da
sich in diesem Geschäft zahlreiche Akteure
bewegen, die keine klassischen Verlage
sind und dem Börsenverein des Deutschen
Buchhandels keine Meldung erstatten.

Die Amazon-Tochter Audible zum Bei-
spiel ist nicht nur die größte Vertriebsplatt-
form für Hörbücher in Deutschland, son-
dern auch der größte Produzent. Das Un-
ternehmen verlagert die gesamte Wert-
schöpfungskette in sein eigenes Ökosys-
tem und gibt traditionell keine Zahlen be-
kannt. Wenn man aber als Richtwert vor-
schlägt, dass der deutsche Buchmarkt heu-
te zu ungefähr dreißig Prozent aus digita-
len Geschäften besteht, gibt es in der Bran-
che wenig Widerspruch.
Das ist nicht ganz unerheblich. In
Deutschland ist der Buchmarkt gemessen
am Umsatz nach wie vor größer als der
Film-, Musik- und Videospielmarkt zu-
sammen. Rechnet man Schul- und Fachbü-
cher mit ein, dann ist er fast doppelt so
groß. Und es wird auch oft vergessen, dass
Deutschland im internationalen Buchge-
schäft eine Großmacht ist. Die renommier-
ten New Yorker Verlage zum Beispiel, die
Pulitzer-Preise und National Book Awards
produzieren wie andere Butterkekse und
ihre Autoren in die ganze Welt exportie-
ren, gehören zum guten Teil deutschen Un-
ternehmen.
Farrar, Straus and Giroux etwa, der Ver-
lag von Jonathan Franzen, Tom Wolfe und
Susan Sontag, gehört zur Verlagsgruppe
Macmillan, die wiederum zu Holtzbrinck
gehört. Und das ehrwürdige Verlagshaus
Alfred A. Knopf, in dem unter anderem To-
ni Morrison, Alice Munro und John Updike
erscheinen, ist eine Tochter von Penguin
Random House, das wiederum eine Toch-
ter von Bertelsmann ist.
Insofern sind es nicht zuletzt deutsche
Unternehmen, die von dem Boom des digi-
talen Buchgeschäfts profitieren. In Flä-
chenländern ohne Buchladeninfrastruk-
tur und Buchpreisbindung, Ländern wie
den USA oder Russland, vollzieht sich der
digitale Wandel sehr viel rasanter als in
Deutschland. Wenn der nächste Buchla-
den eine Autostunde entfernt liegt, ist das
E-Book sehr viel attraktiver, als wenn es ei-
nen Buchladen auf der anderen Straßen-
seite gibt. Und der Boom der Hörbücher
wiederum hängt auch damit zusammen,
dass man heute keine 48 CDs mehr kaufen

muss, um Paul Austers New-York-Trilogie
zu hören, sondern sie direkt auf dem
Smartphone oder via Alexa hören kann,
Amazons Sprachsteuerungswanze, die
das Unternehmen mittlerweile über
100 Millionen Mal verkauft hat. Penguin
Random House hat soeben bekannt gege-
ben, dass sein Geschäft mit Audio und
Streaming in den USA und Großbritanni-
en allein im ersten Halbjahr 2019 um
30 Prozent gewachsen ist.
Die deutschen Verlage sind jedenfalls
im Wandel begriffen. Sie produzieren
nicht mehr nur Bücher, sondern in erster
Linie Texte, die auf verschiedenen Kanä-
len ausgespielt werden. In Deutschland
verharrt der Anteil der E-Books am Buch-
markt zwar stabil bei etwa fünf Prozent.

Das ist jedoch insofern verzerrend, als in
diese Rechnung auch Kochbücher, Bild-
bände oder Reiseführer einfließen, die so
gut wie keinen E-Book-Anteil haben. In
der klassischen Pendlerliteratur, der Fan-
tasy, der Unterhaltung hingegen liegt er
auch gern mal bei 80 Prozent. Die Zahl der
gedruckten belletristischen Bücher geht
derweil zurück. Der S.-Fischer-Verlag hat
angekündigt, sein Programm gedruckter
Bücher um rund 30 Prozent zu reduzieren,
von 500 auf 300 Titel. Vor allem das Genre-
Taschenbuch verschwindet, auch bei ande-
ren Verlagen. Für die deutsche Buchkultur
sind das trotzdem keine unmittelbar be-
drohlichen Zahlen, schließlich geht es da-
bei vor allem um Bücher, die sich ohnehin
niemand in den Schrank stellen möchte.

