Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1
interview: andrian kreye

E


s war immer diese Kaltschnäu-
zigkeit, die Chrissie Hynde als
Rockstar groß machte, egal ob
sie mit ihrer Londoner BandPre-
tendersAnfang der Achtziger-
jahre das letzte Aufbäumen des Punk in
zeitlosen Rock ’n’ Roll kanalisierte oder
mit Popstars wie Cher, Annie Lennox und
Frank Sinatra Duette sang. Über die Jahre
wurde ihre Musik dann mit ihr und ihrem
Publikum immer erwachsener. Deswegen
konnte sie genauso souverän über Gewalt
in einer kaputten Beziehung wie über die
Frustrationen des Mutterlebens singen.
Es ist also nur konsequent, dass sie mit
68 Jahren auf ihrem neuen Album „Valve
Bone Woe“ (BMG) mit großem Orchester
(neben Covers von denBeach Boysund
Nick Drake) vor allem Standards der Jazz-
geschichte singt. Und trotzdem ist es ver-
blüffend, wie viel Wärme und Blues sie da
in ihre Stimme legen kann.

SZ: Paul McCartney, Bob Dylan, Bryan Fer-
ry, Rod Stewart, Joni Mitchell, jetzt Sie.
Woher kommt der Drang so vieler Rock-
stars, spät in ihrer Karriere ein Jazz-
album aufzunehmen?
Chrissie Hynde: Ich sehe das nicht so als
Jazzalbum.
Im Ernst?
Die Arbeit an dem Album fing vor zehn Jah-
ren an, als ich für einen Soundtrack
Charles Trenets „I Wish You Love“ aufge-
nommen habe (der das Album abschließt,
Anm. d.Red.). Das war jedenfalls kein Jazz-
song. Ich fand da vor allem den Schluss in-
teressant, den der Produzent Marius de
Vries in so ein trippy Trance-Ding verwan-
delt hat. Wahrscheinlich, weil der in den
Abspann vom Film lief. Aber ich mag trip-
py, trancey, psychedelischen Scheiß und
wollte da gerne weitermachen.

Na ja, und jetzt sind auf dem Album Stü-
cke, die Billie Holiday, Nina Simone und
Frank Sinatra gesungen haben, Instru-
mentals von John Coltrane und Charles
Mingus.
Ja klar, ich mag auch Jazz. Was kann man
an Jazz nicht mögen? Gut, gilt vielleicht
nicht für jeden. Aber das ist die kreativste
Musik des 20. Jahrhunderts. Und als Rock-
sängerin bekomme ich nicht so oft die
Chance, was auszuprobieren. Ich würde ja
auch gerne Oper singen, aber das kann
man im Rock ’n’ Roll schon gar nicht.
Wer sich an solches Material wagt,
kommt an Sinatra nicht vorbei. Sie gehör-
ten zu den auserwählten Pop- und Rock-
stars, die Anfang der Neunziger mit ihm
ein Duett aufnehmen durften. Wie war
die Arbeit mit ihm? Und was bleibt davon?
Ich hab’ ihn nie getroffen. Die haben mir
seine Aufnahme geschickt und ich musste
meine Stimme draufspielen. Ich klinge da
sehr unvorbereitet. Ich hatte auch wirklich
meine Hausaufgaben nicht gemacht. Ich
habe in meinem Leben noch kein Musical
gesehen. Ich mag die nicht. Deswegen
kannte ich das Stück „Luck be a Lady“
nicht. Alle anderen schienen das zu ken-
nen, deswegen habe ich gesagt, jaja,
schickt mal rüber. Aber dann erst wurde
mir klar, in was für einer Tonart er das ge-
sungen hatte, und dass ich das in zwei un-
terschiedlichen Oktaven singen musste.
Aber mein Vater lebte zu der Zeit noch, den
hat das damals sehr glücklich gemacht.
Sie haben auf Ihrem Album vor allem bei
den Balladen diesen kaum hörbaren
rauen Ansatz, mit dem ursprünglich Jazz-
saxofonisten ihre Phrasierung aufbra-
chen, den dann Sängerinnen wie Billie
Holiday übernahmen. War das bewusst?

