Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1
Berlin – Auf ihrer Klausur in Potsdam hat
sich die Führung der Unionsfraktion nicht
nur mit Themen wie dem Klimaschutz be-
schäftigt. Sie hat auch darüber diskutiert,
wie die CDU wieder in die Offensive kom-
men kann. AfD und Grüne sind erstarkt –
dazwischen wird die Union zerrieben. Wie
kommt man aus dieser Lage wieder her-
aus? Glaubt man den Berichten von Teil-
nehmern, war es Angela Merkel, die in die-
ser Debatte den größten Applaus bekam.
Das lag vermutlich daran, dass die
Kanzlerin ziemlich authentisch gewirkt
haben muss. Denn Merkel – inzwischen
ist sie nach China weitergereist – hat in
Potsdam aus ihrer Zeit in der DDR erzählt.
Die AfD docke ziemlich geschickt an die
Staatsgläubigkeit im Osten an, die es
schon in der DDR gegeben habe, sagte die
Kanzlerin Teilnehmerberichten zufolge.
„Wir Wissenschaftler“ hätten damals im-
mer gesagt, „wenn wir einen Computer
aus dem Westen hätten, wären wir Nobel-
preisträger.“ Und wenn man dann endlich
den besseren Westcomputer bekommen
habe, sei man überrascht gewesen, dass
man immer noch keinen Nobelpreis habe,
scherzte Merkel. Eine Haltung wie die der
Wissenschaftler damals sei im Osten im-
mer noch weit verbreitet. Im Zweifel sei es
der Staat, der schuld sei – die eigene Ver-
antwortung werde nicht so stark betont.
Das nütze die AfD nun mit Slogans wie
„Vollende die Wende“ aus. Die Partei erwe-
cke den Eindruck, der Staat funktioniere
immer noch nicht richtig, und die AfD wer-
de das endlich ändern.
Eine konkrete Handlungsempfehlung
der Kanzlerin für den Umgang mit der
AfD wurde in Potsdam allerdings nicht be-
kannt – außer der, sich klar von den
Rechtspopulisten abzugrenzen. Auch
zum Umgang mit den Grünen hörte man
von Merkel nichts bahnbrechend Neues.
Aber die Unionsfraktion hatte auch Re-
nate Köcher vom Allensbacher Institut für
Demoskopie eingeladen. Die Professorin
präsentierte den Abgeordneten eine Ana-
lyse der politischen Stimmungslage, sie
liegt derSüddeutschen Zeitungvor. Und
diese Analyse enthielt nicht nur düstere
Botschaften. Köchers Erhebungen zufol-
ge wächst bei den Bürgern das Bewusst-
sein für den Klimawandel. „Der Klima-
wandel macht mir große Sorgen“ würden
inzwischen 61 Prozent sagen, Anfang 2017
seien es erst 37 Prozent gewesen. Das hel-
fe den Grünen, mit denen das Thema ver-
bunden werde. Die Union könne hier aber
wieder in die Offensive kommen, sagte

Köcher. In dem Moment, in dem es der
Union gelinge, das Thema auf die konkre-
te Ebene zu ziehen, habe sie wieder eine
Chance. Den Bürgern müsse klar werden,
mit welcher Partei welche finanzielle Be-
lastungen auf sie zukämen. Köcher wies
darauf hin, dass lediglich 21 Prozent der
Befragten eine CO2-Steuer für eine „gute
Idee“ hielten. Solange es in der Debatte
aber nur allgemein um die Frage gehe,
wer ist für den Klimaschutz, würden die
Grünen Oberwasser behalten.
Eine große Chance liege für die Union
auch darin, dass das Thema Wirtschaft
wieder an Bedeutung gewinne, sagte Kö-
cher Abgeordneten zufolge. Bei diesem
Thema würden CDU und CSU immer noch
die besten Kompetenzwerte zugeschrie-
ben. Die Professorin warnte die Unions-
fraktion aber davor, zu stark auf ihre bis-
herigen Erfolge zu setzen. Leistungsbilan-
zen würden kaum einen interessieren, sag-
te sie. Die Union müsse deshalb verstärkt
Projekte für die Zukunft präsentieren.
Denn derzeit würden nur 16 Prozent der
Bürger sagen, die Union habe „die besten
Ideen und Konzepte“ für die Zukunft. Sie
liege damit nur auf Platz zwei – hinter den
Grünen. robert roßmann