Vor ziemlich genau einem Jahr hat der
Börsenverein eine Studie veröffentlicht,
aus der hervorging, dass die Zahl der Leser
zwar sinkt, die Umsätze der literarischen
Verlage aber stabil bleiben. Jetzt zeigt sich,
woran das liegt. Pendler und Vielleser wan-
dern zu den Streamingdiensten ab, aber
ehrgeizigere Leser geben mehr Geld aus.
Ob Rüdiger Safranskis Hölderlin-Biogra-
fie nun 23 oder 26 Euro kostet, ist für diese
Zielgruppe nicht eben erheblich. Dabei
gibt es wenige Anzeichen dafür, dass sich
in gedruckten Büchern Gedanken formu-
lieren ließen, die in Hörbüchern nicht aus-
gedrückt werden können. Die beiden Be-
reiche verhalten sich erstaunlich parallel:
Auf der Bestsellerliste von Audible finden
sich genauso viele Thriller, Ernährungsbe-
rater und Erlebnisberichte über behutsa-
me Zivilisationsflucht wie auf derSpiegel-
Bestsellerliste. Und in beiden Fällen ist das
Gefälle zwischen Gebrauchsware und au-
ratisiertem Kunstwerk so groß, als hätte
der amerikanische Literaturwissenschaft-
ler Leslie Fiedler den Essay „Close the
Gap“ nie geschrieben. Im Grunde verhält
es sich eher so, dass man das Segment der
ernsthaften Literatur gerade daran er-
kennt, dass dort so viel vom Einreißen der
Hierarchien die Rede ist.
Dass man sich so schlecht jemanden
vorstellen kann, der sich abends auf die
Couch legt und den Satz in den Raum sagt:
„Alexa, lies mir Hölderlins ‚Hyperion‘ vor“,
hat auch damit zu tun, dass es tatsächlich
selten vorkommt. Wer sich einmal bei der
Frage erwischt hat, inwiefern Friedrich
Schillers hochtrabende Selbstermächti-
gungsrhetorik möglicherweise den deut-
schen Gaskrieg schon in der DNA trug, ist
für das Streaming-Geschäft im Grunde
schon verloren. Natürlich kann man diese
Fragen mit Alexa auch nicht schlechter dis-
kutieren als mit den meisten Menschen.
Die Erfahrung zeigt aber, dass diese Kund-
schaft auch heute noch eher 99 Euro für
die 44 CDs der „Poets’ Collection“ ausgibt,
die Christiane Collorio mit dem ehemali-
gen Hanser-Verleger Michael Krüger her-
ausgebracht hat, als sich bei Audible anzu-
melden.

Im Buchmarkt-Sonderfall Deutschland
werden auch heute noch aufwendig produ-
zierte Hörbücher, denen ausführliche Pro-
grammbooklets beigelegt sind, gleich
schuberweise aus den unabhängigen
Buchhandlungen getragen. Produktionen
wie die „Ungekürzten Lesungen“, in denen
Gert Westphal Fontane, Heine, Kafka eher
rezitiert als vorliest, oder Tondokument-
Sammlungen wie „Der Kreis des Zaube-
rers“, auf denen man über 17 CDs die Fami-
lie Mann im Original hören kann, verkau-
fen sich heute blendend. Dass das Hör-
buch in Deutschland gerade eine goldene

Ära erlebt, hat vielleicht auch damit zu
tun, dass die Verlage es hier mit einem ge-
schulten Publikum zu tun haben. Die Hör-
spieltradition, die in den Nachkriegsjahr-
zehnten vor allem vom öffentlich-rechtli-
chen Rundfunk getragen wurde, gibt es in
vergleichbarer Qualität sonst eigentlich
nur bei der BBC. Wer sich einmal daran ge-
wöhnt hat, dass Heinrich Böll ein Hörspiel
schreibt, das dann von den führenden
Schauspielern des Landes gesprochen
wird, hat an Alexa danach eigentlich keine
Fragen mehr.
Amazon spielt in diesem Markt eine
zwiespältige Rolle: Einerseits hat das Un-
ternehmen viel Geld in das Hörbuch-Mar-
keting gesteckt und die Verlage unter
Druck gesetzt, auch selbst hochwertige
Produktionen zu lancieren. Andererseits
versucht Amazon, von der Herstellung bis
zur Auslieferung alles selbst zu überneh-
men und damit Studios, Verlage und Buch-
handlungen aus dem Spiel zu nehmen. Die
spätkapitalistische Zentralisierung einer
ganzen Branche auf ein einziges Unterneh-
men ist bei Audible weitgehend abge-
schlossen. Die deutschen Verlage haben
dieser Struktur nur die besondere Qualität
ihrer Produktionen entgegenzusetzen –
und ein Publikum, das bereit ist, dafür zu
zahlen, weil es den Unterschied erkennt.

Digitaler Faschismus


Von der österreichischen Künstlerin
Maria Lassnig ist kürzlich ein unbekanntes
Selbstporträt aufgetaucht  Seite 24

Richtig untersucht werden


können die Vorwürfe


nur vor Gericht


DEFGH Nr. 207, Samstag/Sonntag, 7./8. September 2019 HF3 15


FEUILLETON


PLÁCIDO DOMINGO

Klarheit


bitte


Derdeutsche Buchmarkt ist
größer als der für Filme, Musik
und Videospiele zusammen

Dass jemand sagt: „Alexa, lies
mir Hölderlins ‚Hyperion‘ vor!“,
kann man sich schwer vorstellen

Amazon versucht, von der
Herstellung bis zur Auslieferung
alles selbst zu übernehmen

Sedimentierte Zeit
FOTO: STEFANIE FREUIN

Inszenierung eines
Klangwunders:
Kopfhörer über
einer aufgeschlagenen
gedruckten Bibel.
FOTO: GETTY IMAGES / STOCKPHOTO

Sängerin Chrissie Hynde über
Rock ’n’ Roll, Jazz und die Qualen
des Musikerdaseins  Seite 16

Altersweisheiten


Die Vorleser


E-Books, Downloads, Streaming: Die Digitalisierung des Buchmarktes schreitet zügig voran, der Hörbuchmarkt boomt.


Davon profitiert ausgerechnet ein altes haptisches Medium: der hochwertige CD-Schuber


FOTO: JILL FURMANOVSKY

Frontaler Blick

Free download pdf