Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1
FOTO: EVAN AGOSTINI/AP

Wenn jemand, der um seine Person ein
ganzes Imperium aufgebaut hat, seinen
Rückzug ankündigt, muss man sich erst
einmal fragen: Rückzug wovon? Nicki Mi-
naj, Rap-Superstar, aber auch Moderato-
rin einer Radiosendung namens „Queen
Radio“, Model für Marken wie Roberto Ca-
valli, Schauspielerin, Miteigentümerin
des Streamingdienstes Tidal, Lippen-
stift-, Lautsprecher-, Sneaker- und Par-
fümschöpferin, will nicht mehr. Das zu-
mindest twitterte sie am Donnerstag-
abend: „Ich habe beschlossen, in den Ru-
hestand zu gehen.“
Sie wolle eine Familie haben, schrieb
die 36-Jährige zur Begründung und liefer-
te damit dem Boulevard direkt weitere
Spekulationsmöglichkeiten über eine bal-
dige Hochzeit. Von welchen ihrer zahlrei-
chen Verdienstmöglichkeiten sich Nicki
Minaj nun tatsächlich zurückziehen will
und ob nicht bereits morgen ein „Rück-
zug vom Rückzug“-Tweet folgen könnte,
ist bisher noch unklar. Die Rapperin ist
nicht unbedingt bekannt für ein ausgegli-
chenes Temperament.
Dass die 1982 in Trinidad als Onika Ta-
nya Maraj geborene Multiverdienerin bei
ihrer Ankündigung tatsächlich ihr Haupt-
betätigungsfeld, die Musik, meint, ist
aber sehr wahrscheinlich. Von ihren Al-
ben „Pink Friday“, „Pink Friday: Roman
Reloaded“ und „Pinkprint“ (ja, sie hat ein
Faible für eine gewisse Farbe) mit Hits wie
„Anaconda“ und „Starships“ verkaufte
Minaj mehr als fünf Millionen Exempla-
re, sie war zehn Mal für den Grammy no-
miniert. Gleichzeitig war sie in den vergan-
genen Jahren in gefühlt jedem zweiten
Hit von Künstlern wie Madonna, David
Guetta oder Kanye West mit einem Rap-
Gastpart vertreten.

Kanye West hätte ihren Auftritt fast
wieder gestrichen, aus Gründen des
Selbstschutzes, wie es heißt: Minajs
stimmlich genial bipolar zwischen Engel
und Satan oszillierende Verse auf Kanye
Wests „Monster“ seien so gut gewesen,
dass sie den anderen vertretenen Rap-
pern – und natürlich ihm selbst – die
Show stehlen könnten, habe West befürch-
tet. Nicki Minaj habe ihn dann aber doch
davon überzeugt, dass der Part bleiben
könne, so ihre Erzählung. Er sei ja schließ-
lich immer noch Kanye West.
Ihr aktuelles Album „Queen“, erschie-
nen vor einem Jahr, schaffte es dann nicht