Merkel erklärt den Osten


Was die Kanzlerin auf einer Klausurtagung über die AfD sagte


interview: matthias drobinski

Herbe Verluste gab es am bei den Wahlen
inBrandenburg und Sachsen am vergange-
nen Sonntag für CDU und SPD. Sind sie
überhaupt noch Volksparteien? Die Partei-
enforscherin Isabelle Borucki, 38, die an
der Universität Duisburg-Essen lehrt, hält
den Begriff für überholt.


SZ: Wie viel Volk braucht eine Partei, um
Volkspartei zu sein?
Borucki: Da fangen die Probleme schon
an. Die Definitionen in der Politikwissen-
schaft unterscheiden sich und laufen dar-
auf hinaus, dass eine Volkspartei mög-
lichst alle Wählerinnen und Wähler anspre-
chen will, mehrere Themen bespielt, den
Erfolg in der Mitte des politischen Spek-
trums sucht und in der Lage ist, einen gro-
ßen Teil der Bevölkerung hinter sich zu ver-
sammeln. Das traf einmal auf die SPD und
die Union zu. Heute ist der Begriff unklar
geworden.


CDU und CSU würden jetzt sagen: Den An-
spruch haben wir auf jeden Fall. Und die
SPD auch, wenn auch etwas leiser.
Der Begriff Volkspartei beschreibt eine
Tradition, eine Herkunft. Aber faktisch ge-
lingt es selbst CDU und SPD gemeinsam
kaum noch, Mehrheiten zu organisieren.
Vergangenen Sonntag haben sie in Sach-
sen zusammen nicht einmal 40 Prozent
der Stimmen erreicht, die SPD 7,7 Prozent.
Auch AfD, Linke und Grüne sagen von
sich, dass sie alle Bevölkerungsgruppen
ansprechen wollen. Wir haben es mit einer
zunehmend fragmentierten Öffentlich-
keit zu tun und einer zunehmenden Polari-
sierung. Das ergreift auch die Volkspartei-
en. Die SPD definiert sich heute nicht
mehr, wie noch unter Gerhard Schröder,
als Partei der „neuen Mitte“, sie sucht ein
linkes Profil. Und in der Union ist die Klage
über die „Sozialdemokratisierung“ unter
Angela Merkel groß.


