Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1
von kathrin werner

P


hyllis Omido hat sich schick ge-
macht, sich und ihren zweijähri-
gen Sohn King. Der Kleine trägt
sein knallrotes Lieblings-T-
Shirt, sie ein violettes Business-
Kostüm, das sie von einer Nachbarin gelie-
hen hat. Es ist ihr erster Tag in ihrem neuen
Job und alles soll perfekt sein. Schließlich
klingt dieser Job wie ein Glücksgriff. Die Be-
zahlung ist gut – und noch viel wichtiger:
Sie darf King mit zur Arbeit bringen.
Omido und ihr Sohn fahren vorbei an
Lehmhütten mit Wellblechdächern. Kleine
Kinder rennen barfuß umher. Menschen
sitzen auf Plastikstühlen beieinander. Die
Metallverarbeitungsfabrik, Omidos neuer
Arbeitgeber, liegt mitten in einem Armen-
vorort der kenianischen Stadt Mombasa.
Heute, zehn Jahre nach ihrem ersten Ar-
beitstag, kennt Omido jeden Winkel in die-
sem Viertel, erzählt sie am Telefon und ver-
schickt Fotos von Hütten und Menschen
per Whatsapp. Damals 2009, öffnen sich
die Tore zum ersten Mal für Omido und ihr
Kind in ihren schicken Klamotten für den
ersten Arbeitstag.
Dahinter liegt eine große, moderne Fa-
brik, alles wirkt sauber und unbenutzt.
King findet sofort einen Spielkameraden,
Karisa, den Wachmann. Ja, da hängt dieser
faulige Geruch in der Luft. Als die ersten
Lieferungen zur Fabrik kommen, stinkt es
noch mehr. Omido schaut in die großen
Container hinein und findet darin schmut-
zige, alte Autobatterien. Erst jetzt versteht
sie, dass die Fabrik, die Metallraffinerie
heißt, kein Metall raffiniert, sondern Auto-
batterien ausschlachtet, um das darin ent-
haltene Blei weiterzuverkaufen. Aber Omi-
do, ihr Sohn und Karisa bewundern zusam-
men, wie die großen Lastwagen und Gabel-
stapler über den Hof rollen. Omido ist zu-
frieden. Ja, dieser Job ist ein Glücksgriff.
Es dauert nur wenige Wochen, dann
liegt King im Krankenhaus und niemand
weiß, was ihm fehlt. Fieberschübe. Erbre-
chen. Husten. Trockene, graue Stellen auf
der Haut. Kein Antibiotikum hilft. Es geht
ihm immer schlechter. Auch Karisa, der
Wachmann, wird plötzlich krank. Wenig
später stirbt er. Omido ist verzweifelt. Wie
kann sie ihrem Kind helfen? Es dauert eine
Weile, aber dann findet sie heraus, dass es
die Fabrik war, die ihr Kind krank gemacht
und Karisa umgebracht hat. Ihr vermeintli-
cher Glücksjob. „Am Anfang habe ich mich
schuldig gefühlt. Ich habe mich gefühlt, als
hätte ich mein Kind nicht beschützt“, sagt
sie. „Ich war wütend auf mich selbst. Und
wütend auf meinen Boss. Es hätte mich
doch jemand warnen müssen.“


Bis zu diesem neuen Job im Jahr 2009 in-
teressierte sich Phyllis Omido nicht beson-
ders für Politik und Umweltschutz. Sie war
eine ganz normale Frau mit einem ganz
normalen Leben: Ein guter Job mit Dienst-
wagen, eine Zweizimmerwohnung, ein
Kind, Essengehen mit Freunden und so
weiter. Doch dann steckte sie mitten in ei-
nem Umweltskandal. Die Rücksichtslosig-
keit und die Ungerechtigkeit machten sie
sehr wütend und änderten alles.
Aus Omido wurde Afrikas bekannteste
Umweltaktivistin, Trägerin des Goldman-
Preises, eine Art Umwelt-Nobelpreis. „Afri-
kas Erin Brockovich“ wird die 41-Jährige
auch genannt. Omido mag den Vergleich,
schließlich hat sie viel mit der amerikani-
schen Umweltaktivistin gemeinsam, deren
Leben in Hollywood verfilmt wurde: Beide
sind alleinerziehende Mütter, beide haben
eher durch Zufall von einer Umweltsünde
erfahren. Beide haben es mit einem großen