Hey, ich bin Rocksängerin. Ich kann un-
möglich analysieren, was ich da tue. Wir
haben keine musikalische Ausbildung.
Wir gehen nicht aufs Konservatorium. Wir
versuchen uns da nur an unseren eigenen
Karaokemomenten. Ich mochte es schon
immer, mich an einer Idee von jemand an-
derem zu versuchen. Deswegen habe ich
schon immer Coverversionen gesungen.
Aber ich interpretiere diese Songs nicht
groß, sondern singe sie ziemlich so, wie sie
geschrieben wurden. Und wenn du meine
Stimme magst, gut, wenn nicht, dann wird
das halt nichts.
Karaokemoment ist aber sehr kokett. Sie
haben die großen Standards auf dem
Album ja doch sehr zu Ihren eigenen
Songs gemacht.
Ich bin da aber nicht besonders ehrgeizig.
Es ist natürlich kein Rockalbum. Wir spie-
len auch viele Jazzfestivals demnächst.
Die nehmen allerdings auch jeden.
Hören Sie denn Jazz?
Die mittleren Sechzigerjahre waren im-
mer die Zeit des Jazz, die mich angemacht
hat. Das Interessante am Jazz ist, dass er

richtig einen in die Fresse bekam, als der
Rock ’n’ Roll in den Sechzigern Fahrt auf-
nahm. Das war eine ziemliche Schande.
Das war dann alles sehr lang im Unter-
grund. Bis vor Kurzem. Ich bin ja keine Ex-
pertin, aber ich habe den Eindruck, dass es
derzeit die kräftigste Jazzszene seit den
Sechzigerjahren gibt.
Absolut. Gerade in London.
Stimmt, da gibt es alle möglichen 25-jäh-
rigen Mädchen, die unfassbar Saxofon
spielen können. Und junge Leute, die das
mögen.
Warum hat Jazz Ihrer Meinung nach gera-
de so einen Lauf?
Na ja, der Rock ’n’ Roll ist ziemlich durch.
Und Leute, die jetzt 25 sind, haben wahr-
scheinlich Eltern, die Punk oder Hard
Rock hörten, und meistens will man wirk-
lich nicht die Musik hören, die die Eltern
mochten.
Gehen Sie in diese ganzen neuen Clubs
und Lofts in London?
Nicht wirklich. Ich bin so sehr mit meinem
eigenen Kram beschäftigt. Aber ich bin
mir sicher, wenn ich in einem Schuhladen

arbeiten würde, wäre ich jeden Abend auf
Gigs und würde mich richtig gut aus-
kennen.
Für die beiden Instrumentals haben Sie
sich immerhin zwei Monumente der Jazz-
geschichte rausgesucht. Charles Mingus’
musikalisch hochkomplexes Bürger-
rechtsfanal „Meditation on a Pair of Wire
Cutters“ und John Coltranes „Naima“,
eines der emotionalsten Stücke in der
Geschichte des Jazz.
Das waren zwei Stücke, die ich aus meiner
Kindheit kannte und sehr mochte. Und
nun ja, das ist mein Album, da kann ich
machen, was ich will.
Haben Sie da Gitarre oder Klavier ge-
spielt?
Nö. Nur ein paar Worte gesprochen. Und
auf „Meditations“ habe ich ein bisschen
Kalimba gespielt, dieses kleine afrikani-
sche Zupfinstrument. Aber ich hatte nie
vor, diese Stücke irgendwie zu verbessern
oder so. Ich singe ja auch „Absent Minded
Me“, das war die B-Seite auf einer Single,
die ich gehört habe, als ich 14 war. Aber ich
würde nicht eine Sekunde lang glauben,

dass ich das auch nur ansatzweise so gut
singen könnte wie Barbra Streisand.
Dann ist das Album vor allem eine Reise
in Ihre eigene Vergangenheit?
Das sind einfach Songs, die ich mag. Zum
Beispiel „Caroline, No“ von denBeach
Boys. Das war immer mein Lieblingsstück
von denen. Damals fuhr ich ja eigentlich
auf verrückten Rock ’n’ Roll ab. DieBeach
Boysschienen uns doch sehr konservativ.
Wir wussten damals nicht, wie kaputt die
eigentlich waren. Aber als kleinem Hippie-
mädchen in Ohio sprach mir „I Wish They
All Could Be California Girls“ nicht so aus
der Seele. Nur „Caroline, No“ hatte diese
unfassbare Atmosphäre.
Also alles reine Nostalgie?
Nein, nein, diese Songs sind sehr emotio-
nal, da muss man schon tief schürfen, um
ein Stück zu singen, das mit so viel
Schmerz, Elend, Drogensucht und all die-
sen Sachen aufgeladen ist, das ich da raus-
höre. „I’m a fool to love you, I’m a fool to
hold you“ – das klingt für mich nach einer
finsteren, krassen Drogensucht. Wenn
man sich in diese Songs einarbeitet und
sie wirklich singt, spürt man die Qual, die
da drinsteckt. Das transportiert einen
schon an ganz andere Orte.

