Süddeutsche Zeitung - 07.09.2019 - 08.09.2019

(Rick Simeone) #1
von tobias zick

Kittsee – Wenn der Ort, der lange am Ende
der Welt lag, nun mittendrin ist im verein-
ten Europa, muss man sprachlich halt im-
provisieren. „It is too small“, sagt die Erzie-
herin zu dem Vater, der seine Tochter in
den Kindergartens bringt, der USB-Stick
hat zu wenig Speicher für die Fotos der Kin-
der; der Vater nickt und steckt ihn wieder
ein. Er spricht kein Deutsch, die Erzieherin
kein Slowakisch, aber das Nötigste bekom-
men sie auf Englisch hin, wenn es gut
läuft. Was es nicht jeden Tag tut.
It is too small: Was für den USB-Stick
gilt, lässt sich von der ganzen Einrichtung
sagen, dabei ist das Gebäude keine fünf
Jahre alt. Helles Holz, hohe Gänge, weitläu-
figer Garten; reichlich Platz für Frosch-,
Käfer, Regenbogen- und vier weitere Grup-
pen. 200 Kindergartenkinder werden täg-
lich gebracht, dazu 15 Krippenkinder. „Wir
sind natürlich voll“, sagt Leiterin Christine
Schmid. Man könnte, hätte man mehr
Platz und Personal, noch mehr Kinder auf-
nehmen; die normalen Herausforderun-
gen eines Großstadtkindergartens, aller-
dings: Dies ist keine Großstadt, dies ist
Kittsee, Burgenland, Österreich, 3300 Ein-
wohner. Der letzte Ort vor der Grenze zur
Slowakei, bis vor 30 Jahren Endstation
vorm Eisernen Vorhang. Sogar die Krähen
machen hier kehrt, sagten die Leute. „Ich
hätte nie gedacht, das ich mal unter sol-
chen Bedingungen arbeiten würde wie
heute“, sagt Schmid. Sie ist seit 1983 beim

Kindergarten Kittsee, damals hatte sie
drei Kolleginnen, heute 23. „Ja, man kann
schon sagen, dass wir jetzt in der Anonymi-
tät einer Großstadt arbeiten“, sagt sie.
„Das ist für uns Ältere nicht ganz einfach.“
Kittsee liegt nicht nur an einer europä-
ischen Staatengrenze, die nun eine offene
Schengen-Grenze ist. Der Ort liegt zehn
Autominuten von der Hauptstadt des
Nachbarlandes Slowakei entfernt. Bratisla-
va, Pressburg, eine halbe Million Einwoh-
ner, von internationalen Konzernen und
Investoren als Boomtown gefeiert. Miet-
wohnungen sind knapp, seit die Regie-
rung die sozialistischen Bestände versil-
berte. Die Preise nähern sich Münchner Ni-
veau, 750 Euro für 60 Quadratmeter gel-
ten als normal. Und normal sind auch Ge-
hälter um die 1000 Euro. Da stellt sich die
Frage, wo man sonst noch wohnen könnte.
Dass eine Antwort westlich des alten Ei-
sernen Vorhangs liegt, in der „größten Ma-
rillengemeinde Österreichs“, sprach sich
vor gut zehn Jahren herum. Kittsee hat
nicht nur 35 000 Obstbäume, sondern
auch viel Platz. In den Achtzigerjahren wur-
de Agrar- in Bauland umgewidmet, doch
die Nachfrage hielt sich in Grenzen. Wien
ist mit Auto oder Zug eine knappe Stunde
entfernt, fürs Pendeln einen Tick zu weit,
zudem hat Wien nicht das Wohnungspro-
blem anderer europäischer Großstädte.
Die Nachfrage kam aus der anderen
Richtung. Von den 3300 Einwohnern sind
heute rund 42 Prozent „Neu-Kittseer“, wie
der Bürgermeister zu sagen pflegt, die