Gegner aufgenommen, sich nicht abwim-
meln lassen – trotz aller Einschüchterungs-
versuche. Fünf Mal wurde Omido verhaf-
tet, verurteilt aber wurde sie nie. Über ih-
ren Kampf hat sie ein Buch geschrieben, es
heißt „Mit der Wut einer Mutter“ und er-
scheint nun auf Deutsch im Europa Verlag.
Die Fabrik, in der Omido anfing zu arbei-
ten und die ihren Sohn krank gemacht hat-
te, war von zwei indischen Geschäftsleuten
eröffnet worden. Sie waren willkommen in
Kenia, schließlich hatte die Regierung ex-
tra ein Förderprogramm aufgelegt, um aus-
ländische Investoren ins Land zu locken.
Omido war dafür zuständig, den Männern
mit der kenianischen Bürokratie und Be-
hördengängen zu helfen und kümmerte
sich um die Buchhaltung. Sie hatte Be-
triebswirtschaft studiert und schon Erfah-
rung mit ausländischen Investoren, der
Job in der Fabrik passte perfekt zu ihr.

Auch die Menschen in dem Slum vor Mom-
basa, deren Häuser direkt an die Fabrikto-
re angrenzten, empfingen die Inder mit of-
fenen Armen. Die Männer fanden eine Ar-
beit in der Fabrik – und Arbeit war selten.
Die Bezahlung war nicht schlecht. An den
Fabrikmauern hing die Betriebsgenehmi-
gung der örtlichen Regierung, Omido hatte
sie selbst dort angebracht. Niemand dach-
te daran, dass die Anlage Krankheit statt
Wohlstand bringen könnte.
King, Omidos kleiner Sohn, war das ers-
te Opfer. Doch bald schon wurden mehr
Kinder krank. Keiner verstand, was sie hat-
ten. Woher kam nur dieses Fieber? Wenn
es regnete, rosteten die Wellblechdächer
durch wegen des sauren Regens, der beim
Recycling der Batterien entstand. Gestank
hing über dem Viertel und verschwand nie.
Nachts kam Ruß aus den Fabrikschloten,
die Luft in den Hütten wurde zu dick zum
atmen. Wenn das Vieh aus den Pfützen
trank, verendete es auf der Stelle. Die Män-
ner husteten. Karisa, der Wachmann, war
der erste Tote. Und nicht der letzte. Eine
Frau nach der anderen hatte Fehlgeburten.
Bis heute, sagt Omido, sind fast 300 Men-
schen an der Umweltverschmutzung der
Fabrik gestorben.
Omido war es, die herausfand, dass die
Krankheiten mit der Fabrik zu tun hatten.
Im Krankenhaus konnte niemand ihr oder
ihrem Sohn helfen. Dann gab ihr ein Um-
weltexperte einen Tipp: Könnte es viel-
leicht sein, dass King eine Bleivergiftung
hatte? Keiner der Ärzte wollte ihr glauben.
Keiner konnte überhaupt untersuchen, ob
King zu hohe Bleiwerte im Blut hatte. Sol-
che Tests waren in keinem Krankenhaus
des Landes möglich. Also bestach sie eine
Krankenschwester, ihrem halb ohnmächti-
gen Kleinkind Blut abzunehmen, schmug-
gelte das Röhrchen aus dem Krankenhaus
und schickte es auf eigene Kosten nach
Südafrika ins Labor. Als das Ergebnis eine
Woche später zurückkam, war es eindeu-
tig: 35 Mal so hoch wie der Richtwert der
Weltgesundheitsorganisation. Die Metall-
fabrik hatte King vergiftet. Es ging um sein
Leben. Ein Gegengift gab es nicht, aber die
Hoffnung, dass die richtigen Medikamen-
ten über Jahre hinweg dafür sorgen, dass
es ihm immer besser gehen wird.
„Als mein Sohn aus dem Krankenhaus
kam, bin ich sofort zur Fabrik gefahren
und habe meine Kündigung eingereicht“,
erzählt Omido. Statt ihnen mit Behördenge-
nehmigungen zu helfen, redete sie erfolg-
los auf die Chefs der Metallraffinerie ein
und zog im Armenviertel vor den Fabrik-
mauern von Hütte zu Hütte. Sie erzählte
den Menschen von Kings Diagnose, fragte
die Mütter: Hat Ihr Junge diesen Hautaus-
schlag schon lange? Hatte Ihr Sohn in letz-