Braucht man dafür Lebenserfahrung?
Anders gefragt, hätten Sie das mit 22
auch schon singen können?
Ich nehme mal an, dass ein Schauspieler
auch jede Rolle ohne große Lebenserfah-
rung meistern kann. Aber ich singe nur
Songs, die ich im tiefsten Inneren fühle.
Und zu denen ich eine Beziehung auf-
bauen kann. Die mir etwas bedeuten. Ich
behaupte nicht, dass jeder Song, den ich je
gesungen habe, eine philosophische oder
emotionale Tiefe hatte. Einiges ist auch
einfach nur oberflächlicher Bullshit. Aber
das ist auch ein großer Spaß. Und selbst
Wegwerf-Rock kommt aus Depression
und Angst. Darum machen wir ja Rock ’n’
Roll. Um uns über diese ganzen banalen
Alltagsprobleme zu erheben. Ehrlich ge-
sagt – du musst ganz schön kaputt sein,
um Sängerin zu sein.
Sind Sie das?
Nicht mehr. Ich glaube, ich hab’ das jetzt
hinter mir. Wenn man 60 wird, muss man
sich entscheiden, wie man mal abtreten
will. Die meisten Leute, die so alt sind wie
ich, wissen, was ich meine. Man hatte El-
tern, die alt wurden, Kinder, verheerende
Beziehungen, Suchtprobleme, Ärger mit
der Karriere, mit Leuten. Jeder hat solche
Probleme. Egal, wer du bist. Kranken-
schwester, Klempner. Jeder muss da
durch. Aber irgendwann in den Sechzi-
gern hat man das hinter sich. In meinem
persönlichen Fall war das eine große Er-
leichterung, den harten Teil des Lebens
hinter mir zu haben. Die einzige Herausfor-
derung, mit der ich mich jetzt noch be-
schäftigen muss, ist der Tod.
Klingt sehr Zen.
Um ehrlich zu sein, ich habe mich noch nie
so gut gefühlt wie jetzt. Ich glaube, das
geht vielen Leuten ganz schön auf die Ner-
ven. Nee, echt, ich bin ganz schön gut ge-
launt. Es gibt da ein schönes Zitat von
George Burns, dem amerikanischen Komi-
ker: „Wenn ich gewusst hätte, dass ich so
lange lebe, hätte ich besser auf mich aufge-
passt.“ Das war vielleicht als Witz gedacht,
aber da steckt ein schönes Stück Weisheit
drin. Weil wenn man so 55, 60 wird und
sich nicht um sich gekümmert hat, bricht
alles zusammen. Man braucht da echt Dis-
ziplin. Ich glaube, ich bin so alt geworden,
weil ich mit dem Rauchen aufgehört habe.
Na gut, erst mit 60, aber immerhin. Und
dass ich schon mit 17 Vegetarierin war, das
hat mir das Leben gerettet.

„Was kann man an Jazz
nichtmögen? Gut,
gilt vielleicht nicht für jeden.“

„Rock ’n’ Roll ...