meisten pendeln nach Bratislava. 76 Pro-
zent der Kinder im Kindergarten haben
Slowakisch als Muttersprache, die Erziehe-
rinnen haben sich den Wortschatz für die
gängigsten Herausforderungen beige-
bracht. Musst du Pipi, hast du Hunger, Ma-
ma kommt gleich. Als es noch weniger slo-
wakische Kinder waren, sagt Christine
Schmid, hätten die meisten fast von selbst
Deutsch gelernt. „Aber jetzt fehlt der An-
reiz, weil sie ja mit Slowakisch so gut zu-
rechtkommen.“ Was wiederum manchen
Eltern aufstoße, die wollten, dass ihre Kin-
der hier Deutsch lernen. „Neulich fragte
mich eine slowakische Mutter: Warum
sind hier so viele Slowaken?“, erzählt
Schmid. „Da habe ich ihr geantwortet: Na
ja, Sie sind ja auch da.“

Der Grenzübergang, gleich hinter den
Bahnschienen, ist an diesem Tag eher sym-
bolisch besetzt von zwei Männern mit
orangenen Westen über der olivgrünen
Uniform. Einer starrt mit einem Fernglas
in die Autos hinein, die ins Land rollen. Jo-
sef Leban, Gastwirt aus Kittsee, 43, radelt
an ihnen vorbei, auf dem früheren Pa-
trouillenweg der slowakischen Grenzer.
„Das ist doch cool“, sagt er, „ich radle 15 Mi-
nuten und bin in einer europäischen
Hauptstadt.“ Nach der nächsten Biegung

taucht die Skyline auf, die für ihn als Junge
eine Verheißung war. Da stand er oft und
staunte die Lichter der Großstadt an,
acht-, zehnstöckige Häuser, hinter der ent-
fernt tosenden Autobahn. Radelt man wei-
ter, erhebt sich die Pressburg über der Do-
nau, das Wahrzeichen Bratislavas.
Für Leban ist seit je klar, dass die Phase
des Eisernen Vorhangs nur ein Wimpern-
schlag der Geschichte war. Das Burgen-
land gehörte einst zu Ungarn, sein Großva-
ter ist Kroate, Kittsee war immer ein Ort,
wo das Konzept nationalstaatlicher Gren-
zen eher abstrakt ist. „Ich freue mich jedes
Mal, wenn meine Kinder drüben in Brati-
slava beim Eishockeyturnier ein Tor schie-
ßen“, sagt er, „und dann mit den anderen
auf Slowakisch jubeln und ich kein Wort
verstehe. Das ist für mich Europa.“
Josef Leban und seine Frau haben ihre
Kinder in Bratislava in den Kindergarten
geschickt, damit sie Slowakisch lernen.
Das gab Gerede im Dorf, bis heute. Einige
frühere Stammgäste kommen nicht mehr,
manchmal erzählt ihm jemand, was ande-
re gesagt haben sollen: „Dass ich offenbar
nur noch auf die Slowaken abfahren wür-
de.“ Weil er die Speisekarte zweisprachig
aushängt. Weil er einmal im Monat einen
„offenen Tisch“ für Alt- und Neukittseer
veranstaltet. „Viele kleine Missverständ-
nisse hier rühren ja nicht daher, dass zwei
Nationalitäten aufeinandertreffen. Son-
dern Landbewohner und Großstädter.“
Kittsee, bald ein Vorort Bratislavas?
Das sieht der Bürgermeister anders. Johan-