ter Zeit manchmal Fieber? Die meisten
Menschen waren skeptisch: „Politiker und
die Firma haben den Leuten ja gesagt, dass
da gute Jobs für sie entstehen“. Doch je
mehr Krankheit und Zerstörung sie sahen,
desto eher ließen sich die Frauen überzeu-
gen. Die Männer glaubten noch länger an
die heilsbringende Metallraffinerie. Erst,
als viele von ihnen die Folgen am eigenen
Leib zu spüren bekamen, verloren sie den
Glauben daran. „Sehr viele von ihnen litten
unter Erektionsstörungen“, sagt Omido.
Omidos Kampagne war damals schon in
vollem Gange. Sie hatte ihre Methoden ver-
schärft. Sie ließ das Blut von mehreren Kin-

dern untersuchen, gab dafür ihr Erspartes
aus, schrieb Briefe an Lokalpolitiker. „Am
Anfang war ich sehr naiv. Ich dachte, dass
die Regierung mich und die Menschen be-
schützen würde.“ Es dauerte eine Weile, bis
sie verstand, dass sie sich irrte. Ihre Briefe
lösten meist gar keine Reaktion aus – und
wenn doch, dann drängten Politiker sie,
endlich Ruhe zu geben.
Erste Erfolge erlebten die Aktivistin und
ihre inzwischen Hunderte Unterstützer
aus dem Armenviertel erst, als die Medien
ihre Geschichte aufgriffen. Gemeinsam
hatten sie den Highway lahmgelegt, der am
Viertel vorbeiführte, und so in der Rush-

hour am Montagmorgen ein gigantisches
Verkehrschaos in Mombasa ausgelöst –
das erregte Aufmerksamkeit. Um ernst ge-
nommen zu werden, gründete Omido eine
Organisation, die sie „Center for Justice,
Governance and Environmental Action“
nannte. Das klang so schön offiziell, fand
sie. Tatsächlich ließ die Umweltbehörde
die Fabrik mehrfach schließen – und eröff-
nete sie wenige Tage später wieder. Nie-
mand erfuhr, warum. Omido ist sich si-
cher: „Eine Menge Geld hat die Hände ge-
wechselt. Politiker haben die Fabrik be-
schützt. Menschen sind gestorben wegen
Korruption.“