wie gewohnt an die Spitze der US-Charts,
was im Minaj-Universum der Superlative
schon mal als Totalversagen gelten kann.
Minaj verfluchte daraufhin öffentlich den
Erstplatzierten Travis Scott, der sich nach
ihrer Ansicht die Chartposition nur über
werbewirksame Posts seiner Verlobten
Kylie Jenner erschlichen habe. Außerdem
habe Spotify sie verraten, da der Musik-
streamingdienst in seinen Playlists statt
ihres Gesichts lieber den Rapper Drake ab-
gebildet habe. Kurz darauf verschob sie ih-
re Nordamerika-Tour mit dem Rapper Fu-
ture; sie wolle bei der Produktion noch
nachbessern und mehr proben, hieß es.
Der wahre Grund dürften aber schleppen-
de Ticketverkäufe gewesen sein, neue Ter-
mine für die Tour stehen bis heute aus.
Den jetzt angekündigten Rückzug
kann man dementsprechend für eine wei-
tere impulsive Geste einer Rapperin hal-
ten, die sich schon immer dramatisch in
Szene zu setzen wusste und eine kurze
Auszeit wegen des Schockeffekts zum vor-
zeitigen Karriereende aufgeblasen haben
könnte. Schließlich hatte sie erst im Juni
diesen Jahres bekannt gegeben, dass ihr
fünftes Studioalbum bereits in Arbeit sei.
Und auch Rap-Kollegen wie Jay-Z kündi-
gen gerne ihr Karriereende an, nur um we-
nige Jahre später wieder ein auferste-
hungsartiges Comeback zu inszenieren.
Vielleicht ist der Rückzug von Nicki Mi-
naj aber auch die vollkommen rationale
und – verglichen mit so manchem untot
über die Bühnen zuckenden Rockopa –
würdevolle Konsequenz einer gereiften
Künstlerin, die in ihrer Karriere bereits
mehrmals die maximale Flughöhe er-
reicht hat und nun lieber sicher landet, als
in endlosen Kapriolen Richtung Boden zu
taumeln. quentin lichtblau

V


or sechs Wochen standen einige Op-
positionspolitiker vor dem Amts-
sitz des Moskauer Bürgermeisters
und klopften an die Tür. Sie taten das aus
Protest, weil sie nicht zur Wahl für das
Stadtparlament zugelassen worden wa-
ren. Sechs Wochen und viele Protestmär-
sche später wird nun abgestimmt, in Mos-
kau und anderen Regionen. Die Oppositi-
on aber steht immer noch vor der Tür. Sie
findet keinen Weg hinein, sie klopft nicht
mal mehr richtig.
Die Wahl am Sonntag wird wieder eine
ohne wirkliche Alternativen. Dafür sorgt
ein abgekartetes Spiel, mit dem der
Kreml bestimmt, wie viel Konkurrenz er
zulässt. Er wählt Kandidaten aus, die ihm
nicht gefährlich werden können, weil sie
zum System gehören. Der Herausforde-
rer für den Gouverneursposten in Sankt
Petersburg etwa zog sich zurück, als sei-
ne Chancen zu groß wurden. Echte Kon-
kurrenten werden dagegen durch Regeln
und Tricksereien wie die der Moskauer
Wahlkommission ausgefiltert.
Zwar lassen sich immer weniger Wäh-
ler dadurch täuschen, das zeigen die Pro-
teste der letzten Wochen. Aber die Opposi-
tion ist ihrem Ziel, fairen Wahlen, kein
Stück näher gekommen. Stattdessen
streitet sie nun darüber, wie es weiterge-
hen soll. Manche empfehlen, am Sonntag
taktisch zu wählen. Sie wollen für Kandi-
daten stimmen, die Opposition zumin-
dest simulieren, egal für welche Politik
diese stehen. So glauben die Kremlkriti-
ker, der Regierungspartei einen Denkzet-
tel verpassen zu können. Eine politische
Strategie ist das nicht, und daher auch kei-
ne echte Alternative. silke bigalke


W


enn ein Modegigant wie H &M
sich auf einmal für den Amazo-
nas einsetzt, wirkt das zu-
nächst mal ziemlich scheinheilig. Es
geht ja nicht um den Schutz der Natur,
sondern vor allem um den der eigenen
Geschäfte. Die florieren, dank Fast Fa-
shion, immer neuen Kollektionen in im-
mer schnellerer Abfolge. Den Preis zah-
len Arbeiterinnen in Entwicklungslän-
dern – und die Umwelt.
Dennoch ist es richtig, dass der
schwedische Konzern nun zu Gunsten
des Amazonas kein Leder mehr aus Bra-
silien kaufen will. 80 Prozent der Ent-
waldung dort stehen in Zusammenhang
mit der Viehwirtschaft. Wo früher Ur-
waldriesen standen, grasen heute Rin-
der. Ihr Fleisch landet auf Tellern und in
Schüsseln von Shanghai bis Sigmarin-
gen, ihr Leder liegt in Form von Handta-
schen oder Herrenschuhen in Schau-
fenstern auf der ganzen Welt. Alleine vo-
riges Jahr exportierte Brasilien Tierhäu-
te im Wert von 1,4 Milliarden US-Dollar