nes Hornek, 53 Jahre, ÖVP, gelernter Elek-
triker und Landwirt, fährt im offenen
Landrover vor. Er steuert den Geländewa-
gen auf einen Feldweg nah der Grenze, vor-
bei an Mais- und Sojafeldern, „alles bio“,
sagt er, und dann: „Da ist eine!“ Gerade
noch in Sichtweite hebt ein Vogel ab, mit
schwerfälligen Flügelschlägen. Eine Groß-
trappe, der größte flugfähige Vogel der
Welt. Die Trappen hätten sich hier reich-
lich vermehrt, sagt Hornek, seit die meis-
ten Landwirte auf Bio umgestellt haben,
wie er, schon vor 25 Jahren: „Da sieht man
doch, wie die Natur sich entwickeln kann,
wenn man ihr ein bisserl Platz lässt.“
Lieber langsam und langfristig wirt-
schaften: Nach diesem Prinzip fing er an,
Kittsee zu regieren, als er vor zwei Jahren
gewählt wurde. Die Stimmung war ange-
spannt, viele fragten, was sie davon hät-
ten, wenn so viel Geld in Kindergarten und
Schule fließt, die vor allem Kinder von Zu-
züglern besuchen. „Es ging einfach alles
zu schnell“, sagt Hornek, „mir haben
selbst Neu-Kittseer gesagt: Herr Bürger-
meister, es ist genug.“ Die Leute hatten
sich fürs Landleben entschieden, weil ih-
nen Bratislava ihnen zu stressig wurde.

„Inzwischen ist die Stimmung besser“,
sagt er. „Die Leute sehen jetzt, dass für je-
den etwas gemacht wird.“ Er hält an einem
Drahtzaun vor einem Baggersee, am Ufer
gegenüber drängen sich strahlend weiße,
sehr eckige Reihenhäuser. „Nicht eben ein
Lieblingsprojekt von mir“, sagt er, aber
jetzt müssen wir damit leben.“
Auf der unbebauten Seite des Weihers
hat die Gemeinde einen Badestrand einge-
richtet, der leicht verwilderte Schlosspark
wird aufgehübscht, auf dem Hauptplatz
wachsen neue Bäume: „Kleine Verschöne-
rungen, von denen alle Kittseer etwas ha-
ben“, sagt Hornek. Die Wohnungsgenos-
senschaften hat er überzeugt, nicht mehr
ganz so schnell neue Blöcke hochzuziehen,
privaten Bauherren genehmigt man nur
noch Einzel- und Doppelhäuser. Kittsee
werde weiterwachsen, sagt Hornek, „aber
nicht mehr so arg. Wir könnten in zehn Jah-
ren soweit sein, dass wir 10 000 Einwoh-
ner haben. Ich bin eher dafür, dass wir
dann 5000 Einwohner haben und unsere
ländlichen Strukturen behalten mit geord-
netem Wachstum.“
Ja, die Stimmung habe sich in den letz-
ten zwei Jahren etwas entspannt, bestätigt
Adriana Pataková, gelernte Berufsschul-
lehrerin. Sie steht im Garten hinter ihrem
Haus, Trampolin, Rutsche, ein Marillen-
baum, ein Golden Retriever hüpft um die
drei Kinder herum. Die Pataks waren un-
ter den ersten, die aus der Slowakei nach
Kittsee kamen, 2004. Das Haus kostete
150 000 Euro, für eine Dreizimmerwoh-
nung in Bratislava hätten sie 220 000 be-
zahlt. „Und hier haben sich die Nachbarn
gefreut: Endlich wohnt wieder jemand in
dem Haus. Vieles stand seit langem leer.“
Sie habe aber auch Krisen gehabt. Im-
mer mehr Leute fragten: Warum ziehen so
viele Slowaken hierher? Warum sind im
neuen Einkaufszentrum sogar die Durch-
sagen auf Slowakisch? „Ich war es leid, im-
mer Ansprechpartnerin für solche Fragen
zu sein“, sagt Pataková. „Wir hatten eine
Zeit das Gefühl, wir müssten uns ständig
rechtfertigen.“ Sie überlegten, wegzuzie-
hen. Aber wohin? „Nach Bratislava wollten
wir nicht, nach Wien auch nicht.“ Und
schließlich sind die Kinder hier aufgewach-
sen, es ist ihre Heimat. „Ich kann die Leute
ja verstehen, die sich nach der alten, ruhi-
geren Zeit sehnen“, sagt Adriana Pataková.
„Aber die wird nicht wiederkommen.“

