Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1

I


m Frühjahr dieses Jahres gab es eine
weltweite Hysterie um eine kleine
Japanerin, die Amerikanern dabei
hilft, ihre Wohnungen aufzuräu-
men. In einer eigenen Netflixserie
führt Marie Kondo Menschen in die Kunst
des Wegwerfens ein, eine Tätigkeit, die an-
scheinend beherzt und achtsam zugleich
vonstatten zu gehen hat. Am Ende jeder
Folge stehen die Leute dann in leeren Räu-
men und fallen Kondo um den Hals. Die
Serie trifft wohl einen entzündeten Wohl-
standsnerv, viele Zuschauer sprechen da-
von wie von einem kathartischen Erlebnis,
endlich gibt ihnen jemand die Kraft, den
blöden Lebensplunder loszuwerden, an
dem sie längst zu ersticken drohen.
Lustige Vorstellung: Die Aufräumbriga-
de Marie Kondo klingelt bei Jenny Erpen-
beck, um hier mal ordentlich auszumisten.
Die Folge wäre wahrscheinlich keine 30 Se-
kunden lang, Erpenbeck würde das Kondo-
kommando so höflich wie hochkant raus-
werfen. In ihrem Buch „Dinge, die ver-
schwinden“, wunderte sie sich 2006 über
all die nach Berlin gezogenen Bayern und
Rheinländer, die ihr erzählen, sie hätten es
„gern japanisch“, was ein Synonym ist für:
leer. Ihre eigene Wohnung, schrieb sie
damals, sei voller Krempel.


Eine Küche in Berlin. Von draußen hel-
les, laubgrünes Sommerlicht, vor den Fens-
tern ein parkähnlicher Platz mit hohen
Bäumen. Auf diesem Platz findet jede
Woche ein Flohmarkt statt, Sonntag für
Sonntag wird dort haufenweise Krempel
angeboten. Drinnen steht Jenny Erpen-
beck und rührt Kaffeebohnen in einer
Handröstmühle von 1942, aus Ufa, einer
Stadt am Ural, aber dazu später mehr. Jetzt
sagt sie nämlich erst mal inmitten des Kaf-
feebohnendufts: „Ich hab’ geradezu einen
Horror davor wegzuschmeißen.“ – „War-
um?“ – „Weil man damit immer auch Le-
bensgeschichte wegwirft.“
Eine Freundin hat ihr kürzlich erzählt,
dass sie all ihre Tagebücher vernichtet
habe. „Die war richtig stolz darauf“, sagt Er-
penbeck und klingt dabei, als könne sie es
bis heute nicht fassen. „Nee, kann ich auch
nicht. Wem gehört denn so ein Tagebuch?
Da sind doch so viele Menschen drin.“ – Na
ja, schon, aber es sind doch die Erinnerun-
gen der Freundin, damit kann die doch ma-
chen, was sie will. „Finden Sie? Ich weiß
nicht. Ich finde, die hat die Geschichten all
ihrer Mitmenschen mitverbrannt. Selbst
wenn sie die verzerrt dargestellt hat; selbst
wenn Schlimmes drinsteht – ist doch im-
mer noch besser als das Nichts.“
Die Idee zu diesem Hausbesuch ent-
stand in Frankfurt, auf einer Tagung zum
Erinnern und Vergessen. Zwei Tage Exper-
ten-Talk. Neurowissenschaftler, Histori-
ker, Traumaexperten sprachen über Mne-
mosyne und Lethe, neuronale Synapsen,
das Recht auf Vergessen in Zeiten der tota-
len digitalen Speicherung und unser aller
Angst vor Alzheimer. Das war schon alles
hochinteressant und kundig, aber dann
saß da die Berliner Autorin Jenny Erpen-
beck, deren ganzes Werk laut Moderations-
ankündigung auf so vielfältige Weise ums
Erinnern und die Geschichte kreist, und er-
zählte von ihrem alten, kaputten Dampf-
drucktopf, den sie einfach nicht wegwer-
fen konnte, weil daran so viele Erinnerun-
gen hingen, weshalb sie ihn ein Jahr lang
im Kofferraum durch die Gegend fuhr, bis
er als Blumentopf in ihrem Garten landete