... ist ziemlich durch.“ Chrissie Hynde über Jazz, Qual und


warum man erst mit 60 richtig gute Laune kriegt


„Du musst ganz schön
kaputtsein,
um Sängerin zu sein.“

16 FEUILLETON HF2 Samstag/Sonntag, 7./8. September 2019, Nr. 207 DEFGH


Jetzt sind sie wieder abgebaut, die
Zelte und die wundersamen Fanta-
siegebäude, die jeden Sommer für
das Burning Man Festival in der
Black Rock Desert im US-Bundes-
staat Nevada errichtet werden.
Dieses Jahr muss der Eindruck
einer urbanen Fata Morgana noch
etwas surrealer gewesen sein, man
könnte auch überhitzt dazu sagen.
Denn zwischen all den tangatragen-
den, muskelbepackten und mit
Fliegerbrille ausgestatteten Men-
schen und ihren wesenhaften Fort-
bewegungsmitteln stand doch tat-
sächlich eine Sauna, entworfen von
dem finnischen Architekturbüro
JKMM. Aus Holz. In Form eines
perfekten Kreises. Was symbolisch
ja irgendwie Sinn macht, denn ist
das Leben nicht genau das: ein
endloser Kreislauf aus Schwitzen
und wieder Abkühlen?
Keinen großen Sinn macht es aller-
dings, mitten in einer Wüste in die
Sauna zu gehen. Auch wenn die
Beteiligten von einem erfrischen-
den Effekt sprachen, dürfte der
„Steam of Life“-Pavillon eher aus
dem Gestus einer gewissen Selbst-
herrlichkeit heraus entstanden
sein, frei nach dem Motto „Weil wir
es können, machen wir es auch“.
Die Sinnfrage stellt sich dabei
nicht. Damit passt die finnische
Sauna in der Wüste vermutlich
besser zum Festival als man es auf
den ersten Blick glauben mag.
Denn Burning Man hat sich längst
zum Lieblings-Spieleparadies der
Tech-Giganten entwickelt. CEOs

wie Mark Zuckerberg, Larry Page
oder Elon Musk, sie alle waren
schon mal da, nicht einfach mit Zelt
und Fahrrad, um übers Gelände zu
kurven, sondern mit Helikopter,
privatem Koch und diversen Klima-
anlagen in ihren nicht von eigener
Hand, sondern von Angestellten
errichteten Luxuscamps. Teslas
CEO Musk ging sogar soweit, Bur-
ning Man als „Silicon Valley“ zu
bezeichnen. Da passt es, dass die
Ticketpreise seit 1994 in die Höhe
geschnellt sind, von 35 Dollar auf
über 400 Dollar, und langjährige
Burning-Man-Festival-Gänger sich
schon über diese Art der Gentrifizie-
rung ärgern. Dabei findet offenbar
in der Wüste nur das zusammen,
was zusammengehört: Denn was
wollen die Silicon-Valley-Sprösslin-
ge anderes, als sich die Welt so
zusammenzusetzen, wie sie ihnen
gefällt.laura weissmüller

Vermutlich gehört das Instrument
geschwind erklärt, sehr gebräuch-
lich ist es ja derzeit nicht, wenigs-
tens im Pop, und man muss es ken-
nen, um zu verstehen, warum
Robert Randolph es so infernalisch
gut bedient: Pedal-Steel-Gitarre
also. Ein in den 1930ern entwickel-
tes, mittel-unförmiges Gerät, das in
der Art, wie es gespielt wird, Ele-
mente einer normalen E-Gitarre
(und mehr noch von einer hawaiia-
nischen Lap-Steel) hat, allerdings
auf vier Beinen steht und die Saiten
gen Himmel reckt.
Die rechte Hand zupft, während die
linke die Tonhöhe mit einem Slide-
Bar (übersetzen wir es mal mit Me-
talltrumm) verändert. Man kennt
den Klang hauptsächlich aus dem
Country: Wenn Fans des Genres
den Stetson-Hut etwas tiefer ins
Gesicht schieben, weil ihnen ange-
sichts der ganzen Prärie-Weite-
und Asphalt-Truckerrauheiten-Tex-
te eine kleine Träne ins Auge steigt,
ist die Wahrscheinlichkeit groß,
dass eine Pedal-Steel-Gitarre gera-
de ihr unerträglich schönes, queck-
silbriges Strahlen den Highway
runter in die Herzen geschickt hat.
Robert Randolph verzerrt den
Sound nun allerdings und macht
ihn damit zu einem bissigen klei-
nen Miststück, das giftet und zickt
und keift und kläfft und kreischt
und trotzdem aber auch schmei-
cheln und flirten kann, was, kombi-
niert mit wirklich nur ganz selten
zu pathetischen Gospel-Erhaben-
heiten, recht famos wird.

Vor allem aber groovt der Funk &
Soul, den der Amerikaner mit sei-
nerFamily Bandabfackelt, mit
einer unbedingten Coolness, die
von sehr urbanen Straßen kündet –
endlich wieder. Auf ein paar der
Alben vor „Brighter Days“, seinem
eben erschienen Werk, hatte Ran-
dolph sich da etwas verloren. Nun
sind Groove und Coolness zurück,
was sich exemplarisch recht gut am
Opener „Baptise Me“ oder dem
sehr angenehm krumm herum-
schlurfenden „Second Hand Man“
hören lässt.
Man kann das nun alles, wenn man
denn unbedingt will, als Umdeu-
tung, als freundliche Einverleibung
eines kulturell sehr weiß gefärbten
Instruments sehen. Cultural Appro-
priation mal andersherum quasi.
Wer es mit Pop-Theorien nicht so
hat, kann sich aber auch einfach
über ein Album freuen, das vor
Energie und Spieldrang nur so
vibriert. jakob biazza