Istanbul– In letzter Minute wurde die An-
klage noch um ein Gedicht von Nazım Hik-
met bereichert, der türkische Dichter, ge-
storben 1963, ist ein Volksheld, er hat viele
Jahre seines Lebens im Haft verbracht. Ca-
nan Kaftancıoğlu, Chefin der säkularen
Partei CHP in Istanbul, hatte Hikmet zi-
tiert. Das war im Juli, da stand sie schon
zum zweiten Mal vor Gericht, wegen 35
Tweets aus den Jahren 2012 bis 2017. Am
Freitag, dem dritten Verhandlungstag,

sprach das Gericht sein Urteil: Neun Jah-
re, acht Monate und 20 Tage Haft. Wegen
Präsidentenbeleidigung, Erniedrigung
der Türkischen Republik und Terrorpro-
paganda. Und weil sie „keine Reue“ ge-
zeigt habe – und wegen des Gedichts mit
der Zeile: „Warum soll ich den Diener
schlagen, wenn ich auf den Herr wütend
bin“. Die Verteidigung hatte sich auf die
Meinungsfreiheit berufen.
Nach dem Urteil herrschte schockarti-
ge Stille in dem völlig überfüllten Gerichts-
saal. Zunächst war unklar, ob die CHP-
Chefin sofort verhaftet würde. Sie bleibt
auf freiem Fuß, mindestens bis zur Ent-
scheidung des Kassationsgerichts, das da-
für sechs Monate Zeit hat. Die Anklage

wurde im Mai erhoben. Für die CHP war
es deshalb ein politischer Prozess. Denn
Kaftancıoğlu, 47 Jahre alt und von Beruf
Medizinerin, gilt als die Frau, die maßgeb-
lich für den Erdrutschsieg ihres Partei-
freundes Ekrem Imamoğu bei der Istanbu-
ler Oberbürgermeisterwahl verantwort-
lich ist. Sie hatte den davor weitgehend un-
bekannten Kommunalpolitiker durchge-
boxt und seine Kampagne mitentworfen.
Der Verlust der Metropole Istanbul nach
25 Jahren konservativer Herrschaft war
ein schwerer Schlag für Erdoğan.
In ihrem Schlusswort sagte
Kaftancıoğlu, sie werde sich weiter frei äu-
ßern und kämpfen, bis „die Vormund-
schaft“ des Palastes ende. Nach dem Ur-
teil zitierte sie erneut das Hikmet-Gedicht
vor dem Gerichtsgebäude. Dort hatten
schon am frühen Morgen hunderte Men-
schen ihre Solidarität mit der CHP-Chefin
gezeigt. Auf Plakaten stand: „Die Frau ist
nicht einzuschüchtern, meine Herren,
lasst sie in Frieden.“ Der Verhandlung folg-
ten auch zahlreiche ausländische Diplo-
maten, ebenso wie die SPD-Bundestagsab-
geordnete Aydan Özoğuz. Sie sagte der
Süddeutschen Zeitung, das Urteil wirke
auf sie „wie ein großer Einschüchterungs-
versuch“. Auch Bürgermeister Imamoğlu
war zeitweise als Zuschauer im Saal.
Noch während des Prozesses wurde ei-
ne Äußerung von Innenminister Süley-
man Soylu bekannt. Soylu sagte, er werde
am Sonntag in einer Fernsehsendung be-
kanntgeben, ob auch Istanbul einen
„Zwangsverwalter“ bekomme, wie mehre-
re große Städte im Südosten des Landes,
wo im August kurdische Bürgermeister ih-
res Amtes enthoben und Stadträte aufge-
löst wurden. Dass die Regierung dies auch
in Istanbul wagen würde, bezweifelten
CHP-Politiker in ersten Reaktionen.
Imamoğlu reagierte nur kurz und knapp:
Er sagte, er werde sich auf keine Polemik
einlassen. christiane schlötzer

