Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1

O


là là, was haben wir denn da?
Einen richtig aufregenden Look!
Catherine Deneuve macht wäh-
rend der Filmfestspiele von Venedig
alles, was ihre langweiligen, jungen
Diven-Nachfolgerinnen nicht machen.
Erstens: Sie trägt eine Haute-Couture-
Kreation von Jean Paul Gaultier, der
mittlerweile im Travestie-Business er-
folgreicher ist als in der Mode (seine
„Fashion Freak Show“ läuft erfolgreich
in Paris). Zugegeben, die Filmdiva wirkt
in dem orangefarbenen Seidenmantel
mit gigantischem Revers und den wogen-
den Marabufedern am Saum ein biss-
chen so wie eine Assistentin des Zaube-
rers, die den Zauberstab selbst in die
Hand nimmt. Zweitens: Sie pfeift auf
den obligatorischen Oberarmkomplex
älterer Damen, geht ärmelfrei und hat
drittens null Angst vor ihrem eigenen
Ich, also ihrer Käferfigur. Mit diesem
Phänomen haben viele 75-Jährige zu
kämpfen – klapprige Extremitäten,
dafür ordentlich Zuwachs in der Körper-
mitte. Hintenrum hat der Mantel zudem
gar keinen Stoff, seine Vorderteile wer-
den nur von einem Gürtel gehalten.
Weswegen der Blick sofort auf die
Rückenhaut fällt, die sich über die Kante
des Bustier-Kleids schmiegt, und nicht
etwa auf Madames Nacken-Tattoo.
Kurz: Dieser Look ist eine Freude und
eine Erinnerung, dass Mode nicht dazu
da ist, endlos sexy zu sein. Sondern end-
los cool. julia werner


von hilmar klute

W


ie es aussieht, kommt das
Gehen allmählich aus der
Mode. Gerade in Berlin,
das ja einmal neben Paris
so etwas wie die Haupt-
stadt der Flaneure war, wird das schmale
Bewegungsfeld des Fußgängers immer
entschiedener von Leuten mit Fahrzeugen
gekapert. Der jüngste Aufschrei gilt dem
Elektroroller, der dem Gefühl, sich immer
zeitgemäß und modern bewegen zu müs-
sen, neuen Anstoß gibt. Es ist schon länger
so, dass der Fußgänger nur noch ein stiller
Alltagsteilnehmer ist und einer, der übri-
gens über keinerlei Lobby verfügt.
Die Radfahrer, die ihn auf dem Geh-
steig, sofern er Glück hat, lediglich strei-
fen, sind gut organisierte Rowdys, deren In-
teressen der Allgemeine Deutsche Fahrrad-
Club vertritt, der bestimmt auch einen An-
walt bezahlt, wenn einer ihrer Leute mal
wieder eine Oma oder ein Kleinkind umge-
fahren hat. Aber ein Allgemeiner Deut-
scher Fußgängerclub oder eine Interessen-
gemeinschaft deutscher oder europäi-
scher Flaneure ist nicht bekannt. Und
wenn es die gäbe, würde sie sich vermut-
lich nicht von den Beiträgen seiner Mitglie-
der finanzieren lassen, denn Flaneure sind
kein urbanes Zukunftsmodell. Wenigstens
gilt das für den herkömmlichen Flaneur,
der wie eh und je zu Fuß geht. Die Rolle des
E-Flaneurs müsste erst noch geprüft wer-
den; als E-Flaneure könnte man, mit viel
gutem Willen, die Menschen bezeichnen,
die ihre Füße auf Segways stellen, anstatt
mühsam einen Fuß vor den anderen zu set-
zen. Aber die sehen eben wahnsinnig be-
scheuert aus auf diesen Schubkarren der
Bewegungsunlust. Und klassische Flaneu-
re, jedenfalls lautet so die Überlieferung,
haben seit ihrem ersten Auftreten auf der
Großstadtbühne eigentlich einen eher er-
freulichen Anblick geboten.
Wir erinnern uns: Im neunzehnten Jahr-
hundert begannen die Städte zu dem zu
werden, was wir heute Metropolen nen-
nen. Allen voran Paris, das der Präfekt
Georges-Eugène Haussmann unter Auf-
wendung von sehr viel Zeit, Baumaterial,