Auch Omido selbst bangte um ihr Le-
ben. Mehrfach wurde sie bedroht. Männer
lauerten Mutter und Sohn vor der Woh-
nung auf, schlugen Omido mit dem Lauf ei-
ner Pistole, King schrie wie am Spieß. Ein-
mal bedrängten sie die Bodyguards eines
Lokalpolitikers, Omido sprang auf ein Mo-
torrad und raste davon. Sie bekam mysteri-
öse Anrufe, man drohte, ihr Kind sei in Ge-
fahr. Sie schaffte sich scharfe Hunde an
und hatte trotzdem immer Angst. „Eine lan-
ge Zeit konnte ich nicht in meinem Bett
schlafen, sondern habe mich darunter ge-
legt, weil ich dachte, dass sie mich sonst im
Schlaf erschießen.“ Sie wurde immer dün-
ner, bekam Magengeschwüre, zog weg in
eine Kleinstadt, in eine Wohnung hinter di-
cken Toren und drei Sicherheitsschlös-
sern, selbst ihre Familie wusste nicht, wo
sie lebte. Doch Unterstützung bekam sie
von der ohnehin nicht. Die Verwandten ver-
standen nicht, wieso Omido ihr Leben und
das ihres Sohnes für die Gesundheit völlig
Fremder riskierte. Sahen sie Omido im
Fernsehen, schämten sie sich. Kam King zu
Besuch, verunsicherten sie den Kleinen.
„Einmal hat er mich gefragt: Mommy, bist
du ein schlechter Mensch?“, sagt Omido.
Fragt man sie, warum sie all die Jahre
trotzdem gekämpft hat, überlegt Omido
kurz. Dann sagt sie: „Das liegt vermutlich
an meinem Gerechtigkeitssinn, den habe
ich seit meiner Kindheit.“ Schon als kleines
Mädchen übernimmt sie Verantwortung
für das Schicksal ihrer Familie. Ihr Vater ist
Alkoholiker und Schläger, sie ist die Einzi-
ge, die sich ihm entgegenstellt. „Ich bin mit
dem Gefühl aufgewachsen, dass ich meine
Mutter und meine Schwester vor ihm be-
schützen muss.“ Bereits damals hat sie ih-
ren Ruf weg: die, die nie locker lässt.

Ihre Hartnäckigkeit hat sich ausgezahlt.
Zumindest ein Ziel hat Omido schon er-
reicht: Seit fünf Jahren ist die Fabrik ge-
schlossen. Es gab keine Ankündigung, ir-
gendwann kam einfach kein Ruß mehr aus
den Schloten. Wegen der Proteste und ei-
nes Ausfuhrverbots für Altmetall habe sie
sich schlicht nicht mehr rentiert, glaubt
Omido. „Aber niemand hat sich je entschul-
digt.“ Gegen die Betreiber der Fabrik und
die Regierung hat sie im Namen der Opfer
eine Sammelklage eingereicht. Sie hofft,
dass es vor Gericht so etwas wie Gerechtig-
keit geben wird. Und dass die Menschen
Hilfe erhalten, die noch heute das Wasser
aus dem Fluss trinken, in das einst die Ab-
wässer der Fabrik sickerten. „Die Bleiwerte
waren unglaublich hoch, selbst die Regie-
rungsbeamten, die Bluttests an den Men-
schen durchgeführt haben, waren scho-
ckiert“, erzählt Omido. Einer der Mitarbei-
ter sei sogar in Frühpension gegangen, da-
mit er vor Gericht für die Opfer statt für die
Regierung habe aussagen können. Im
März will die Richterin am Gerichtshof in
Mombasa ihr Urteil sprechen.
Doch egal wie das Urteil auch ausfallen
wird: King, inzwischen 13 Jahre alt, ist stolz
auf seine Mutter. Und: Er hat kein Blei
mehr im Blut, die jüngsten Testergebnisse
waren unauffällig. Ob Organe Schaden ge-
nommen haben, werden sie aber erst spä-
ter erfahren. „Die Gefahr ist nicht vorbei“,
sagt Omido. „Aber mein Sohn hatte Glück,
mehr als alle anderen Kinder aus dem Ort.“
Die anderen Kinder, die die Vergiftung
überlebt haben, hatten jedoch das Glück,
dass Omido für sie kämpfte. Vielleicht wür-
de ohne sie die Fabrik die Lehmhütten
noch immer mit stinkendem Rauch füllen,
und der saure Regen die Dächer durchlö-
chern. Ihr Job in der Fabrik war kein Glücks-
griff für Omido und ihren Sohn – für die
Menschen aus dem Armenviertel schon.

Mutterschutz


Als die Kenianerin Phyllis Omido einen neuen Job in einer Metallfabrik bekam, wurde ihr kleiner Sohn plötzlich schwer krank.