Bußgeld soll Claus-Peter
Reisch, der Kapitän des Ret-
tungsschiffesEleonore, nach
Angaben der Organisation
„Mission Lifeline“ an italieni-
sche Behörden zahlen. Dage-
gen habe man Widerspruch
eingelegt, so ein Mission-Life-
line-Sprecher. DieEleonore
war am Montag mit gut 100
Migranten an Bord trotz
eines Verbots in den Hafen
Pozzallo auf Sizilien eingelau-
fen. Das Schiff wurde be-
schlagnahmt, die Organisati-
on rechnet laut dem Spre-
cher nicht damit, es wiederzu-
bekommen. 2018 hatte sie
das SchiffLifelineverloren,
das in Malta beschlagnahmt
wurde. DPA

Warschau– Russland und die Ukraine ste-
hen vor dem größten Gefangenenaus-
tausch seit Kriegsbeginn in der Ostukrai-
ne 2014. Präsident Wladimir Putin und
ukrainische Offizielle bestätigten, dass
ein umfangreicher Austausch bevorstehe


  • möglicherweise bereits an diesem Sams-
    tag. Übereinstimmenden Meldungen zu-
    folge will Moskau der Ukraine neben wei-
    teren Gefangenen den Regisseur Oleg Sen-
    sow und 24 Seeleute übergeben, die Russ-
    land bei einem Angriff auf ukrainische
    Marineboote vor der Meerenge von
    Kertsch am 25. November 2018 festnahm.
    Insgesamt sollen je 35 Gefangene ausge-
    tauscht werden, sagte die Sprecherin des
    ukrainischen Generalstaatsanwalts in
    Übereinstimmung mit Russlands Justiz-
    minister Alexander Konowalow.
    Russland soll seinerseits Soldaten oder
    Geheimdienstoffiziere oder Rebellenkom-
    mandeure bekommen, die in der Ostukrai-
    ne kämpften. Am wichtigsten aus Kreml-
    sicht ist die Übergabe von Wladimir Ze-
    mach – in der Ostukraine lange Komman-
    deur einer Flugabwehreinheit. Der Inves-
    tigativgruppe Bellingcat zufolge war Ze-
    mach am 17. Juli 2014 auf rebellenkontrol-
    liertem Gebiet beim Dorf Schnischne Zeu-
    ge des Abschusses des malaysischen Pas-
    sagierfluges MH-17 durch eine russische
    Einheit. Zemach half nach eigener Aussa-
    ge, das russische Buk-Raketensystem zu-
    rück nach Russland zu schaffen.
    Zemach wurde am 27. Juni vom ukraini-
    schen Geheimdienst aus Schnischne ent-
    führt, nach Kiew gebracht und wegen Ter-
    rorismus angeklagt. Er wäre auch in ei-
    nem in den Niederlanden anstehenden
    Prozess gegen bisher vier angeklagte Rus-
    sen ein wichtiger Zeuge oder gar weiterer
    Angeklagter. DemNRC Handelsbladzufol-
    ge bat der niederländische Generalstaats-
    anwalt Fred Westerbake die Ukraine, Ze-
    mach nicht an Russland zu übergeben.
    Doch Präsident Putin soll auf der Überga-


be Zemachs bestanden haben, berichte-
ten der ukrainische Ex-Parlamentarier
Mustafa Nayyem und weitere Politiker.
Moskau bestreitet seine Verantwortung
für den Abschuss von Flug MH-17, bei
dem 298 Menschen starben.
Der geplante Austausch wurde laut Prä-
sident Wolodimir Selenskij von ihm
selbst eingeleitet. Er habe gesehen, dass
Russland sich geweigert habe, ein Urteil
des Internationalen Seegerichtshofes
vom 25. Mai umzusetzen und die 24
rechtswidrig gefangen genommenen See-
leute freizulassen. Daraufhin habe er zwei
Mal mit Putin telefoniert und über einen
möglichen Austausch sowie über den
Krieg in der Ostukraine und die weiteren
Beziehungen gesprochen, sagte Selenskij
am 30. August im ukrainischen Fernse-