Wahlen wurden nun mal in der Mitte
gewonnen. Das wussten Gerhard Schrö-
der wie Angela Merkel.
Wahlen werden heute nicht mehr nur in
der Mitte gewonnen. Weil das Konzept so
erfolgreich war, dachten alle Parteien, wir
müssen in die Mitte, egal, ob es zur inhaltli-
chen Ausrichtung, den Mitgliedern, der
möglichen Wählerschaft passt. Das hat ih-
nen nicht gutgetan, besonders der SPD.
Mitte bedeutet nicht mehr Vernunft und
Ausgleich, sondern Schwammigkeit, Belie-
bigkeit, den Primat des Machterhalts. Das
trifft auch die Union, aber vor allem die
SPD, erst recht jetzt, wo Programm und
Führung nicht erkennbar sind.
Müsste sich also gerade die SPD vom Be-
griff „Volkspartei“ verabschieden?
Das Wort „Volkspartei“ passt insgesamt
nicht mehr. Aber tatsächlich sollte sich ge-
rade die SPD nicht mehr Volkspartei nen-
nen. Wenn ich eine Klatsche nach der ande-
ren bekomme, bei einer Landtagswahl kei-
ne acht, in bundesweiten Umfragen keine
15 Prozent, dann wirkt das hohl. Wie soll
man da der AfD die Bezeichnung Volkspar-
tei verweigern?
Weil dort Mitte, Ausgleich und Rechts-
staatlichkeit arg kurz kommen?
Das kann man so sehen und kritisieren.
Aber dass die AfD jetzt so massiv den An-
spruch erhebt, eine bürgerliche Partei zu
sein, ist ja eine Kampfansage an die Union:
Wir sind nicht weniger das Volk als ihr. Die
Entideologisierung und die Integration
verschiedener Flügel hat der Politologe Ot-
to Kirchheimer in der Nachkriegszeit als
Merkmale der Volkspartei definiert. Da-
mals war das bahnbrechend. Heute, wo bei
SPD und Union der Wunsch nach ideologi-
scher Eindeutigkeit wächst, wirkt das aus
der Zeit gefallen. Und bei der AfD findet
beides nicht statt – im Gegenteil.
Geht mit dem Abschied von der Volkspar-
tei nicht etwas verloren, was für die parla-
mentarische Demokratie in Deutschland
wesentlich ist? Dass CDU und CSU keine
Konfessionspartei und die SPD keine Ar-
beiterpartei mehr war, war ja ein Fort-
schritt gegenüber den Weltanschauungs-
parteien der Weimarer Republik, wo die
NSDAP sich als Volkspartei geben konnte.
Ja, es gehen Verankerung, Stabilität und
Identifikation verloren, wenn die einst gro-
ßen Parteien derart schrumpfen. Je stär-
ker sich eine Gesellschaft individualisiert,
umso mehr diffundiert auch die politische
Kommunikation. Darunter leidet ein Zu-
sammengehörigkeitsgefühl, das auch
sehr unterschiedliche Menschen in unter-
schiedlichen Lebenslagen verbindet. Da-
von leben die Volksparteien. Es gab Sozial-
demokraten, die litten an ihrer Partei,
aber blieben ihr treu. Das ist vorbei.

Die derzeit erfolgreichen Parteien neh-
men auf ihre Weise ein Lebensgefühl auf:
Die Grünen das des weltverbessernden,
urbanen Teils der Bevölkerung, die AfD
das der anderen, die sich davon bevor-
mundet sehen. Kommen nach den Volks-
parteien die Lebensgefühlsparteien?
So weit würde ich nicht gehen. Es geht
doch immer noch um Inhalte. Aber AfD
und Grünen gelingt es, ihre Ideologie an Le-
bensgefühle zu koppeln. Diese Verbin-
dung, die es bei Union und SPD in den
1970er-Jahren ja gab, ist dort verloren ge-
gangen.
Wie sähe ein Parteiensystem ohne Volks-
parteien aus? Die Summe der Minderhei-
ten ergibt die Mehrheit?
Es wird schwieriger, aber auch spannen-
der. Mehrheiten werden sich entlang neu-
er Konfliktlinien bilden. Was ist links,
rechts, libertär, autoritär? Globalisierungs-
gewinner und -verlierer werden miteinan-
der streiten, die Digitalisierung und der
Wandel der Kommunikation neue Ausein-
andersetzungen hervorbringen.

Welche?
Die Digitalisierung bringt eine Verfla-
chung von Hierarchien mit sich. Autorität
wird nicht mehr einfach so anerkannt und
respektiert. Das ist vor allem für die gro-
ßen Parteien mit ihren hierarchischen
Strukturen eine Herausforderung. Hierar-
chie hat ja ihren Sinn, es geht in der Politik
auch um Kenntnis, Erfahrung, Leitung.
Aber die Leute wollen mehr an Entschei-
dungsprozessen beteiligt werden. Nur ha-
ben die Parteien zu dieser Kommunikati-
on noch keinen richtigen Zugang.
Wobei die Beschwörung der Schwarmin-
telligenz alleine nicht reicht, wie Aufstieg
und Fall der Piraten gezeigt hat.
Die Digitalisierung ist Fluch und Segen zu-
gleich. Parteien brauchen Profil, Persön-
lichkeiten, Identifikationsmöglichkeiten.
Das gibt es nicht ohne Hierarchie und Auto-
rität. Die Piraten sind an ihrer extremen
Basisdemokratie gescheitert. Die Digitali-
sierung ermöglicht neue Beteiligungsfor-
men. Aber das Ringen um Inhalte und Per-
sonen ersetzt sie nicht.

