Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1
von jan stremmel

W


asser zu Wein, Blinde hei-
len, alles schön und gut.
Aber warum redet keiner
über das größte Wunder Je-
su: in seinen Dreißigern
noch zwölf enge Freunde gehabt zu haben?
Dieser Witz kursiert seit ein paar Mona-
ten in verschiedenen Versionen im Netz.
Er wird auch deshalb mit solcher Inbrunst
geteilt, kommentiert und verschickt, weil
er bei der angesprochenen Alterskohorte
einen empfindlichen Punkt trifft. Die Älte-
ren der sogenannten Millennials, zu denen
auch der Autor dieses Textes zählt, waren
schließlich die erste Generation mit vier-
stelligen Freundeszahlen, erst bei My-
space, dann auf Facebook. Jetzt, da wir Mit-
te dreißig sind, merken wir, wenn der Lap-
top zu ist: Oha. Wo sind denn alle hin? Gera-
de gab’s noch ständig Party und jedes Wo-
chenende drei neue Bekanntschaften –
und plötzlich ist man froh, wenn man ein-
mal im Sommer die besten Freunde auf
mehr als zwei Bier trifft.
Das Thema Freundschaft genießt gera-
de große Aufmerksamkeit. Sie ist schließ-
lich der Gegenentwurf zur Einsamkeit, ei-
nem der größten Probleme moderner Ge-
sellschaften. Vor allem Alte, aber auch Jun-
ge fühlen sich zunehmend alleine. Spätes-
tens als Großbritannien Anfang 2018 ein
„Ministerium für Einsamkeit“ ins Leben
rief, hörten alle hin.


Gleichzeitig bringt die Forschung faszi-
nierende Erkenntnisse über den positiven
Effekt von Freundschaften hervor: Sie
sind nicht nur hilfreich, sondern sogar
notwendig für ein gesundes Leben. Die so-
genanntenBlue Zones,also die Gegenden
mit den meisten Hundertjährigen, verbin-
det vor allem eines: Überall gibt es enge Ge-
meinschaft bis ins hohe Alter – und zwar
nicht nur innerhalb der Familie.
Und obwohl wir lernen, dass Einsam-
keit so schädlich sein soll wie 15 Zigaretten
am Tag, lässt sich bei jungen Menschen
eine interessante Tendenz beobachten:
die Rückbesinnung auf eine Art Kernfreun-
deskreis. Auf die ältesten, vermeintlich
wichtigsten Kontakte. Das zugehörige
Schlagwort taucht gerade überall als Hash-
tag auf: „No new friends“, keine neuen
Freunde. So steht es, wie als Warnhinweis,
unter fröhlichen Gruppenfotos von ehema-
ligen Schulfreundinnen oder alten
Bolzplatzcliquen. Keine neuen Freunde:
ein seltsam aggressiver Claim, der bislang
unter immerhin 1,5 Millionen Bilder allein
auf Instagram geschrieben wurde. Denn
was wäre schlecht an neuen Freunden?
Woher die Sache kommt, ist schnell er-
klärt: aus einem Song des kanadischen
Rappers Drake. Der wendete sich 2013 ge-
gen alle Schmarotzer und Schönwetter-
freunde: „I still ride with my day one nig-
gas, I don’t really need no new friends“.
Das Zitat wurde in diesem Frühjahr aufge-
griffen, in einem Hit der Pop-Supergroup
LSD. Und das klang dann schon weniger
nach dem Luxusproblem eines Multimilli-
onärs – Hilfe, zu viele Freunde, Aufnahme-
stopp! –, sondern eher nach Verunsiche-
rung und Rückbesinnung auf die gute alte
Zeit: „I got all I need in a world of doubt (...)
we got all we need, no new friends now“.
Das scheint die Botschaft zu sein, die
bei vielen Leuten im Sommer 2019 etwas
angestoßen hat. Alles, was wir brauchen in
dieser unsicheren Welt, sind die Leute von
früher. Vielleicht ist das auch ein spezielles
Bedürfnis einer Generation mit vielen digi-
talen Pseudofreunden. Kein Wunder, dass
das Foto-Netzwerk Instagram im vergan-
genen Winter eine neue Funktion namens
„Close Friends“ eingeführt hat.
Abgesehen davon, dass alte Freunde
natürlich eine der wunderbarsten Erfin-
dungen des Lebens sind, ist die Ablehnung
neuer Bekanntschaften allerdings eine
ziemlich schlechte Idee.
Denn es werden von ganz allein weni-
ger, das belegte eine finnisch-britische Stu-
die 2007 ziemlich eindrucksvoll. Unter der
Leitung des Oxford-Psychologen Robin
Dunbar, der als Koryphäe der Erforschung
menschlicher Netzwerke gilt, untersuch-
ten die Wissenschaftler die Telefondaten
von drei Millionen Europäern. Sie wollten
wissen: Wie viele Freundschaften pflegen
Männer und Frauen über den Zeitraum ih-
res Lebens? Der Höhepunkt liegt demnach
beim Alter von 25 Jahren. Männer haben
dann im Schnitt Telefonkontakt zu 19 Per-
sonen, Frauen zu 17,5, und die Zahl dieser
Kontakte hängt eng mit der Zahl der tat-
sächlich getroffenen Freunde zusammen.
Die Forscher nennen das die Phase der „so-
zialen Promiskuität“, man könnte auch sa-
gen: die Jahre des unkomplizierten An-
freundens. Der spontanen WG-Partys. Des