hen. Putin bestätigte am 5. September auf
einem Wirtschaftsforum in Wladiwostok,
dass die Verhandlungen kurz vor dem Ab-
schluss stünden und ein Austausch bevor-
stehe. Dieser wäre „ein guter Schritt nach
vorne, in Richtung einer Normalisierung“
der russisch-ukrainischen Beziehungen.
Selenskij hatte als Präsidentschaftskandi-
dat die Beendigung des Krieges und besse-
re Beziehungen zu Moskau versprochen.
Ukraines Präsident will sich mit Putin
im Normandie-Format treffen – also un-
ter Beteiligung von Kanzlerin Angela Mer-
kel und Frankreichs Präsident Emmanuel
Macron. „Ich denke, dass wir uns nur,
wenn wir uns in die Augen sehen, und dies
in Anwesenheit westlicher Führer, eini-
gen und (eine Einigung) unterschreiben
können – das ist das Wichtigste“, sagte Se-
lenskij über seine Telefonate mit Putin.
Der ukrainische Präsident telefonierte
bereits vier Mal mit Merkel, drei Mal mit
Macron. Am 2. September trafen sich Di-
plomaten aus Russland, der Ukraine,
Frankreich und Deutschland in Berlin zur
Vorbereitung eines möglichen Treffens
im Normandie-Format. Ein Termin steht
nach SZ-Informationen noch nicht fest.
Ukraines Außenminister Wadim Pristai-
ko zufolge müsse Kiew „einige schmerz-
hafte Kompromisse eingehen“, um den
Konflikt zu beenden.
Diese könnte etwa die Zustimmung zu
faktischer Autonomie für die Ostukraine
oder zu Wahlen bedeuten, die Moskaus
Kontrolle festschreiben. Vor Ort ist indes
von Entspannung noch nichts zu sehen.
Der ukrainischen Armee zufolge beschos-
sen Rebelleneinheiten allein am Donners-
tag ukrainische Positionen an 13 Stellen
der „Kontaktzone“, der faktischen Frontli-
nie zu den von Moskau-treuen Rebellen
kontrollierten Gebieten um Donezk und
Lugansk. Ein Soldat starb – der bereits 73.
getötete ukrainische Armeeanhörige in
diesem Jahr. florian hassel

Ein Gedicht zu viel:
Canan Kaftancıoğlu. FOTO: AP

Stammgäste kommen nicht
mehr, weil der Wirt die Karte
zweisprachig aushängt

An der Grenze


Weil die Preise in Bratislava steigen, ziehen viele Slowaken nach Österreich. In der Kleinstadt Kittsee, einst
Endstation vor dem Eisernen Vorhang, stoßen nun Landbewohner auf Großstädter. Das gefällt nicht allen

300 000


Euro


München–Der tschechische Premier
Andrej Babiš muss sich bei Demonstran-
ten entschuldigen. Das entschied ein
Prager Gericht am Freitag. Babiš hatte
behauptet, die Leute, die im vergange-
nen Jahr gegen seine Regierung protes-
tiert hatten, seien bezahlt. Seine Äuße-
rung sei „herabsetzend und beleidi-
gend“, soll Babiš nun bekennen. Der
Premier teilte dem tschechischen Rund-
funk umgehend per SMS mit, dass er
das Urteil nicht akzeptieren und in Beru-
fung gehen werde. Er habe nur seine
Meinung geäußert. In diesem Jahr for-
derten bereits Hunderttausende im
ganzen Land den Rücktritt von Andrej
Babiš. Die EU sieht den schwerreichen
Unternehmer in einem Interessenkon-
flikt. Zudem wird wegen Subventionsbe-
trugs gegen ihn ermittelt. Auch dass der
gebürtige Slowake Mitarbeiter des tsche-
choslowakischen Staatssicherheitsdiens-
tes war und seine Minderheitsregierung
von der kommunistischen Partei stützen
lässt, gefällt vielen nicht. Über die Mas-
senproteste in diesem Sommer, bei de-
nen sich prominente Musiker und Schau-
spieler äußerten, sagte Babiš: „Die Leute
gehen doch nur auf ein Konzert.“ vgr