Menschenkraft und Steuergeldern von ei-
ner winkeligen, engen und stinkenden
Stadt zu einer hellen, freundlichen und ei-
nigermaßen sauberen Kapitale hat umbau-
en lassen. Die kleinen Sackgassen ließ er
schon deshalb abreißen, damit die Franzo-
sen nicht mehr auf die Idee kamen, irgend-
wo in Paris eine Barrikade zu errichten.
Das sollte mit dem Jahr 1848 endgültig der
Vergangenheit angehören. Wo mehr
Raum zum Gehen entstand, bildeten sich
auch neue Kulturen des Gehens heraus.
Solche, bei denen es darauf ankommt,
beim Gehen gesehen zu werden.

Der Flaneur des neunzehnten Jahrhun-
derts war eine solche Repräsentationsfi-
gur; er hat, wie es Walter Benjamin in sei-
nem Baudelaire-Aufsatz schreibt, „den
Boulevard zum Interieur“ gemacht: „Die
Straße wird zur Wohnung für den Flaneur,
der zwischen Häuserfronten so wie der
Bürger in seinen vier Wänden zuhause ist.“
Anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts wa-
ren die Städtebewohner so weit, sich an
die rasanten Neuerungen der Verkehrs-
technik zu gewöhnen, und wurden ihrer
sogar schon wieder überdrüssig. Auto-
mobile, Busse, Straßenbahnen begannen
überhandzunehmen. Der Fußläufigkeit
maß man jetzt wieder ein hohes Maß an
Würde und Eleganz bei. Wer geht, sieht
mehr und erlebt in der freiwilligen Verlang-
samung seine vertraute Stadt auf andere,
verzauberte Weise. Mag Benjamin das the-
oretische Rüstzeug für den Flaneur gezim-

mert haben, so war sein Freund, der
Schriftsteller Franz Hessel, gewisserma-
ßen der praktische Ausleger dieser Lehre.
Hessel war der erste kritische Fußgänger,
dem die kulturelle Gegenläufigkeit seines
Tuns bewusst war: „Hier geht man nicht
wo, sondern wohin“, schrieb Hessel über
die deutschen Städte, deren Betrieb schon
damals dem Nutzen und der Effektivität
verschrieben war. „Hierzulande muss
man müssen, sonst darf man nicht.“
Wer ziellos zu Fuß geht, gerät schnell in
Verdacht, etwas im Schilde zu führen, ein
„Geheimer“ zu sein, der etwas auskund-
schaften will, oder ein Taschendieb, der
nur den günstigen Moment für den krimi-
nellen Zugriff abwartet. Franz Hessel hat
das Zufußgehen aber als professionelle Un-
ternehmung verstanden. „Mit dem Herum-
laufen allein ist es nicht getan“, schreibt er
in seinem berühmten Buch „Spazieren in
Berlin“. Deshalb lässt er sich von einem Ar-
chitekten erklären, wie die Stadt, durch die
er geht, funktioniert. Von einer alten Dame
erfährt er, wie die Geschichte Preußens bis
in die Familienspitzendecken nachwirkt.
Die Stadt ist für den Flaneur ein großes Er-
kenntnislabor: „In seinen Tempeln der Ma-
schine muss man es aufsuchen, in seinen
Kirchen der Präzision.“ Der Flaneur des
Hessel’schen Zeitalters war für die Erschlie-
ßung der Großstadt beinahe ebenso verant-
wortlich wie die Stadtvermesser und Bau-
meister. Er musste für die Erzählung sor-
gen, sein Auftrag war es, das Weichbild der
Stadt zu zeichnen – weg vom rein architek-
tonischen, hin zu einem im Wortsinn be-
gehbaren Modell. Der Flaneur lieferte die
geschichtliche Erklärung der Stadt, die er
selbst wiederum „wie ein Buch liest“ (Hes-
sel) und deutet.
Wer heute durch Berlin geht, wird von
den Arbeitsbedingungen des Flaneurs
früherer Tage kaum eine Ahnung bekom-
men. Die Aufgabe des wandelnden Aufklä-
rers haben Gedenkplaketten und Schauta-
feln übernommen; was wo wann passiert
ist, lässt sich am authentischen Ort oder
später im Netz nachlesen.
Auch für den Flaneur Franz Hessel gibt
es eine solche Tafel, sie ist neben dem Ein-
gang zu seinem ehemaligen Wohnhaus in