  • ein gutes Geschäft, das Politikern in
    Brasília viel wichtiger ist als der Schutz
    von Indigenen oder der Umwelt.
    Mit Argumenten wie Biodiversität
    oder Klimaerwärmung stößt man bei ih-
    nen auf taube Ohren. Wenn es aber ums
    Geldverdienen geht – oder besser ge-
    sagt: um Gewinneinbußen wegen inter-
    nationalen Boykotts ihrer Waren –, kön-
    nen Bolsonaro und seine Minister nicht
    mehr weghören. Und so könnte ausge-
    rechnet die Kleidungsindustrie am En-
    de dazu beitragen, dass Umweltschutz
    auch in Brasilien ganz groß in Mode
    kommt. christoph gurk


von michael bauchmüller

S


elten hat sich eine Regierung selbst
so unter Druck gesetzt wie die gro-
ße Koalition mit ihren Plänen für
den 20. September. An jenem Freitag wer-
den im ganzen Land die Schüler demons-
trieren; zwei Tage später will die Kanzle-
rin dann nach New York aufbrechen, um
vor den Vereinten Nationen ein klima-
freundliches Deutschland zu präsentie-
ren. Der 20. September soll der Tag wer-
den, der Union und SPD aus der Defensi-
ve führt – mit einem Klimapaket, wie es
die Welt noch nicht gesehen hat.
Schon die Ernsthaftigkeit, mit der
CDU, CSU und SPD nun um Lösungen rin-
gen, ist eine Sensation – jedenfalls für ei-
ne Koalition, die gerade im Klimaschutz
so mutlos, so verzagt gestartet ist. Aber
die Parteien geraten damit an eine Weg-
scheide: Wollen sie echten Klimaschutz –
oder wollen sie ihn nur vortäuschen?
Alle beteuern natürlich, dass ersteres
der Fall ist. Echter Klimaschutz aber
kann nicht spurlos an den Bürgern vorbei-
gehen. Denn dann werden Regeln schär-
fer werden müssen, etwa für Gebäude. Es
werden Preise für fossile Energien so
sehr steigen müssen, dass man es an der
Tankstelle oder beim Heizölhändler
merkt. Es wird der Druck auf die Indus-
trie steigen müssen, fossile Technologie
wie den Verbrennungsmotor auszumus-
tern. Nichts davon wird gemütlich.
Mehr Erfahrung haben Union und SPD
darin, den Klimaschutz nur vorzutäu-
schen. Die entsprechenden Programme
der Vergangenheit füllen Aktenschränke
in den Ministerien. Da wird hier ein biss-
chen gefördert und dort ein bisschen –
und die Emissionen sinken kaum. Kein
Programm der Vergangenheit hat nur an-
nähernd gehalten, was es versprach.
Ein solches Täuschungsmanöver ist
auch jetzt wieder verlockend, denn die

Lage für die gebeutelten Volksparteien
ist verfahren. Das Klimapaket soll den
Zulauf für die Grünen stoppen, ohne aber
die AfD zu stärken. Klimaschutz also, der
nicht allzu unpopulär ist.
Das ist heikel, aber nicht unlösbar. Ei-
ne Revolution ist dafür nicht nötig, wohl
aber Klarheit und Wahrheit. Denn die Din-
ge müssen sich nicht gleich am 21. Sep-
tember ändern, sondern im Laufe der
nächsten Dekade. Es braucht Pfade, auf
denen Schritt für Schritt die Emissionen
sinken. Deshalb ist auch nicht entschei-
dend, wie hoch etwa der Preisaufschlag
auf Sprit und Heizstoffe anfangs ausfällt


  • sondern wie er im Laufe der Jahre
    steigt, und zwar verlässlich. Klimaschutz
    ist Ergebnis von Millionen kleinen Kon-
    sum- und Investitionsentscheidungen.
    Sollen diese Entscheidungen gegen fossi-
    le Energie und für die Alternativen fallen,
    muss der Kurs klar vorgegeben sein.