  • und plötzlich fing das Tagungsthema
    von innen her an zu glänzen. Es war, als hät-
    ten einem zuvor Kunsthistoriker den Wert
    alter Kirchenfenster erklärt, indem sie von
    draußen auf die staubgrau wirkenden
    Scheiben zeigen. Dann nahm einen Erpen-
    beck mit ins Innere der kollektiven Erinne-
    rungskathedrale, erzählte davon, wie sich
    Geschichten an Gegenständen ablagern,
    und alle Fensterfarben begannen zu leuch-
    ten.
    An Erpenbecks Kühlschrank hängt ein
    Foto, das aus dem Gerippe des Palastes der
    Republik heraus aufgenommen wurde,
    kurz vor dem endgültigen Abriss. Es gibt
    keine Fensterscheiben mehr, nur nackte
    Metallstreben, dazwischen Luft und dahin-
    ter der Dom und das Alte Museum. „Dieser
    Blick wurde damals mit abgerissen“, sagt
    Erpenbeck. Auf dem Magneten, der das Fo-
    to hält, steht ein Satz von Karl Valentin:
    „Die Zukunft war früher auch besser.“
    Eines sollte man möglichst früh klären:
    Man stellt sich Aufbewahrer und Dinge-
    horter ja gern als verkniffene Melancholi-
    ker vor. Jenny Erpenbeck aber hat so gar
    nichts Tristes oder Verhocktes. Es ist be-
    stimmt auch nicht so, dass sie sich mit all
    den Dingen gegen die Gegenwart ab-
    schirmt, sie scheint eine große Gabe für
    Freundschaften und Beziehungen zu ha-
    ben, und während wir mehrere Stunden
    lang durch Mappen, Kisten, Krusch und
    die damit zusammenhängenden Familien-
    geschichten mäandern, läuft im Hinter-
    grund der Alltag weiter, der Mann ruft an,
    der Sohn packt sein Zeug fürs Feriencamp.
    Der Vormittag bei ihr ist so witzig wie
    anrührend, ihr eigenes Leben fasst sie in-
    mitten der Dinge, beim Aufklappen einer
    Kinderwunderkammer (Hasenpfote, Jojo,
    die Kappe einer Silvesterrakete...), en


passant so zusammen: „Anfangs war ich
Requisiteuse. Eigentlich wollt ich Bühnen-
bildnerin werden. Da wurden in der letzten
Runde vier der fünf Bewerber genommen;
ich war die fünfte. Dann wollt ich Grafik
und Buchkunst machen, da wurd ich auch
nicht genommen. Dann hab ich Opernre-
gie gemacht, jetzt schreib ich, na auch gut.“
Über dem Bett im Schlafzimmer hängen
Fotos ihrer Vorfahren. „Die Familie ist der
Ausschnitt aus der Menschheit, den man
zum konkreten Kennenlernen zugeteilt be-
kommen hat“, sagt sie. „Ich hatte da ziemli-
ches Glück.“ Kann man so sagen. Jenny
Erpenbeck ist die Tochter des Physikers,
Philosophen, Schriftstellers John Erpen-
beck und der Arabisch-Übersetzerin Doris
Erpenbeck. Die Eltern ihres Vaters waren
das Autorenpaar Fritz Erpenbeck und Hed-
da Zinner. Dann gab es noch die andere
Oma, die in sibirische Kriegsgefangen-
schaft geriet, in Tscheljabinsk, dem Städt-
chen, über dem 2013 ein riesiger Meteor
verglühte, weshalb die Stadt kurz im grel-
len Aufmerksamkeitskegel der Weltnach-
richten aufschien und sofort wieder ver-
schwand.
Heute stehen in einem von Jenny Erpen-
becks Regalen zwei italienische Alubüch-
sen mit Olivenöl, Dante Olio d’Oliva, zwei
goldblaue kleine Kanister. Die haben ihre
Großeltern gekauft, 1936, in Prag, auf der
Weltausstellung. Als sie dann fliehen muss-