Wenn Paul McCartney sich vor
einen Patchworkvorhang drapiert,
der in seiner Buntheit selbst das
Magical-Mystery-Cover übertrifft,
ist allein das ja schon ein Grund zur
Freude. Wenn er dann noch, wie
gerade in einem Video geschehen,
verkündet, ein Kinderbuch namens
„Hey Grandude!“ zu veröffentli-
chen, mag es dem ein oder anderen
schwerfallen, ein kurzes, hymni-


sches „Na-Na-Na-Na“ zu unterdrü-
cken. „Grandude“ rufen McCartney
seine acht Enkel, und der Spitzna-
me inspirierte ihn zu folgender
Geschichte: Ein Hippie-Opa erlebt
mit seinen Nachkommen magische
Abenteuer, von Cowboy-Reitausflü-
gen bis zu hochalpinen Picknicks.
Ob der Vorhang eine subtile Wer-
bung für moderne Familienmodelle
ist, ließ McCartney offen. Bleibt
wohl nur „Hey Grandude! 2“ abzu-
warten. luise checchin


Das Flugzeug mit olivgrüner
Schnauze auf dem Vorplatz der
Bochumer Jahrhunderthalle macht
dem Begriff fliegende „Kiste“ alle
Ehre: die Teile einer Transall-Ma-
schine, kombiniert mit einem be-
gehbaren Holzbarackenmittel-
bauch. Was aussieht, als hätten
Bruchpiloten versucht, ihre Maschi-
ne notdürftig wieder zusammenzu-
flicken, ist das Festivalzentrum der
diesjährigen Ruhrtriennale. Ein Ort
der Gemeinschaft und des Dialogs,
„Third Space“ genannt. Entworfen
hat ihn das Künstler- und Architek-
turkollektiv „raumlaborberlin“,
bekannt für seine urbanen Interven-
tionen und temporären Architektu-
ren, auf die auch das Theater zu-
rückgreift. So waren die über die
Stadt verteilten „Shabby Shabby
Apartments“ im Sommer 2015 Teil
von Matthias Lilienthals Eröff-
nungsprogramm an den Münchner
Kammerspielen.
Shabby, schäbig, ist auch der Look
des „Third Space“ in Bochum. Shab-
by ist chic. Den Innenraum haben
Benjamin Förster-Baldenius und
seine Co-Bastler mit See-Contai-
nern, Omnibusteilen und Stadion-
sitzen des VfL Bochum einladend
gestaltet. Er ist achteckig und aus
hellem Holz, eine Mischung aus
Partyraum, Kantine und Diskursbu-
de. Aus den Wänden ausgesägt:
halb- und kreisrunde Nischen zum
Sitzen und Abhängen. Wie
Lounges. In einer davon läuft eine
Videoinstallation der Künstlerin
Barbara Ehnes zum Thema Solidari-

tät („Archive of Messages: Words in
Motion“). Auf Monitoren kommen
Menschen zu Wort, die ihr Verständ-
nis von Solidarität erklären, Grie-
chen zunächst, denn Ehnes’ Inter-
viewarchiv geht von der Schulden-
krise in Griechenland aus, ist aber
lebendig, wächst und soll nun im
Ruhrgebiet erweitert werden. Am


  1. September kocht die Künstlerin
    mit ihrem Team im „Third Space“
    fürs Publikum. „Dialog am Schnei-
    debrett“ nennt sich dieses Pro-
    grammformat, das Menschen mit-
    einander ins Gespräch bringen soll.
    Überhaupt wird viel geschnippelt
    und gebrutzelt im Flugzeugbauch,
    und alle dürfen ihren Senf dazu
    geben, denn das von „raumlaborber-
    lin“ vorgegebene Thema ist: Essen



  • und beim Essen reden, sodass
    Gemeinschaft entsteht. Etwa in der
    Diskursreihe „Semiotics of Food“.
    Abtanzen kann man auch. Wer viel
    isst, sollte sich schließlich auch
    bewegen. Und wer weiß, vielleicht
    hebt der rumpelige Flieger in den
    Partynächten ja tatsächlich ab?
    (www.ruhrtriennale.de/Third_Spa-
    ce) christine dössel