Nie war die Gelegenheit so günstig, so
einen Kurs einzuschlagen – und zu erklä-
ren. Denn das wird die andere große Auf-
gabe für Union und SPD: Sie müssen ih-
ren Wählern ehrlich sagen, welche Ein-
schnitte auf sie zukommen – und warum
eine Mobilität jenseits fossiler Energie,
eine Wärmeversorgung ohne Öl oder Gas
und eine nachhaltigere Landwirtschaft
dieses Land nicht nur zukunftsfester, son-
dern auch lebenswerter machen werden.
Die Demos der Schüler, aber auch die Kli-
masorgen vieler Bürger spielen der Koali-
tion in die Hände.
Lässt sie diese Chance aber aus, kann
sie die Arbeit einstellen. Auf weitere Ak-
tenordner folgenloser Klimakosmetik
kann das Land verzichten.

von nadia pantel

R


ennt eine Comicfigur durch die
Wand, bleibt danach ein entenför-
miges oder auch hundeförmiges
Loch zurück, je nachdem, ob es sich zum
Beispiel um Donald Duck oder Pluto han-
delt. Der Durchbruch setzt voraus, dass be-
sonders viel Energie und Wille gegeben
sind. Stellt man sich nun Frankreichs
einst erstarrtes Zweiparteiensystem als
Wand vor, dann kann man heute immer
noch die Stelle sehen, an der vor zwei Jah-
ren Emmanuel Macron durchbrach und
die politische Bühne eroberte. Nur, schaut
man heute durch das riesengroße Loch,
das Macron in die Wand geschlagen hat,
fragt man sich: Kommt da noch jemand
hinterher, seine Partei vielleicht?
Offiziell handelt es sich bei La Républi-
que en Marche (LREM) um eine Bewe-
gung. Sie wurde entwickelt von jungen, er-
folgreichen Parisern, für die das Wort Par-
tei nach verschnarchten Vorstandssitzun-
gen klingt. LREM hingegen hatte von An-
fang an ein klares Ziel, sie wollte Macron
zum Präsidenten machen. Die französi-
sche Verfassung sieht vor, dass ein Präsi-
dent sich von den Abgründen der Parteipo-
litik fernhält und quasi auf sich allein ge-
stellt über den Dingen schwebt. Dieses
Schweben beherrscht Macron wie kein an-
derer in Frankreich, vielleicht sogar in Eu-
ropa. Gerade erst hat er auf dem G-7-Gip-
fel in Biarritz gezeigt, dass er selbst bei
weltpolitischen Großkrisen die Gelassen-
heit eines Croupiers behält. Doch je prä-
senter Macron wird, desto diffuser wird
der Eindruck, den seine Partei hinterlässt.
Emmanuel Macron und LREM sind mit
dem Versprechen gestartet, Widersprü-
che zu vereinen. Herausgekommen ist ei-
ne unternehmerfreundliche Wirtschafts-
politik, kombiniert mit feministischen,
ökologischen und diversitätsfördernden
Kampagnen. Macron selbst verkörpert

diese Politik glaubwürdig: Er ist davon
überzeugt, dass er Frankreichs Wirtschaft
zum Aufschwung verhelfen wird; nationa-
listisches Identitätsgehabe liegt ihm fern.
Doch in eine Parteilinie lässt sich der Ma-
cronismus bislang nicht übersetzen.
In einem halben Jahr wird Frankreich
neue Bürgermeister wählen, bis dahin
muss die Partei für mehr stehen als
Macron-Begeisterung. Am Wochenende
werden sich Regierung, Abgeordnete und
Interessierte in Bordeaux zu einem „Cam-
pus“ treffen. Halb Parteitag, halb Sommer-
Uni. Wenn es für LREM gut läuft, haben
am Ende Ex-Republikaner, frühere Grüne
und heimatlose Sozialisten das Gefühl, ei-
ne neue Partei gefunden zu haben. Wenn
es schlecht läuft, dann häufen sich die Wi-
dersprüche so sehr, dass ein einigender
Sinn fehlt.