„Gib mal deine Nummer, ich mag dich!“.
Danach folgt ein wahrer Massenschwund.
Biologen überrascht das nicht, es ist ein
Prozess, den man auch bei vielen Tieren be-
obachten kann: der Übergang von der Ent-
wicklungsphase eines Lebewesens hin zur
reproduktiven Phase. Bei Menschen heißt
das: Feste Paare bilden sich, Wohnungen
werden zusammengelegt, Nachwuchs
kommt zur Welt. Die ersten eigenen Kin-
der sind der größte Freundschaftskiller
überhaupt. In dieser Phase, etwa zwischen
30 und 45, wechseln die Menschen ihre In-
vestmentstrategie (die Forscher nennen
das wirklich so). Plötzlich steht viel weni-
ger von der Ressource zur Verfügung, die
für Freundschaften am allerwichtigsten
ist: Zeit. Statt wie früher mit der Gießkan-
ne pflegen wir unsere Netzwerke jetzt sozu-
sagen mit der Pipette. Statt zu 19 Men-
schen hält der durchschnittliche Mann mit
39 zu gerade noch zwölf Menschen Kon-
takt. Die eigene Familie ist da schon inbe-
griffen. Laut einer norwegischen Studie
von 2018 sind 40-jährige Männer heute ge-
nauso häufig einsam wie 80-Jährige.

Allerdings ist dieser Freundesexodus
kein Grund, keine neuen Freunde mehr
aufzunehmen. Denn auch wenn die Fami-
liengründer nun mehr mit sich beschäftigt
sind – neue Freundschaften sind wichtig.
Der Sozialwissenschaftler spricht von
„tend and befriend“, also in etwa: sich küm-
mern und anfreunden. Der Kumpel, mit
dem man als Student monatelange Ruck-
sackreisen unternommen hat, fällt mögli-
cherweise weg – dafür findet man beim El-
ternabend neue Freunde, die auch mal ein-
springen, wenn ein Kind krank wird.
Allerdings: Die Zahl der Menschen, mit
denen wir gleichzeitig Beziehungen füh-
ren können, hat eine Obergrenze. Sie heißt
„Dunbar’s number“, nach Robin Dunbar,
und liegt bei 150. So viele Individuen um-
fasste, mehr oder weniger, eine Gruppe
von Jägern und Sammlern. Mehr geht
auch heute nicht, selbst wenn die Freun-
desliste bei Facebook 1400 Namen um-
fasst. Entscheidend ist die Größe des
menschlichen Gehirns.
Nun sind wir aber keine Jäger und
Sammler mehr. Wir leben in Städten, zie-
hen durchschnittlich fast fünfmal im Le-
ben um, wechseln auch mit 50 noch den
Partner, und unsere Lebenserwartung hat

