Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1

E


s ist eine lärmende, bunte, waf-
fenstrotzende Kolonne, die da
auf die alte Hafenstadt an der
Adria zurollt. An ihrer Spitze:
ein roter Fiat 501, mit Blumen
geschmückt, darin sitzt ein nicht allzu gro-
ßer Mann mit Glatze. Was ist da los, fragen
sich Beobachter am Straßenrand, so viele
Blumen, eine Beerdigung?
Der Mann im roten Fiat liebt Blumen.
Er liebt auch Frauen, er liebt donnernde
Auftritte und Kampfflugzeuge, und er
liebt sein Italien, das Mutterland, für das er
im Krieg auf einer Seite das Augenlicht ver-
loren hat.
Bevor er in der Nacht zuvor zusammen
mit seinen Mitverschwörern am Friedhof
von Ronchi aufgebrochen ist, einem Städt-
chen nahe Triest, hat er einen Brief ge-
schrieben an seinen „lieben Kameraden“
Benito Mussolini: „Die Würfel sind gefal-
len. Ich reise jetzt ab. Morgen früh werde
ich Fiume mit Waffengewalt einnehmen.
Der Gott Italiens möge uns beistehen.“
Es ist der 12. September 1919, und Gabri-
ele D’Annunzio, 56 Jahre alt, italienischer
Poet und Kriegsheld, rollt mit 2000 „Legio-
nären“ in die Stadt ein, die bis zum Ende
des Ersten Weltkriegs einen recht multikul-
turellen Außenposten der Habsburger-
Monarchie am Mittelmeer bildete; wo die
Menschen Italienisch sprachen, Kroatisch,
Ungarisch, Deutsch. Jetzt soll sie, so haben
es die Diplomaten bei den Friedensver-
handlungen von Paris beschlossen, an das
neu gegründete Königreich der Serben,
Kroaten und Slowenen fallen. Für D’Annun-
zio und seine Mitstreiter ist klar: Einen der-
art „verstümmelten Sieg“ kann ihre junge
Nation, das Königreich Italien, niemals hin-
nehmen.
„Lang lebe das italienische Fiume“ brül-
len die Massen, die vor hundert Jahren
beim Einmarsch Spalier stehen und mit
Lorbeerkränzen und Fahnen wedeln. Vom
Balkon des Gouverneurspalastes rollt der
Dichter eine meterlange grün-weiß-rote
Flagge aus. „Hier bin ich“, ruft er und lässt
das Jubelgeschrei lange hallen, ehe er fort-
fährt: „Ich, der Freiwillige, der in allen Waf-
fengattungen gekämpft hat, ich, der ver-
wundet und verstümmelt wurde, ich re-
agiere auf die tiefe Sorge meines Landes, in-
dem ich verkünde, dass Fiume heute auf
ewig zur Mutter Italien zurückgekehrt ist.“
Die Stadt sei fortan „ein Leuchtturm, er-
strahlend in einem Meer der Nieder-
tracht“. Der Faschismus hat sein erstes
Spielfeld gefunden.


In den folgenden 15 Monaten werden
der Dichter und seine Sturmtruppen die
Stadt besetzt halten und einen Führerkult
etablieren, der vieles dessen vorweg-
nimmt, was Mussolini drei Jahre später
mit seinem Marsch auf Rom zur Regie-
rungsform erheben wird. Fackelmärsche
in Uniformen, peitschende Reden des „Du-
ce“ ans Volk, der zum „römischen Gruß“ ge-
reckte rechte Arm. Und orgiastische Feste.
Die Monate der „italienischen Regent-
schaft an der Kvarner-Bucht“, wuchern zu
einem Massenrausch, in dem eine seelisch
kriegsversehrte junge Generation rastlos
all das nachzuholen scheint, was ihr die
Jahre zuvor geraubt wurde. Ein durchcho-
reografiertes Fest der Jugend und der Kör-
perlichkeit, eine Art frühfaschistische
Kommune. Die „Carta del Carnaro“, eine
Art Verfassung, an der prominente Gewerk-
schafter mitschreiben, enthält einige
durchaus fortschrittliche Elemente; sie
stellt Frauen und Männer offiziell gleich,
schreibt einen Mindestlohn vor und die
Freiheit der Presse. Manche Geschichts-
schreiber sehen in jenen 15 Monaten auch
ein Vorspiel für die antibürgerliche Revolte
von 1968. Wobei: „Im Gegensatz zu den
Hippies wollten die Besatzer von Fiume
nicht nur Liebe machen, sondern auch
Krieg“, gibt die britische D’Annzunzio-Bio-
grafin Lucy Hughes-Hallett zu bedenken.
Der alte Gouverneurspalast, den D’An-
nunzio zu seiner Machtzentrale umfunktio-
nierte, ist heute das Seefahrt- und Ge-
schichtsmuseum der Stadt, die zu Kroati-
en gehört und Rijeka heißt. 2020 wird sie
„Kulturhauptstadt Europas“ sein.