Bislang vertraut Macron darauf, dass
die rechtsextreme Marine Le Pen seine in-
nenpolitische Hauptkonkurrentin blei-
ben wird. Deren Radikalopposition gibt
seiner oszillierenden Politik Kontur. Doch
für jeden Wähler, der an demokratischen
Wettstreit glaubt, ist der Zweikampf Ma-
cron gegen Le Pen frustrierend. Er könnte
dazu führen, dass es bei der nächsten Prä-
sidentschaftswahl nur die Optionen „alles
kaputt schlagen“ (Le Pen) und „weiter so“
(Macron) gibt. Ein Mittel gegen dieses Ge-
fühl der Ohnmacht läge darin, Macrons po-
litische Identität zu schärfen. Für ihn
könnte das schmerzhaft werden; er müss-
te seine Strategie aufgeben, jeder Wähler-
gruppe gefallen zu wollen. Die Franzosen
jedoch würden gewinnen: Klarheit und,
mit Blick auf die politische Opposition,
auch Handlungsspielräume.

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MITGLIED DER CHEFREDAKTION, DIGITALES:
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AUSSENPOLITIK: Stefan Kornelius
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SEITE DREI: Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE: Bastian Obermayer,
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D


ie Münchner Fraunhoferstra-
ße ist ein ganz guter Mikro-
kosmos, mit dem man die ge-
genwärtige Verunsicherung
des deutschen Bürgertums
wie mit einem Wimmelbild von Ali Mit-
gutsch illustrieren kann, ohne die sozia-
len Zerrspiegel des wachsenden Rechts-
oder schwindenden Linksradikalismus zu
bemühen. Denn die sind beide nur eine
letzte Konsequenz jener Unsicherheit, die
man in diese Münchner Straße hinein-
interpretieren kann. Gerade weil sie an
einem Spätsommernachmittag genau je-
nes urbane Idyll vorspiegelt, das immer
stärker zum Sehnsuchtsort und gleichzei-
tig immer unerreichbarer geworden ist.
Es gibt solche Straßen in jeder westli-
chen Großstadt. Und es ist diese Mi-
schung aus Bürgerwohnungen, Hand-
werksbetrieben und Bohème-Kultur, die
viele Menschen wieder aus der belaubten
Ödnis der Vororte in die Innenstädte zieht.
Auch und gerade weil sich dort die Vorstel-
lung einer bürgerlichen Welt findet, deren
Wertekanon und Bildungsschatz im Wech-
selspiel mit dem Erneue-
rungsdrang und Gerech-
tigkeitssinn der Bohèmes
der Motor gesellschaft-
lichen Fortschritts in der
zweiten Hälfte des