sich im Vergleich zur Steinzeit locker ver-
doppelt. Die reproduktive Phase, nach der
bei Tieren nur noch der Tod kommt,
macht beim Menschen lediglich einen
Bruchteil des Lebens aus. Wir sollten also
umdenken, wenn wir nach dem Auszug
der Kinder nicht allein dastehen wollen.
Freundschaften schließen und pflegen
ist wie ein Muskel, bei mangelnder Bewe-
gung erschlafft er. Man kann ihn aber
auch trainieren. Wer sich früh angewöhnt,
neue Menschen in sein Leben zu lassen,
dem fällt es auch später nicht schwer, nach
Trennungen oder Todesfällen sein Netz-
werk anzupassen. Denn ob man Freunde
findet oder nicht, ist keine Frage des Zu-
falls. Tatsächlich zeigt eine kanadische
Langzeitstudie, dass allein der Glaube,
Freundschaften entstünden automatisch,
mit einem deutlich erhöhten Risiko korre-
liert, fünf Jahre später einsam zu sein. Um-
gekehrt ist schon die Erkenntnis, dass
Freundschaft Mühe kostet, ein Faktor für
weniger Einsamkeit.
Höchste Zeit, das Freundefinden zu se-
hen wie eine Rentenversicherung: Wer
früh genug damit anfängt, hat am Ende ge-
nug. Konkrete Empfehlungen dafür bie-
tet die Psychologie jede Menge. Erstens:
Geh hin! Setz dich neuen Menschen aus,
ob in der Crossfit-Gruppe oder im Aqua-
rellkurs. Allein die regelmäßige Anwesen-
heit in einer Gemeinschaft lässt uns auf
diese Menschen sympathisch wirken.
Zweitens: Tritt in Kontakt! Als wie freund-
lich man eine Gruppe wahrnimmt, hängt
entscheidend davon ab, ob man inter-
agiert. Und ein kleiner Plausch ist oft
schon genug, um den Grundstock zu le-
gen. Studien zeigen nämlich, dass Men-
schen systematisch unterschätzen, wie
sehr ein Gesprächspartner eine Unterhal-
tung genossen hat, wir werden also mehr
gemocht, als wir glauben. Diese Lücke, das
sogenannteliking gap, sollten wir im
Hinterkopf behalten, wenn wir das nächs-
te Mal aus Schüchternheit schweigend
rumstehen.
Natürlich: Bequemer wäre es, wenn
Freundschaften auch jenseits der 25 Jahre
noch so organisch entstünden wie in Kind-
heit und Jugend. Aber je früher wir akzep-
tieren, dass unsere künftige beste Freun-
din nicht mehr nach den Ferien zufällig ne-
ben uns in der Schulbank sitzt, desto bes-
ser. Wer auch im Alter noch gut leben will,
sollte jetzt anfangen, die Leute dafür zu ku-
ratieren. Dass trotzdem welche wegfallen,
ist nicht weiter schlimm, ein bisschen
Schwund ist immer. Nicht mal Jesus blie-
ben alle zwölf Freunde treu.

Unter uns


Keine neuen Freunde, bitte! Diese Parole klingt in manchen Lebensphasen verlockend.


Dabei sollte man niemals aufhören, sich auf andere Menschen einzulassen


Als Phyllis Omidos Sohn schwer
erkrankte, deckte sie einen
Umweltskandal auf  Seite 55

DEFGH Nr. 207, Samstag/Sonntag, 7./8. September 2019 53


GESELLSCHAFT


FOTO: GOLDMAN ENVIRONMENTAL PRIZE


„Wie ein schrumpelnder Pfirsich“:
Ildikó von Kürthy über den
Verlust der Jugend  Seite 60

Freundschaften schließen ist wie
eine Rentenversicherung: Wer
früh loslegt, hat am Ende genug

Mutterliebe


Die meisten Freunde hat man


imAlter von 25. Kurz darauf


setzt ein Massenschwund ein


Der erste Schritt
zuweniger
Einsamkeit:
akzeptieren,
dass
Beziehungen
Arbeit machen.
ILLUSTRATION:
STEFANIE WUNDERLICH

Frauenbilder


© akg-images

Zwischen


Stunde Null und


Wirtschaftswunder


zieht ein


altes Verbrechen


neue Kreise.


Ein Krimi um


verschwundene Raubkunst.


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