Drinnen im Palast führt die Historikerin
Tea Perinčić durch einen Saal mit weißen
Seidentapeten und alten Habsburger-Mö-
beln, in dem der selbsternanntepoeta sol-
datodamals seine Besucher empfing. Von
hier aus schritt er durch die Flügeltür auf
den Balkon, um sich und die Massen in Ra-
ge zu reden. „Wenn man sich die gängigen
Werke über D’Annunzio durchliest“, sagt
Tea Perinčić, „dann bekommt man den Ein-
druck, die damalige Zeit wäre vor allem ein
großer Spaß gewesen. Das stimmt natür-
lich nur für einen Teil der Bevölkerung.“
Mit der Hand reibt sie über ein Treppenge-
länder aus Marmor. Jemand hat das Wort
„Arditi“ hineingeritzt, „die Kühnen“. So hie-
ßen die Sturmtruppen aus dem Ersten
Weltkrieg, die dann einen wesentlichen
Teil von D’Annunzios „Legionären“ in Fiu-
me bildeten. Die Buchstaben sind tief in
den Stein getrieben, wohl mit einem
Dolch, dem Markenzeichen der Arditi, und
offenkundig mit äußerster Kraft und Ver-
bissenheit.
„Ich bin nicht mehr von mir selbst be-
rauscht, sondern von meiner ganzen Ras-
se“, so hat Gabriele D’Annunzio seine Lei-
denschaft für das Spiel mit den Emotionen
der Massen beschrieben: „Die Menge ist
wie weißglühendes Metall. Alle Münder
der Gussform sind offen. Eine riesige Sta-
tue wird gegossen.“ So ging das, bis sich die
Regierung in Rom mit dem Königreich der
Serben, Kroaten und Slowenen im Novem-
ber 1920 per Grenzvertrag von Rapallo dar-
auf einigte, Fiume zu einem „unabhängi-
gen Freistaat“ zu erklären. D’Annunzio wei-
gerte sich, den Vertrag anzuerkennen,
Rom schickte daraufhin das Schlachtschiff
Andrea Doria, das an Weihnachten 1920
von Fiumes Hafen auf den Gouverneurspa-
last feuerte, eine Wand einriss und D’An-
nunzio in die Flucht trieb.
Ein Jahrhundert später fasst die Stadt
ihren prominenten Sohn, wenn man ihn so
nennen will, mit sehr spitzen Fingern an.
Während das offizielle Italien ihn bis heute
vor allem als überschäumenden, erotisch-
aberteuerlustigen Fin-de-Siècle-Dichter
in Erinnerung hält, sehen viele kroatische
Bürger und Politiker in D’Annunzio in ers-
ter Linie den Demagogen, der der faschisti-
schen Besatzung ihres Landes den Weg ge-
ebnet hat.
Tea Perinčić führt den Besucher in ihr
Büro im Erdgeschoss. Von der Stadt hat sie
den Auftrag, dem Rest der Welt im Kultur-
jahr 2020 ein halbwegs gerechtes Bild zu
bieten. Neben einem Buch bereitet sie eine
Ausstellung vor: „Fiume – D’Annunzios
Märtyrerin“. Sie konzentriert sich darin

auf die Rolle der Frauen – schließlich war
der glatzköpfige Poet mit den, wie sein Se-
kretär seinerzeit notierte, „grauenhaften
Zähnen“, Zeit seines Lebens als Frauen-
schwarm erster Güte bekannt. Bei seinen
Aufmärschen wurden Frauen in Abendklei-
dern und mit Gewehren über der Schulter
gesichtet. „D’Annunzio ist mit der Stadt
umgegangen, wie er mit Frauen umgegan-
gen ist“, sagt die Historikerin. „Er hat sie
verführt und für seine Zwecke benutzt.“
Wobei die Verführungskünste des Dich-
ters vor allem den italienischen Teil der Be-
völkerung ansprachen – andere erlebten
die Besatzung vor allem als brutal. Tea
Perinčić klickt am Bildschirm auf ein einge-
scanntes Dokument, das Tagebuch einer
Frau namens Zora Blačić,damals 23 Jahre
alt, die in ihrer Verzweiflung schreibt: „Al-
les ist vorbei.“ Ihr Verlobter könne nicht
aus Zagreb zu ihr kommen; weder Züge
noch Post kämen von dort mehr in die
Stadt, „Gott weiß, wie lang das so weiter-
geht“. Es gebe schon keine Hefe mehr, um
Brot zu backen. Und dann beschreibt die
junge Frau, wie „die italienischen Soldaten
die Geschäfte von kroatischen Inhabern
zerstören“, auch der Laden ihres Vaters,
Schuhhändler von Beruf, sei schließlich
darunter gewesen.
Der Korrespondent derNew York Times
schreibt am 1. März 1920: Gabriele D’An-
nunzio habe „eine weitere Deportation von
Kroaten und anderen Ausländern“ ange-
ordnet, deren Anwesenheit als „schädlich
für die Sicherheit der Stadt“ betrachtet
werde. Auch Sozialisten seien inzwischen
„von der allgemeinen Säuberung der Stadt
erfasst“.