Das Buch „Name Waffe Stern. Das Em-
blem der Roten Armee Fraktion“ ist das
schönste Buch des Jahres 2019. Es wur-
de am Freitagabend in Frankfurt am
Main mit dem mit 10000 Euro dotierten
Preis der „Stiftung Buchkunst“ ausge-
zeichnet. Das Werk wurde von den drei
Absolventen der Leipziger Hochschule
für Grafik und Buchkunst Felix Holler,
Jaroslaw Kubiak und Daniel Wittner
gestaltet. Es stelle die Frage nach der
programmatischen Bedeutung des Em-
blems der Roten Armee Fraktion. Ent-
standen sei das Buch aus der 2017 vorge-
legten Diplomarbeit der drei Gestalter.
„Das ausgezeichnete Buch zeigt, wie aus
Buchstaben und Bildern Waffen wer-
den“, sagte die Leipziger Kulturbürger-
meisterin Skadi Jennicke in ihrer Lauda-
tio. Diese „zeichentheoretische Entzau-
berung ist hoch willkommen in Zeiten,
da zum RAF-Komplex scheinbar alles
gesagt ist und das Logo der Terrorgrup-
pe als ahistorische Ikone längst in die
Pop-Kultur Einzug gehalten hat“.epd


Der Gitarrist, Produzent und Mitbegrün-
derdes legendären Muscle Shoals Stu-
dios in Sheffield, Alabama, ist gestorben.
Er blieb immer ein Mann im Hinter-
grund, doch die Liste der Songs und
Alben, an denen er mitarbeitete, liest
sich wie eine Geschichte des Rock und
Souls. Von den frühen Sechzigerjahren
an arbeitete er zunächst für den Produ-
zenten Rick Hall in den nahen Fame
Studios. Dort spielte er für Soulgrößen
wie Aretha Franklin, Wilson Pickett und
Percy Sledge. Gemeinsam mit seinen
Mitmusikern und Geld vom Atlantic
Label gründete er 1969 die Muscle
Shoals Studios, in denen neben den Soul-
größen auch dieRolling Stones,Joe
Cocker undLynyrd Skynyrdaufnahmen,
Bob Dylan, Bob Seger – die Liste ist end-
los. Johnson wurde 76 Jahre alt. sz


Die amerikanische Regisseurin Patty
Jenkins hat einen Vertrag mit dem Strea-
mingdienst Netflix unterzeichnet, wie
Varietyberichtet. Die 48-Jährige gehört
zu den begehrtesten Filmemacherinnen
in Hollywood, seit sie mit „Wonder Wo-
man“ 2017 einen weltweiten Hit hatte.
Der Superhelden-Blockbuster war der
erste Film mit einem Budget von mehr
als 100 Millionen Dollar, der von einer
Frau inszeniert wurde. Die Fortsetzung
„Wonder Woman 1984“ hat sie bereits
abgedreht, sie soll im Juni 2020 ins Kino
kommen. Für Netflix soll Jenkins Serien-
projekte entwickeln.sz


Der mexikanische Maler und Bildhauer
Francisco Toledo ist im Alter von 79
Jahren gestorben. Staatspräsident
Andrés Manuel López Obrador würdigte
ihn auf Twitter als „großen Maler sowie
herausragenden Kulturförderer“. Er
lobte auch Toledos Engagement für
Naturschutz und mexikanische Traditio-
nen. Toledo gehörte dem Volk der Zapo-
teken an und war ein Schüler des Malers
Rufino Tamayo (1899-1991), der wie er
aus Oaxaca stammte. Seine Werke sind
geprägt von Tierbildern und mythologi-
schen Figuren. Er setzte sich künstle-
risch aber auch mit der Gewalt in dem
lateinamerikanischen Land auseinan-
der. Vor einigen Jahren schenkte Toledo
seiner Heimat ein Museum: Das Institut
für Grafische Kunst Oaxaca beherbergt
mehr als 125 000 Objekte.dpa


Eine Sauna in der Wüste


FOTO: JILL FURMANOVSKY

FOTO: PUFFIN/PENGUIN BOOKS

Die Pedal-Steel-Gitarre


FOTO: SABRINA RICHMANN

FOTO: MASCOT LABEL GROUP/PROVOGUE

FOTO:HANNU RYTKY

Das schönste Buch


Paul McCartney „Third Space“ bei der Ruhrtriennale


Jimmy Johnson ist tot


Patty Jenkins geht zu Netflix


Francisco Toledo gestorben


KURZ GEMELDET


VIER FAVORITEN DER WOCHE

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