Die SPD versucht derzeit, ihre Vorsitzen-
den auf neuen Wegen zu finden. Wird das
helfen?
Ich hoffe, ja. Es würde auch anderen Partei-
en zeigen, dass andere Wege der Beteili-
gung möglich sind. Und ein Verschwinden
der Sozialdemokraten oder ihre langfristi-
ge Marginalisierung darf man sich nicht
wünschen.
Wie wird die Parteienlandschaft in
Deutschland in 20 Jahren aussehen?
Vielleicht kommen noch weitere Parteien
hinzu. Die Freien Wähler zum Beispiel
könnten eine Alternative zur AfD werden.
Eine Zersplitterung wie in Italien kann ich
mir aber nicht vorstellen.
Muss man sich trotzdem Sorgen um die
Demokratie machen?
Ich glaube an die Demokratie, ihre Kon-
trollmechanismen, den starken öffentli-
chen Diskurs und die Zivilgesellschaft. So-
lange das funktioniert, muss man sich
nicht fürchten. Dann ist auch eine politi-
sche Auseinandersetzung mit der AfD
möglich, jenseits der reflexhaften Abwehr.

Potsdam– „Kein Weiter-so“, das ist die
Formulierung, auf die sich alle Parteien
nach der ersten Runde der Sondierungs-
gespräche für eine neue Regierung in
Brandenburg einigen konnten. Die ers-
ten Konsequenzen daraus zieht offenbar
die CDU. Partei- und Fraktionschef Ingo
Senftleben hat angekündigt, auf der Frak-
tionssitzung am kommenden Dienstag
von allen seinen Ämtern zurückzutreten.
Als Spitzenkandidat hatte er bei den
Landtagswahlen am vergangenen Sonn-
tag mit 15,6 Prozent das schlechteste Er-
gebnis für die Brandenburger CDU seit
der Wende geholt. Die Partei habe seine
Entscheidung „mit Respekt“ angenom-
men, sagte Generalsekretär Steeven
Bretz.
Der eher liberal-konservative Senftle-
ben war in den Tagen nach der Wahl in
der Partei stark unter Druck geraten. Eini-
ge Abgeordnete, die zum konservativen
Flügel der Brandenburgischen CDU gehö-
ren, hatten mehrmals den Rücktritt von
Senftleben gefordert und sich gegen eine
Koalition mit den Grünen gestellt. An Stel-
le Senftlebens wird nun kommissarisch
Michael Stübgen treten. Der 59-jährige
Bundestagsabgeordnete aus Branden-
burg arbeitet als Staatssekretär im Bun-
deslandwirtschaftsministerium. Er gilt
innerhalb der Brandenburger CDU als
moderierende Kraft und soll auch die Ver-
handlungen bei den Sondierungsgesprä-
chen führen. „Ich hätte diese Aufgabe
nicht übernehmen wollen, wenn ich nicht
wollte, dass wir zu einer Koalition kom-
men“, sagte Stübgen bei einer kurzen Vor-
stellung.
Der angekündigte Rücktritt von Senft-
leben überschattet die Treffen, die Ende
der Woche begonnen hatten. Die Wahlen
hatten in Brandenburg zu einer schwieri-
gen Ausgangslage für eine neue Regie-
rung geführt. SPD, Linke und CDU haben
teilweise dramatische Verluste hinneh-
men müssen, während vor allem die AfD
aber auch die Grünen zulegen konnten.
Abseits der AfD könnten damit SPD und
Grünen entweder mit der CDU oder der
Linken koalieren. Denkbar wäre auch ein
Bündnis aus SPD, CDU und Freien Wäh-
lern. Die Grünen warnten vor einem
Rechtsruck bei der CDU: „Setzt sich je-
doch der Siegeszug des rechtskonservati-
ven Flügels um Saskia Ludwig und Frank
Bommert fort, und bleibt es dort bei Spal-
tung und Chaos, wäre Kenia für uns erle-
digt“, sagte Parteichefin Ursula Nonnema-
cher. jan heidtmann