Bald begriff sie: Es war ihr eigener Arbeitgeber, der ihr Kind und viele andere Menschen vergiftete


Das Herrenzimmer ist eine der letzten Bas-
tionen der Männlichkeit, in denen es nach
klassischer Definition keine Streublumen-
kissen und Zierrat auf Musikboxen gibt,
sondern wuchtige Ledermöbel, opulente
Unterhaltungselektronik und zuweilen Bil-
lardtische. Einen „Raum, um seine Gefühle
zu regulieren“, nennt ihn der amerikani-
sche Sozialpsychologe Sam Gosling. Auch,
weil es ein Raum sei, in dem die weibliche
Geschmackshoheit nichts verloren hat.
Interessant ist, was Brad Pitt kürzlich
von seinerman caveberichtete. Da hockt
der amerikanische Schauspieler seit eini-
ger Zeit an einer surrenden Töpferscheibe.
Manchmal lädt er auch seinen Kumpel Leo-
nardo DiCaprio in seine Höhle, damit sie ge-
meinsam in den Lehm greifen. Ab und an
kämen andere Männer dazu, und sie hät-
ten dann ihre „Boys’ Night“ im Atelier.
Klebte lange das Klischee der weibli-
chen Selbstverwirklichung im Ferienkurs
auf La Gomera am Töpfern, ist das Hand-
werk nun doppelt neu definiert. Als a) Män-
nerding mit b) Hollywoodweihen. In Los An-
geles haben einige ihr Töpfer-Outing be-
reits hinter sich. Der Schauspieler und Co-
median Seth Rogen führte im April seine
ersten selbst getöpferten, grün lasierten
Aschenbecher vor, die „das Rauchen von
Gras sehr viel angenehmer machen“, wie er
schreibt. Er bilanziert bei Twitter: „Es hat


etwas Therapeutisches, es ist wie Yoga,
wenn am Ende tatsächlich etwas dabei
herauskommt.“ Model und Schauspielerin
Emily Ratajkowski zeigte sich bereits vor
längerer Zeit mit tonverschmierter Latzho-
se in einem Kurs an der Töpferscheibe.
Hollywood töpfert, und Bonn, Leipzig
und Friedrichshain tun es auch. Gab es lan-

ge nur wenige Kurse, oft bei der Volkshoch-
schule, bietet sie nun jedes Keramikatelier
an, in Großstädten werden sie überrannt.
Wer nur am Computer sitzt, und wem die
Synapsen brennen vor lauter Change im
Job, der fragt sich womöglich, was von dem
bleibt, was man treibt – und landet an der
Töpferscheibe. Der von seinen Händen ent-

fremdete Mensch greift in einen Klumpen
Lehm – und ist wieder ganz bei sich.
Dabei sah es lange nicht so aus, dass
selbst gefertigte Keramik instagramtaug-
lich werden könnte. Nach der Hochzeit in
den Siebzigern bestimmte zwei Jahrzehnte
klinisch weißes Porzellan die Tischästhe-
tik. Mit den Nullerjahren kamen die organi-
schen Teller, Schalen und Vasen langsam
zurück. Motoren waren der DIY-Trend mit
Plattformen wie Etsy, die skandinavische
Naturkuschelbewegung Hygge und die
Idee, dass Nachhaltigkeit auch ein Stilthe-
ma sein kann. Nicht nur Foodblogger fin-
den ihr Biogemüse stimmiger auf erdiger
Keramik präsentiert als auf Ikea-Tellern.
Der neue Stil ist gleichwohl filigraner,
schlichter in Form und Farbe als in den
Siebzigerjahren. Weniger plakatives Oran-
ge und klarglasiertes Terrakotta ist zu se-
hen, mehr zartes Lindgrün, Grau und An-
thrazit in skandinavischer Ästhetik.
Es gibt die Stars der neuen Keramiksze-
ne, Matthias Kaiser aus der Steiermark,
den Londoner Florian Gadsby und vor al-
lem dänische Ateliers. Berühmt sind die mi-
nimalistischen Schalen und Teller in Grau,
Schwarz und Weiß mit Sprenkeln von
K. H. Würtz im jütländischen Horsens. Sie
decken der neuen nordischen Küche den
Tisch, was eine kleine Revolution ist, denn
Standard in der gehobenen Gastronomie