  1. Jahrhunderts waren.
    Ein Wechselspiel, das
    nicht mehr funktioniert.
    Weil es auf dem Prinzip
    der Hoffnung und dem
    Glauben an eine bessere
    Zukunft beruhte, das im
    Wachstumsmodell des Ka-
    pitalismus steckt.
    Doch das Wachstums-
    modell hat sich längst ge-
    gen seine Anhänger ge-
    richtet. Zwischen dem Bör-
    senkapitalismus der USA
    und dem Erbenreichtum
    in Europa zerrinnen dem
    Bürgertum und der Bohè-
    me zunehmend die Grund-
    lagen des Wohlstands, auf
    denen sie existierten. Und
    auch die progressive Bewe-
    gung kämpft nicht mehr für eine bessere
    Zukunft, sondern für eine Rettung der
    Gegenwart – gegen Klimakrise, Populis-
    mus und die wachsende Ungleichheit.
    Es ist genau diese Lücke, in welche
    Populisten der AfD nun mit ihrem An-
    spruch stoßen, die Stimme der Bürgerli-
    chen zu sein. Da spaziert man zwischen
    den Reihen der Gründerzeithäuser, die in
    München nicht ganz so stattlich sind wie
    in Hamburg oder Frankfurt, die hier aber
    seltener von jenen freudlosen Zweckbau-
    ten unterbrochen sind, mit denen man
    nach dem Zweiten Weltkrieg die Schnei-
    sen schloss, welche die alliierten Bomber-
    staffeln geschlagen hatten. Man findet
    hier Handwerkerläden, Cafés und Buchlä-
    den, Antiquitätengeschäfte und Barbiere.
    Ein Gefühl urbaner Wohligkeit und Boden-
    ständigkeit herrscht vor. Zumindest ver-
    meintlich. Denn die Betreiber lassen sich
    den technischen Rückschritt von der Ferti-
    gungsstraße zur Nähmaschine, vom Elek-
    trorasierer zur Klinge teuer bezahlen.
    Und sicher findet man in solchen Vier-
    teln kleine Architektur- und Designbüros,
    Agenturen und Galerien. Doch die Freiräu-
    me der Kreativität, die im späten 20. Jahr-
    hundert noch Aufbruch bedeuteten, funk-
    tionieren heute nur noch als Dienstleister
    fürs Höchstpreissegment oder als Sprung-
    brett in die Verteilungskämpfe einer In-


dustrie, die sich Kreative und Akademiker
als intellektuelle Schoßhündchen hält,
weil es einen guten Eindruck macht, über
die Ethik der künstlichen Intelligenz zu de-
battieren, während man mit neuen Tech-
nologien gerade die weitreichendste Auto-
matisierungswelle seit dem mittleren


  1. Jahrhundert vorbereitet. Oder weil ein
    Designerholzhaus nachhaltiges Privatle-
    ben vermittelt, auch wenn die Führungs-
    position ganz andere Werte erzwingt.
    Lässt man sich das Viertel von jeman-
    dem zeigen, der es seit Jahrzehnten
    kennt, wird einem die Kulissenhaftigkeit
    dieser Bürgerwelt deutlich. Die Dachwoh-
    nung mit den Atelierfenstern gehört ei-
    nem Spieler des FC Bayern, die Mansarde
    mit Balkon ein paar Häuser weiter dem
    Vorstandschef eines internationalen Kon-
    zerns, und über allem ragt der Turm des
    „Seven“, eines umgenutzten Heizkraft-
    werks, in dem vor acht Jahren die damals
    teuersten Wohnungen der Stadt verkauft
    wurden.
    Jeder berufliche Standortwechsel, je-
    der Wunsch nach mehr Platz für die Fami-
    lie macht den Angehöri-
    gen des Bürgertums hier
    auf dem überhitzten Im-
    mobilienmarkt deutlich,
    wie dünn der Firnis ihres
    Daseins geworden ist.
    „Zombie Urbanismus“
    nennt der norwegische Ar-
    chitekturprofessor Jonny
    Aspen solche Stadtviertel,
    die Bürgerlichkeit simulie-
    ren, aber letztlich nur die
    wachsenden Wohlstands-
    scheren manifestieren.
    Der Menschheit geht es
    dabei gar nicht schlech-
    ter. Es ist unter Intellektu-
    ellen seit einiger Zeit Mo-
    de, mit Statistiken histori-
    sche Bögen zu schlagen,
    die zeigen, dass der Fort-
    schritt keineswegs ge-
    bremst, sondern lediglich
    die Weltsicht der Men-
    schen durch pessimisti-
    sche Medien getrübt sei.
    Es stimmt auch, dass die
    Gewalt in den vergangenen Jahrhunder-
    ten stetig abgenommen hat, wie der Psy-
    chologe und Evolutionsforscher Steven
    Pinker schreibt, ebenso die Säuglings-
    sterblichkeit und Armut, wie der Medizi-
    ner Hans Rosling zu Lebzeiten nachwies.
    All dies sind die Voraussetzungen für ein
    neues Konsumbürgertum, das sich in Asi-
    en, dem arabischen Raum und selbst in
    Afrika etabliert. Der ehemalige Rockstar
    David Byrne startete vergangene Woche
    sogar ein Online-Magazin mit dem Titel
    „Reasons to be Cheerful“ – Gründe, um
    fröhlich zu sein.
    Doch was nutzen exotische Erfolgsge-
    schichten und historische Horizonte,
    wenn das schleichende Gefühl, dass die
    bürgerlichen Werte und Grundlagen in Be-
    drängnis sind, immer stärker wird. Umso
    leichter ist es da für die Populisten der
    AfD, in diesem Vakuum eine Bürgerlich-
    keit für sich zu beanspruchen, auch wenn
    sie in Wahrheit aggressiv gegen die huma-
    nistischen Werte, die Weltoffenheit und
    den Fortschrittswillen dieses Bürgertums
    arbeiten. Eine Zombie-Bourgeoisie rührt
    sich da, die unter einem Deckmäntelchen
    aus feinem Zwirn und oberschulischer Bil-
    dung die fratzenhafte Antipodin des allzu
    freien Marktes bildet. Mit all ihrem Hass,
    ihrem Zerstörungswillen und ihrem Rück-
    zug aus der humanistischen Moderne.