der Lindauer Straße in Schöneberg ange-
bracht: „Er (...) erklärte den Berlinern als
Flaneur ihre Stadt“, steht dort auf eloxier-
tem Aluminium. Als die Nationalsozialis-
ten kamen, durfte Hessel zwar noch ge-
hen, aber nichts mehr veröffentlichen.
1938 zog er dann fort, nach Frankreich, wo
ihn die Schergen des Vichy-Regimes ins La-
ger Les Milles sperrten. An den Folgen der
Schinderei starb der große Flaneur 1941 in
Sanary-sur-Mer. Die Nachfrage nach sei-
nen Texten ist gestiegen, seit Berlin sich
wieder gerne in seinen alten kulturellen
Traditionen spiegelt, an große Namen erin-

nert und alte Gebäude restauriert oder so-
gar, wie das Stadtschloss, neu aufbaut.
Wie es aussieht, wird Hessel trotzdem
immer noch zu wenig gelesen. Denn in den
Überlegungen zur Auffrischung der Stra-
ßenverkehrsordnung kommen die Fuß-
gänger kaum vor. Berlin hat, mehr als an-
dere deutsche Großstädte, der Zweiradmo-
bilität Privilegien gegenüber dem Passan-
ten eingeräumt, der ja statistisch und er-
fahrungsgemäß zu den am wenigsten
aggressiven Verkehrsteilnehmern gehört.
Das Territorium des Fußgängers ist der
Bürgersteig – schon der Name zeigt an,
dass auf diesem klar abgegrenzten Strei-
fen die alte gutbürgerliche Fortbewegungs-
art, das Gehen, zu Hause sein soll. Aber
geh mal in Prenzlauer Berg durch die
Wörther Straße oder in Mitte durch die
Linienstraße. Überall gebiert die Mobili-
tätszurüstung neue Aggressionstypen des

öffentlichen Lebens. Nie waren Radfahrer
derart schnell in der Stadt unterwegs wie
heute, und da sind die E-Bike-Fahrer noch
nicht eingerechnet. Wie man mit einem
E-Roller dergestalt fährt, dass sich jeder si-
cher fühlen kann, ist offenbar ähnlich un-
erforscht wie die Wirkung der E-Zigarette.
Weil die Elektroroller mobiles Neuland
sind, muss man sich zudem noch vor dem
Dilettantismus ihrer Benutzer fürchten.
Keine Ahnung, wer den Befehl ausgege-
ben hat, dass der öffentliche Raum unbe-
dingt durchrast werden muss. Jedenfalls
müsste für den Flaneur, gäbe es ihn im
Sinne Franz Hessels heute noch, nun ein
neues Kapitel der Urbanismuskritik anbre-
chen. Natürlich war er aber immer als halb
reale Figur nur irgendwo zwischen urba-
ner Wirklichkeit und literarischer Fiktion
unterwegs. Der Flaneur ist eigentlich nä-
her am Roman als an der Wirklichkeit des
Asphalts.
ImFreitagstand kürzlich ein klagender
Text darüber, dass es kaum weibliche Fla-
neure, also „Flaneusen“ gegeben habe und
somit der weibliche Blick auf die Groß-
stadt zu kurz gekommen sei. Das hat sei-
nen Grund darin, dass allein gehende Frau-
en im 19. Jahrhundert in den Ruch der Pros-
titution gebracht wurden. In Baudelaires
berühmtem Gedicht „An eine, die vorüber-
ging (À une passante)“ steht die Zeile: „Ich
habe mein Geschick in deinem Blick er-
kannt.“ Die Spaziergängerin verfügt also
über kein eigenes Sehen, sondern spiegelt
die Wahrnehmung des Dichters. Und das
kann Ärger bringen, wie man aus der Re-
zeption eines anderen berühmten Flaneur-
Gedichts weiß, nämlich Eugen Gomrin-
gers „Avenidas“, an dessen Schluss ein „Be-
wunderer“ ins Bild rückt und mit diesem
kurzen Auftritt die Empörung von Studen-
ten und Moralisten auf sich gezogen hat,
die sich herabgesetzt fühlten.
Der Flaneur ist der Bewunderer, weil er
dem Alltag einen besonderen Weltzauber
verleiht. Man muss ihn dafür nicht lieben,
aber falls er mal hier und dort auftaucht,
könnte man einen großen, respektvollen
Bogen mit dem E-Roller um ihn machen.
Wenn nicht aus Bewunderung, dann bitte
aus Sicherheitsgründen.