Die Politikwissenschaftlerin
Isabelle Borucki.FOTO: BEA ROTH

Weimar –Es soll das größte Klimaschutz-
paket werden, das Deutschland je verord-
net wurde und ein Wegweiser in eine zu-
kunftsfeste Wirtschaft. 72 Maßnahmen
zur Rettung von Weltklima und Zusam-
menhalt in Deutschland haben die Bun-
destagsgrünen bei ihrer jährlichen Klau-
sur in Weimar gefordert, dazu staatliche
Hilfen für bedrohte Wälder, eine Task-
force gegen Rechtsextremismus sowie ei-
ne staatlich finanzierte „räumliche
Grundsicherung“, die auch ausblutenden
Regionen Netzzugang, Mobilität und Ge-
sundheitsversorgung garantieren soll. Al-
lein für einen Bundesinvestitionsfonds,
der die Energiewende voran bringen soll,
seien zusätzliche 36 Milliarden Euro im
Jahr nötig, und das sei nur der Anfang.
Auch private Mittel müssten stärker akti-
viert werden.

„Wenn wir jetzt nicht in die Zukunft in-
vestieren, dann überlassen wir den künf-
tigen Generationen immer mehr Schul-
den, und zwar finanziell, aber auch, was
die Lebensgrundlagen angeht“, sagte die
grüne Fraktionsvorsitzende, Katrin Gö-
ring Eckardt, zum Abschluss der Klausur
am Freitag. Überall höre man jetzt Be-
kenntnisse zum Klimaschutz, die ande-
ren Parteien aber verzettelten sich in
„Kleinstdebatten“. Nach 14 Jahren Taten-
losigkeit müsse die Bundesregierung „in
allen Bereichen handeln“, sagte Frakti-
onschef Anton Hofreiter.
Die Grünen beginnen, sich mental auf
eine Beteiligung an der nächsten Bundes-
regierung einzustellen – und durchzu-
rechnen, wie sie Kernanliegen aus dem
Reich des Wunschdenkens in Regierungs-
handeln überführen könnten. Ein Ergeb-
nis: Ohne eine ganze Reihe staatlicher Fi-
nanzierungsmodelle sei die „sozial-ökolo-
gische Transformation der Wirtschaft“
nicht zu bewerkstelligen. Und während
die Partei früher stärker die Eigeninitiati-
ve betonte, rücken nun ordnungspoliti-
sche Maßnahmen nach vorn.
Gefordert wurde in Weimar ein Kohle-
ausstieg „möglichst bis 2030“ und geziel-
te Hilfe für den Ökostromsektor. Für kli-
mapolitische Maßnahmen soll die Schul-
denbremse gelockert werden. In einem
Papier heißt es auch: „keine neuen Ölhei-
zungen mehr zulassen“. Hofreiter beton-
te, es sei noch offen, wann diese Maßnah-
me greifen solle. Geplant ist zudem ein
Steuerbonus für Selbstnutzer von Eigen-
tumswohnungen und ein „Klimawohn-
geld“ für Mieter. Die EU-Agrarförderung
wollen die Grünen „radikal umbauen“. Öf-
fentliche Gelder soll es nur noch für tier-
und artenfreundliche Landwirtschaft ge-
ben. constanze von bullion