war immer Fine Bone China. Im „Noma“
hatte das Geschirr seinen ersten großen
Auftritt, und weil das Restaurant in Kopen-
hagen auch für Stilisten das Maß aller Din-
ge ist, wurde der neue nordische Stil auch
Trend an den Töpferscheiben in aller Welt.
Bei Karla Ederer in München zum Bei-
spiel. Seit 15 Jahren gibt die Keramikerin
Kurse, und sie freut sich darüber, dass ihre
Passion so viele neue Fans findet, die meis-
ten sind zwischen 25 und 30, sagt sie, ha-
ben Computerjobs, ein Drittel sind Män-
ner, was sehr viel mehr ist als früher. Ausge-
rechnet seit Töpfern wieder boomt, fährt
die 68-Jährige ihr Kursangebot zurück. Es
raube ihr Energie, zu viele Anfänger anzu-
lernen, die brauche sie für ihre Kunst. Es ist
nicht böse gemeint, nur eine Zustandsbe-
schreibung. 80 Prozent aller, die einen Ba-
siskurs machten, hören danach auf, sagt
Karla Ederer. Das liege auch daran, dass es
nicht viele Werkstätten gibt, in denen man
ohne Kurs arbeiten kann. Vor allem aber
sei Töpfern anspruchsvoll, was viele unter-
schätzten. „Es ist wie Geigespielen. Am An-
fang quietscht es wahnsinnig – dann läuft
es.“ Vorausgesetzt, man übe, und zwar viel.
Wer sich aber jenseits aller Hypes darauf
einlässt, sagt Karla Ederer, wird unglaub-
lich bereichert. Sie kommt aus der Sozial-
pädagogik und hat therapeutisch an der
Töpferscheibe gearbeitet, die Erfahrung,

mit seinen eigenen Händen etwas zu schaf-
fen, sei besonders intensiv. Auch, weil man
sich absolut konzentrieren muss, sonst
fliegt einem die Tonmasse um die Ohren.
Studien zufolge fördert Töpfern den Stress-
abbau und macht entspannter, auch weil
man voll in die Natur greife. Damit landet
man wieder beim Gras von Seth Rogen,
und es sei noch einmal daran erinnert, was
er schreibt: „Es ist wie Yoga,wennam Ende
tatsächlich etwas dabei herauskommt.“

Manchmal ist auch der Weg das Ziel. In
der Filmszene in „Ghost“, in der Demi
Moore und Patrick Swayze spärlich beklei-
det an der Töpferscheibe sitzen, flabbert der
Ton zu lustvoll unkontrolliert in die Höhe,
als dass daraus noch ein Teekännchen wer-
den könnte. Bis heute findet man imNetz un-
zählige Parodien der Filmszene an der hei-
ßen Scheibe. Und natürlich kennt auch jeder
Keramiker die berühmte Sequenz. Karla
Ederer jedenfalls beriet vor Jahren einen
Whiskyliebhaber auf Mallorca, der nicht
nur Tonbecher bei ihr orderte. Er ließ auch
dieSchlüsselszene aus „Ghost“in ihremAte-
lier nachdrehen. claudia fromme

Seit im Restaurant „Noma“
gesprenkeltes Geschirr steht,
wollen es alle nachtöpfern

„Afrikas Erin Brockovich“,


so wird sie oft genannt.


Der Vergleich gefällt ihr gut


Die Männer husteten, und
wenn das Vieh aus den Pfützen
trank, verendete es sofort

Ein Regierungsbeamter ging in
Frührente, damit er vor Gericht
für die Opfer aussagen kann

DEFGH Nr. 207, Samstag/Sonntag, 7./8. September 2019 GESELLSCHAFT 55


Super Dreh


Hollywoodstars wie Brad Pitt sitzen an der Töpferscheibe – und alle von ihren Händen entfremdeten Hipster machen mit


Phyllis Omido war politisch nicht besonders interessiert, bevor ihre eigene Geschichte sie zu
Afrikas bekanntester Umweltaktivistin machte.FOTO: GOLDMAN ENVIRONMENTAL PRIZE

Guter Ton: Demi Moore und Patrick Swayze in „Ghost“ (1990). FOTO: IMAGO
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