ten, haben sie die eiserne Fettreserve
mitgenommen. Sie sind erst nach Moskau,
dann nach Ufa. „Und es ging ihnen zumin-
dest so gut, dass sie die nie gebraucht
haben.“ So reisten die beiden Dosen am
Ende wieder mit zurück nach Berlin, stan-
den dort jahrelang im Regal der Groß-
eltern und schauten ihnen Tag und Tag
beim Älterwerden zu. Heute stehen sie hier
bei Jenny Erpenbeck und strahlen ihr
warmes Erinnerungsgoldlicht aus. Beide
wurden nie geöffnet, die Lebensnotreser-
ve ist im Dunkel der Kanister immer noch
enthalten.
Erpenbeck wohnt mit diesen Dingen, ja
sie bevölkern im wahrsten Sinne des Wor-
tes ihre Räume, erinnern sie doch jeweils
an einen Menschen, die Briefwaage am
Fenster an die verstorbene Freundin, die
gepunktete Kanne an die Urgroßmutter.
Die ist mindestens so interessant wie die
Großmutter, den moldauischen, eventuell
jüdischen Urgroßvater nicht zu vergessen,
kurzum: Erpenbeck lebte früh mit vielen
Toten. „Ich war auf zehn Beerdigungen, be-
vor ich auf der ersten Hochzeit war. Müller
spricht ja über die Anwesenheit der Toten“,
sagt sie. – Welcher Müller denn jetzt? –
„Na, Heiner!“ Sie sagt das im Ton von: Also
hörnsemal, es gibt nur einen Müller!
Wenn man mit Jenny Erpenbeck durch
all die Bestände streift, fällt einem immer
wieder „Heimsuchung“ ein, ihr autobiogra-

fischer Roman über ein Haus an einem der
märkischen Seen, das so vielen Generatio-
nen Zuhause ist, bis es am Ende wieder ab-
gerissen wird. Als der Erbauer dieses Hau-
ses, ein Architekt, in den Westen ausreist,
vergräbt er alle wertvollen Dinge auf dem
Grundstück, in der Hoffnung, sie eines
Tages bergen zu können. Das Silber, die
Teller, die Krüge, alles taucht im weiteren
Verlauf des Textes wieder auf, wie Ver-
drängtes, vorübergehend Vergessenes,
das so unbedingt dazugehört, dass es über
die Jahre wieder seinen Platz einfordert.
Nun gibt es ja nie den einen Grund für ei-
nen Charakterzug oder eine Leidenschaft.
Um Erpenbecks Sammeltrieb zu verste-
hen, kann man von den Familienfotos
auch rüberwandern ins Gästezimmer, wo
an einer Wand an die hundert Papiertüten
hängen, alle aus den letzten Monaten der
DDR. „Zierfischfutter“, Weißzucker, „
Jahre Fernsehturm“. Auf einer der Tüten
steht handschriftlich „28.6.1990 letzter
Einkauf mit DDR-Geld“. Warum sammelt
man so was? „Als klar war, dass die DDR
untergeht, hab ich angefangen, alles zu
sammeln, Tütensuppen, Zuckertütchen,
Papiertüten. Schön, oder?“ Na ja, Papiertü-
ten, ziemlich schlicht. „Eben drum. Geld
war nicht wichtig in dieser Gesellschaft.
Kaufen und Verkaufen war Nebensache,
das sieht man an den Verpackungen.“ Die
Aufschriften verblassen, die Sonne streift
jeden Tag über den Fernsehturm und das
Zierfischfutter, irgendwann wird nur noch
das Papier übrig sein.