Geht’s noch?


E-Roller, Fahrradstraßen, Carsharing: Die Mobilität in den Städten verändert sich.


Nur einer wird dabei zunehmend übersehen – der Fußgänger


D


er Schauspieler Timothée Chala-
met hat sich in den letzten Jah-
ren nicht nur als hinreißender
Jünglingsdarsteller sondern auch als
probates „clothes horse“ etabliert. In
letzterer Funktion schenkte er uns bei
seinem Auftritt auf dem Roten Teppich
in Venedig einen glänzenden Blick auf
die Zukunft der Herrenmode. Eigentlich
gebührt der Applaus dafür aber natür-
lich dem Designer Haider Ackermann,
von dem dieses Ensemble stammt und
der schon seit einiger Zeit an einer spiele-
rischen, leichteren Abendmode für Her-
ren forscht. Der junge Herr Chalamet
trägt uns das Ergebnis jetzt sehr plausi-
bel vor: Ein gut konturierter Blazer kom-
biniert mit elegant fallendem Seiden-
shirt, die moderne Silhouette wird dabei
zusätzlich mit zwei passenden Gürteln
betont und das insgesamt genderneutra-
le Outfit mit den markanten Stiefeln
wieder etwas maskulin geerdet – müss-
te aber gar nicht sein. Auch so ist das ein
Beweis dafür, dass sich Mann und Frau
irgendwann vielleicht wirklich einen
Kleiderschrank teilen können. Erstaun-
lich: Obwohl das Outfit einerseits ein
wenig nach einem außerirdischen Wür-
denträger in einem „Star Trek“-Film
aussieht, passt es andererseits auch zu
der Kostümwelt der Shakespeare-Verfil-
mung „The King“, wegen der Chalamet
angereist war. Retro-Futurismus und
das auch noch in Venedig – ein echter
Fashionmoment! max scharnigg


Catherine Deneuve und


der Mut zum Look


Timothée Chalamet und


dieZukunft des Anzugs


DEFGH Nr. 207, Samstag/Sonntag, 7./8. September 2019 61


STIL


LADIES & GENTLEMEN


Der Flaneur ist ein
Bewunderer, der dem Alltag
besonderen Weltzauber verleiht

FOTOS: AFP, HERSTELLER

Wer zu Fuß geht, gerät
schnell in Verdacht, etwas im
Schilde zu führen

Die von Haussmann gestalteten Straßenzüge in Paris luden zum Flanieren ein – wie auf dem Gemälde von Gustave Caillebotte „Straße in Paris an einem regnerischen Tag“ von 1877 zu sehen. FOTO:PUBLIC DOMAIN
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