Berlin – Norbert Walter-Borjans, 66 Jah-
re alt, hatte sich schon im Ruhestand ein-
gerichtet. Der frühere Finanzminister aus
Nordrhein-Westfalen fährt gerne Rad, er
schreibt seiner Partei Steuerkonzepte. Er
hat nach seinem Ende als Minister, 2017,
ein Buch über seinen Kampf gegen Steuer-
hinterziehung geschrieben: „Steuern –
Der große Bluff.“ Damit ist er durchs Land
getourt. Es hätte so weitergehen können.
Er war auf angenehme Art noch dabei und
doch nicht mehr mittendrin.
Dann aber kam mit dem Rückzug von
Andrea Nahles von der Parteispitze alles
in der SPD ins Rutschen. Jetzt ist Walter-
Borjans zurück – voll und ganz. Er macht
Wahlkampf für sich und seine Tandem-
partnerin Saskia Esken, 58, Digitalpoliti-
kerin und Bundestagsabgeordnete aus
dem Nordschwarzwald. Sie wollen an die

Spitze. Sie haben gute Chancen, wie ihre
Vorstellungsrunden bei den ersten Regio-
nalkonferenzen zeigen. Sie kommen an
bei den Mitgliedern, die diesmal über die
Spitze entscheiden werden. Die ersten
Konkurrenten, die Oberbürgermeister Si-
mone Lange und Alexander Ahrens, ha-
ben zu ihren Gunsten verzichtet.
Norbert Walter-Borjans trat erst kurz
vor Ende der Bewerbungsfrist an. Doch
wer die vergangenen Tage verfolgt hat be-
kommt nicht den Eindruck, dass hier je-
mand zufällig in den Kampf um die Zu-
kunft der SPD hineingestolpert ist. Es
gibt einen Plan.
Bevor Walter-Borjans ins Rennen ging,
war die Lage in der SPD so: Erst meldete
sich niemand. Dann kamen Teams aus
der Deckung, die kaum Euphorie auslös-
ten. Europa-Staatsminister Michael Roth
etwa bewarb sich mit der NRW-Landespo-
litikerin und früheren Familienministe-
rin Christina Kampmann. Parteivize Ralf
Stegner fand sich mit Gesine Schwan, 76,
der Politikwissenschaftlerin und frühe-
ren Kandidatin für das Amt der Bundes-
präsidentin, zusammen. Die Lage änderte
sich erst maßgeblich, als Finanzminister
und Vizekanzler Olaf Scholz eine Kehrt-
wende hinlegte. Erst wollte der 61-Jährige
nicht kandidieren. Nun doch. In der Lan-
despolitikerin Klara Geywitz aus Pots-
dam fand er eine Partnerin. Scholz galt
nun als Favorit.

Einerseits war das dem Mangel an Al-
ternativen geschuldet. Kaum andere Be-
werber brachten eine solche Bekanntheit
und ein solches politisches Gewicht mit.
Zudem tummeln sich so viele Groko-Geg-
ner von mäßiger Strahlkraft im Bewerber-
feld, die sich nur gegenseitig die Stimmen
rauben dürften. Auch das spielte Scholz in
die Hände. Ausgerechnet er, der Groko-
Befürworter, von dem am wenigsten Auf-
bruch zu erwarten sein dürfte, hatte plötz-
lich gute Karten.
Wer Scholz an der SPD-Spitze verhin-
dern will, der braucht einen Anti-Scholz.
Und Norbert Walter-Borjans, so sieht es
aus, soll nun diese Person sein. Er hat sich
als Finanzminister mit dem Ankauf von
Steuer-CDs und seiner Jagd auf Steuer-
sünder einen Namen gemacht: 19 Millio-
nen Euro investierte er und erlöste 7,2 Mil-
liarden. Das macht bis heute Eindruck.
Zwischen sich und Scholz macht er „Ak-
zent-Unterschiede“ aus. Aber die sind be-
achtlich. Während Scholz die schwarze
Null verteidigt, rüttelt Walter-Borjans an
ihr. „Man sollte nicht auf Zukunftsinvesti-
tionen verzichten, nur weil der ausgegli-
chene Haushalt das nicht hergibt“, sagt er.
Er will viel mehr Transparenz bei Steuer-
zahlungen von Konzernen und wünscht
sich mehr Eifer für die Einführung einer
Digitalsteuer. Vorstandsgehälter will er
auf das Fünfzehnfache des Durchschnitts-
lohns gedeckelt sehen. In der Groko sieht