Natürlich hat ihr Sammeln auch mit der
Erfahrung dieses tiefen Bruchs zu tun,
damit, dass etwas so Großes wie ein Land,
eine Gesellschaft plötzlich verschwinden
können. Und so wurde diese Wohnung
zum doppelten Archiv, dem einer Familie
und dem einer Epoche. „Oh“, sagt Erpen-
beck, „Archivar wär ein Traumberuf. Im
Sinne von Kempowski.“
Walter Kempowski, von 1948 bis 1956 in
der DDR wegen Spionage inhaftiert, ist so
etwas wie Erpenbecks Hausheiliger. Er hat
selbst mal beschrieben, wie er zum Samm-
ler und Dokumentar deutscher Vergangen-
heit wurde: „An einem Winterabend 1950
wurde ich in Bautzen über den Gefängnis-
hof geführt, und da hörte ich ein eigenarti-
ges Summen. Der Polizist sagte: ,Das sind
Ihre Kameraden in den Zellen, die erzählen
sich was.‘ Ich begriff da, dass aus dem Ge-
fängnis schon seit Jahren ein babyloni-
scher Chorus ausgesendet wurde, ohne
dass ihn jemand wahrgenommen oder gar
entschlüsselt hätte, und es wurde mir be-
wusst, dass ich der einzige Zuhörer war:
ein kleiner Häftling, für knappe zwei Minu-
ten. Jahre später, als ich in Göttingen stu-
dierte, sah ich einen Haufen Fotos und Brie-
fe auf der Straße liegen; die Menschen tra-
ten darauf: Es war die letzte Hinterlassen-
schaft eines gefallenen Soldaten, Fotos aus
Russland, Briefe an seine Braut. Das gab
mir einen Stich, und ich sammelte die Sa-
chen ein. (...) Wir müssen uns bücken und
aufheben, was nicht vergessen werden
darf: Es ist unsere Geschichte, die da ver-
handelt wird.“
Nun kann man „unsere Geschichte“ ja
so und so verhandeln. Was deren dreiste
Instrumentalisierung durch die AfD an-
geht oder, um es neutral zu sagen, das Ler-
nen aus der Geschichte, da ist Erpenbeck
pessimistisch. „Ich fürchte, jede Generati-
on muss ihre Erfahrungen von vorne
machen. Der Satz ,Nur wenn wir die Vergan-
genheit verstehen, können wir die Gegen-
wart meistern‘, der klingt zum einen furcht-
bar abgestanden. Zum anderen stimmt er
leider auch nicht. Man lernt fast alles über
Emotionen. Das fahle Schulbuchwissen
über die Nazizeit reicht nicht, um zu verste-
hen, was damals passiert ist. Zeitzeugen-
veranstaltungen sind wichtig, gelebte
Geschichte. Und manche erreicht man
noch über die Kunst. Aber die meisten sind
ja schon fix und fertig mit ihrem Urteil.“
Wie unterscheidet sich denn reifes Ein-
gedenksein von klebrig-verklärender Nost-
algie? Erpenbeck überlegt lange. Und sagt
dann: „Erinnerung hat viel mit unserer
Sterblichkeit zu tun. Erinnerung arbeitet
gegen die Vergänglichkeit an. In diesem
Sinne arbeiten wir mit der Erinnerung ge-
gen unsere Angst an, in der Welt verloren
zu sein. Wir versuchen, durch die Erinne-
rung Kontinuität herzustellen, gerade weil
wir wissen, dass es diese Kontinuität nicht
gibt. Und genau dabei stoßen wir natürlich
auf Brüche, Veränderungen – und begin-
nen, wenn wir es ernst meinen, nachzu-
denken. Wirkliches Erinnern ist nie das
Greifen in eine Schublade, sondern dieser
Prozess des Nachdenkens. Oft sehr
schmerzhaft.“
Dann ist der Kaffee fertig. Der Kaffee
aus der Röstmühle von 1942. Es war näm-
lich so: Im Krieg hatten die USA den ver-
bündeten Russen Waffen geliefert und als
Verpackungsmaterial oft ungeröstete Kaf-
feebohnen verwendet. „Die Russen moch-
ten den Kaffee nicht, meine Großeltern
fanden’s wunderbar – mitten im Krieg hat-
ten sie Kaffee. Und haben sich deshalb
1942 in Ufa diesen Apparat gekauft.“ Der
nun 77 Jahre später in einer Berliner Küche
die Bohnen erhitzt.

Wirkliches


Erinnernist nie


das Greifen


in eine Schublade,


sondern dieser


Prozess des


Nachdenkens.


Oft sehr


schmerzhaft.“


Lebenszeit auf Reserve


Jenny Erpenbeck schreibt und spricht so mitreißend darüber, wie sich Erinnerungen in Dingen sedimentieren und warum sie schlecht


etwas wegwerfen kann. Aber wie sieht das in ihrer Wohnung aus? Mal nachsehen bei der Schriftstellerin in Berlin


von alex rühle


„Archivar wär ein
Traumberuf. Im Sinne
von Kempowski.“

Die Dinge, oh die
alltäglichen Dinge:
oben eine der beiden
Ölflaschen, die
Jenny Erpenbecks
Großeltern bis nach
Russland und zurück
begleiteten. In der
Mitte die Röstmühle,
die sie damals im
Ural kauften.
Und unten ein Aus-
schnitt aus der Wand
mit Papiertüten aus
den letzten Monaten
der DDR, Ingwer,
Naturreis, Fernseh-
turm; Erpenbeck
sammelte damals alles
in dem Bewusstsein,
dass es bald
verschwinden würde.
FOTOS: STEFANIE PREUIN

Da steht ein Satz von


Karl Valentin: „Die Zukunft war


früher auch besser.“


18 FEUILLETON LITERATUR HF2 Samstag/Sonntag,7./8. September 2019, Nr. 207 DEFGH

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