Ein britischer Lord ist zu-
nächst einmal ein Adliger. Er
ist nicht zu verwechseln mit
dem Laird, einem Landbesit-
zer in Schottland, der zwar
zum niederen Landadel zählt, allerdings
nicht vom Rang eines Lords ist. Lords sit-
zen auch im House of Lords, dem Ober-
haus des britischen Parlaments. Aller-
dings sind längst nicht mehr alle Mitglie-
der dort erbliche Lords. Das Oberhaus ist
ein Anachronismus aus der Feudalzeit,
als die angelsächsischen Könige das Gre-
mium konsultierten. Es setzt sich zusam-
men aus geistlichen Lords und weltlichen
Lords. Der Titel eines weltlichen Lords
kann mittlerweile auf Vorschlag des Pre-
mierministers ad personam zuerkannt
werden, auf Lebenszeit. Viele sind ehema-
lige Minister oder Spitzenbeamte. Sie
bringen für die Aufgaben des Oberhauses
eine gewisse Expertise mit, die vorwie-
gend darin besteht, die vom Unterhaus
beschlossenen Gesetze zu überprüfen
und gegebenenfalls Änderungen zu emp-
fehlen. Gesetze stoppen kann das House
of Lords nicht. Am Freitag billigte es das
Gesetz gegen einen ungeregelten EU-Aus-
tritt, das Premier Boris Johnson so sehr
ärgert. Momentan umfasst die Kammer
775 Mitglieder. Mehrmals wurde ver-
sucht, das House of Lords zu schrump-
fen. Allerdings erwies sich der Versuch
als ebenso aussichtslos, wie die britische
Monarchie zu reformieren. areu

4 MEINUNG HF2 Samstag/Sonntag, 7./8. September 2019, Nr. 207 DEFGH


RUSSLAND

Ausgesperrt


BRASILIEN

Protestkäufer


GROSSE KOALITION

An der Wegscheide


Aufweitere Aktenordner
folgenloser Klimakosmetik
kann das Land verzichten

FRANKREICH

Gefahren des Macronismus


sz-zeichnung: luismurschetz

GESELLSCHAFT


Zombie-Bourgeoisie


von andrian kreye


AKTUELLES LEXIKON


Houseof Lords


PROFIL


Nicki


Minaj


Rap-Superstar,
womöglich bald
Frührentnerin

Die Partei des Präsidenten
muss ihr Profil schärfen –
zum Wohle der Demokratie

Die bürgerlichen
Grundlagen und
Werte sind in
Bedrängnis geraten.
Den Populisten
der AfD fällt es
leicht, in diesem
Vakuum eine
Bürgerlichkeit
für sich zu
beanspruchen
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