er „keine Grundlage“, um in den großen
Fragen zu Lösungen zu kommen.
Sein NRW-Landesverband, der die
Chance sieht, einen der Ihren ganz oben
im Willy-Brandt-Haus zu installieren, hat
ihn einstimmig nominiert. Das ist bemer-
kenswert, denn aus NRW kommen mit
Christina Kampmann und dem Gesund-
heitspolitiker Karl Lauterbach zwei weite-
re Bewerber. Die NRW-SPD ist mächtig.
Sie stellt ein Viertel aller Parteimitglieder.
Und dann hat Walter-Borjans noch die
Jusos an seiner Seite. Der Parteinach-
wuchs zählt etwa 70 000 Mitglieder. De-
ren Chef, Kevin Kühnert, früher Wortfüh-
rer der Groko-Gegner, tritt nicht an. Als
Gegenspieler zu Scholz hätte das womög-
lich ein Spektakel bedeutet – aber es blieb
zweifelhaft, ob die Basis sich am Ende für
einen 30-Jährigen an der Spitze entschie-
den hätte, der sich gelegentlich Enteig-
nungsfantasien hingibt. Kühnert redete
Walter-Borjans zu, anzutreten. Mittler-
weile hat er sich offen für Walter-Borjans
und Esken ausgesprochen. Der Juso-Lan-
desverband NRW gab nach der ersten Re-
gionalkonferenz bekannt, man werde das
Duo unterstützen. Es waren die NRW-Ju-
sos, die zuvor noch eine Kampagne gegen
Scholz gestartet hatten, mit der ihm quasi
abgesprochen wurde, ein linker Politiker
zu sein. Nun ist mit Walter-Borjans ausge-
rechnet ein Ü-65-Mann ihr Kandidat.
mike szymanski

„Nicht mehr nur


in der Mitte“


Die Politologin Isabelle Borucki erklärt, ob und wo
Volksparteien heute noch Wahlen gewinnen können

Brandenburgs


CDU-Chef tritt ab


Grüne für Verbot


von Ölheizungen


Die Partei will ein Klimapaket
mit 72 Punkten durchsetzen

Die Schuldenbremse soll fürs
Klima gelockert werden

Aus dem Lot geraten: Politische Begriffe wie „Volkspartei“ oder „bürgerliche Mitte“ haben zuletzt einen Bedeutungs-
wandelerlebt. FOTO: MARIO HÖSEL / IMAGO

6 POLITIK HF3 Samstag/Sonntag,7./8. September 2019, Nr. 207 DEFGH


Spät kandidiert, schnell profiliert: Norbert Walter-Borjans und seine Tandem-
Partnerin Saskia Esken. FOTO: UWE ANSPACH/DPA

Der Anti-Scholz


Viele in der SPD wünschen sich Norbert Walter-Borjans als Parteichef – gerade die Jusos


Offenbar hat der Ex-Minister
den Kampf um die Zukunft
der SPD länger geplant

Einschätzung in Prozent

Die Unionsparteien setzen sich besonders ein für...


  1. Wirtschaft stärken

  2. Wirtschaftswachstum fördern

  3. Europäische Einigung

  4. Stabiler Euro

  5. Sicherheit

  6. Christliche Werte

  7. Staatsverschuldung bekämpfen

  8. Toleranz gegenüber anderen Kulturen

  9. Zuwanderung begrenzen

  10. Erneuerbare Energien fördern


71

...


  1. Umweltschutz vorantreiben


65

64

60

52

49

46

36

35

31

17

Bevölkerung insgesamt Anhänger der CDU/CSU

79

74

76

72

71

62

57

49

35

44

32
SZ-Grafik; Quelle: IfD-Allensbach
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