Ein paar Schritte vom alten Gouver-
neurspalast, im Staatsarchiv von Rijeka,
kann man sich in Dokumente vertiefen,
die nachfühlbar machen, wie die Besatzer
reihenweise Existenzen vernichteten. Es
sind fast ausnahmslos Menschen, die sla-
wisch oder ungarisch klingende Nachna-
men tragen. Zum Antrag eines Friseurs auf
Erneuerung seiner Betriebserlaubnis ver-
merkt der Beamte am 16. Dezember 1919,
der Mann sei „auf politisch-moralischer Li-
nie nicht vertrauenswürdig“ und hege
„antinationale Gefühle“. Ein Schmied,
dem die Behörden ebenfalls die Erneue-
rung seiner Betriebserlaubnis abgelehnt
haben, schreibt regelrecht bettelnd: „Ich

habe mich nie mit Politik beschäftigt, ich
bin neutral, ich möchte wieder arbeiten.“
So geht es weiter. Einer klagt „demü-
tigst“, das Berufsverbot werde nicht nur
ihn selbst, sondern auch seine Familie
„schmerzlich treffen“, und überhaupt sehe
er sich nicht in der Lage zu begreifen, war-
um sein Antrag abgelehnt wurde.

„Dieser D’Annunzio, unter dem das al-
les geschah, soll also bloß ein etwas extra-
vaganter Künstler gewesen sein?“, sagt Bo-
ris Zakošek, der leitende Archivar, und
scrollt an seinem Computer durch die
Scans zweier Bücher, die den Stempel des
„Nationalrats der Geflüchteten aus Rijeka“
tragen. Darin sind von Hand insgesamt
3013 Namen notiert, von Menschen, die
während D’Annunzios Herrschaft die Stadt
offenbar sehr eilig verlassen haben. Slavi-
ca Havić, Schülerin. Nicola Petrić, Ange-
stellter. Oskar Rosenberg, Arzt.
Heute sind die Italiener in Rijeka eine
Minderheit, etwa zwei Prozent der Bevölke-
rung, aber eine immer noch sehr präsente
Minderheit, unterstützt von der Regierung
in Rom. Es gibt fünf italienische Schulen,
eine italienischsprachige Tageszeitung,
und die „Gemeinschaft der Italiener von
Fiume“. Deren Vorsitzende, Melita Sciuc-
ca, im Hauptberuf Lehrerin, sitzt in einem
Café, aus dessen Vitrinen die ganze Pracht
der europäischen Zuckerbäckerkunst
strahlt: Tiramisu, Cremeschnitten, Maca-
rons. Melita Sciucca, in einem Kleid, das es
an Buntheit mit der Auslage durchaus auf-
nehmen kann, bestellt Millefoglie-Eis und
erzählt von ihrer Großmutter. Die war
15 Jahre alt, als D’Annunzio die Stadt ein-
nahm: „Sie war verrückt nach ihm“, sagt
sie, „sie hat mir oft erzählt, wie sie und ihre
Freundinnen jedes Mal hinliefen, wenn er
auftrat.“ Allerdings sei die Großmutter
eine einfache Frau gewesen, Näherin, an
Politik nicht interessiert: „Wenn sie heute
15 Jahre alt wäre, würde sie vermutlich für
Justin Bieber schwärmen.“
Sie selbst, sagt Melita Sciucca, könne
nun wirklich keine Nationalistin sein. Als
Kind sei sie bei den jugoslawischen Pionie-
ren gewesen, sie habe zu Titos Geburtstag
die Staffel getragen. Und als zum ersten
Mal auf dem Schulhof andere Kinder her-
überriefen: „Italiener, Faschisten“, da habe
sie sich nur gewundert: „Ich wusste gar
nicht, was das Wort bedeutet.“

In jüngster Zeit erlebe sie es öfter, dass
auf der Straße jemand zischelt: „Italiener,
geht nach Hause!“ Die Nerven liegen blan-
ker, seit in Rom der Nationalismus wieder
Regierungslinie ist. Im Februar trat der da-
malige Präsident des Europäischen Parla-
ments, Antonio Tajani von der Berlusconi-
Partei Forza Italia, nahe Triest bei einer Ge-
denkveranstaltung an einem Mahnmal für
die Italiener auf, die im Zweiten Weltkrieg
von jugoslawischen Partisanen getötet
wurden. „Es lebe das italienische Istrien,
es lebe das italienische Dalmatien“, rief er,
was bei den Regierungen von Slowenien
und Kroatien, zu denen die Regionen heu-
te gehören, gar nicht gut ankam. Tajani ent-
schuldigte sich, im Internet aber kochten
die Emotionen noch lange nach; Melita
Sciucca bekam auf Facebook Kommentare
zu lesen wie: „Ich bedaure, dass mein Groß-
vater damals seine Waffe aus der Partisa-
nenzeit vergraben hat.“
Ihren Dichter D’Annunzio aber will sich
Melita Sciucca auf keinen Fall nehmen las-
sen. Mit ihren Schülern liest sie bis heute
in jeder Klasse dessen ersten Roman „Il pia-
cere“, und das Gedicht „La Pioggia nel Pine-
to“, die geradezu musikalische Schilde-
rung eines Sommerregens. „Was für eine
reine, klare Sprache er gebraucht hat – es
ist wunderbar.“
Eigentlich wollte sie am 12. September,
dem hundertsten Jahrestag des Einmar-
sches, im alten Gouverneurspalast eine
Veranstaltung organisieren: eine Buchprä-
sentation eines gerade in Italien neu er-
schienenen Werkes, dessen Autor argu-
mentiert, D’Annunzio sei kein Faschist ge-
wesen. „Aber da haben mir selbst die Leute
aus dem italienischen Außenministerium
gesagt: Lass es lieber, nicht ausgerechnet
an diesem Datum.“
Ärger gibt es nun stattdessen etwa
80 Kilometer nordwestlich von Rijeka, un-
mittelbar hinter des slowenisch-italieni-
schen Grenze: Die Stadt Triest will zum
hundertjährigen Jubiläum der Eroberung
von Fiume eine Statue von D’Annunzio ein-
weihen. Der Dichter, sitzend, in ein Buch
vertieft. Die linke Opposition in der Stadt
hat bereits Unterschriften dagegen gesam-
melt, der Bürgermeister von Rijeka hat
sich dem Protest angeschlossen. Melita
Sciucca findet das „absurd“, sagt sie: „In
Triest gibt es auch eine Statue von Kaiserin
Sisi. Warum nicht eine von D’Annunzio?“
Tea Perinčić, die kroatische Historike-
rin, sagt dagegen: „Das ist doch so anachro-
nistisch. Was genau wollen die Triester da-
mit ausdrücken? Es macht mich wirklich
wütend.“

Die Historikerin Tea
Perinčić(oben) hat von
der Stadt den Auftrag,
dem Rest der Welt
im Kulturjahr 2020
ein halbwegs gerechtes
Bild von Gabriele
D’Annunzio zu präsen-
tieren. Die Lehrerin
Melita Sciucca,
Vorsitzende der
„Gemeinschaft der
Italiener von Fiume“,
liest den italienischen
Dichter gerne mit
ihren Schülern.

Mussolinis


Muse


Vor hundert Jahren machte der


italienische Dichter


Gabriele D’Annunzio das heutige


Rijeka zum Experimentierfeld


des Faschismus


von tobias zick


Der Führerkult nimmt vieles


vorweg, was Mussolini später


zur Regierungsform erhebt


Die Behörden vernichten
reihenweise Existenzen – etwa
durch Berufsverbote

Heute sind die Italiener in Rijeka
eine Minderheit – aber immer
noch eine sehr präsente

Der italienische Dichter
undFrauenheld
Gabriele D’Annunzio
(in der Mitte mit Stock)
umgeben von
„Legionären“. 1919
rollte er zusammen
mit 2000 Mitstreitern
in Fiume, dem
heutigen Rijeka, ein.
FOTOS: MAURITIUS IMAGES (2),
TOBIAS ZICK (2)

20 km
SZ-Karte/Maps4News

Rijeka
(früher Fiume)

KROATIEN
Istrien Krk

Cres

SLOWENIEN

ITALIEN

Triest

Adria

DEFGH Nr. 207, Samstag/Sonntag, 7./8. September 2019 HISTORIEGESELLSCHAFT 59

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