Neun Jahre Haft


IstanbulsCHP-Chefin wegen Präsidentenbeleidigung verurteilt


Teheran– In den Fall des seit Juli im
Iran beschlagnahmten britischen Öltan-
kersStena Imperokommt Bewegung.
Iran bestätigte am Mittwoch eine Freilas-
sung von 7 der 23 Besatzungsmitglieder
aus humanitären Gründen. „Das Schiff
habe zwar gegen hiesige Vorschriften
verstoßen, aber wir haben ja keine Pro-
bleme mit dem Kapitän und der Crew“,
sagte Irans Außenamtssprecher Abbas
Mussawi laut Nachrichtenagentur Isna.
Die sieben aus Indien, Russland und
Lettland stammenden freigelassenen
Crewmitglieder sind nach iranischen
Angaben von dem Kapitän derStena
Impero“ ausgewählt worden. Zu einer
die Freigabe des Tankers selbst sagte
Mussawi, dass derzeit ein Gerichtsver-
fahren in der südiranischen Hafenstadt
Bandar Abbas laufe. dpa


Moskau– Kurz vor den Regionalwahlen
an diesem Sonntag ist die Chefin der
zentralen Wahlkommission in Russland
nach Angaben des Innenministeriums in
Moskau überfallen worden. Ein maskier-
ter Täter sei in der Nacht zum Freitag in
das Haus von Ella Pamfilowa eingedrun-
gen und habe die Wahlleiterin mit einem
Elektroschockgerät verletzt. Der Täter
sei danach geflüchtet, teilte das Innenmi-
nisterium mit. Ermittelt werde wegen
Raubs. Pamfilowa sei wohlauf und neh-
me Termine wahr, hieß es bei der Wahl-
kommission. Die Beamtin steht in der
Kritik, weil die Kommission zur Wahl
des neuen Stadtrats in Moskau an die-
sem Sonntag Dutzende Oppositionelle
nicht zugelassen hat. Die Wahlleitung
schloss die regierungskritischen Kom-
munalpolitiker wegen angeblicher Form-
fehler aus. Die Opposition hatte Pamfilo-
wa bei den Massenprotesten der vergan-
genen Wochen aufgefordert, faire und
freie Wahlen zuzulassen. dpa Seite 4


Straßburg– Russland hat seine noch
ausstehenden Mitgliedsbeiträge an den
Europarat fast vollständig gezahlt. Der
Großteil der rund 54,7 Millionen Euro
sei überwiesen worden, bestätigte ein
Sprecher am Mittwoch der Deutschen
Presse-Agentur. Einige Formalien müss-
ten noch geregelt werden. Man sei sich
aber sicher, dass diese bald geklärt wür-
den. Die Schulden stammen aus den
Jahren 2017 und 2018. Russland hatte
wegen Sanktionen die Zahlung der Mit-
gliedsbeiträge an den Europarat einge-
stellt. Die Strafmaßnahmen waren eine
Reaktion auf die russische Annexion der
Schwarzmeer-Halbinsel Krim gewesen.
Ende Juni erhielt Moskau dann wieder
alle Rechte als Mitglied der Parlamentari-
schen Versammlung (PACE) der Staaten-
organisation zurück. dpa


Mann gegen Mann


Russland und die Ukraine planen einen brisanten Gefangenenaustausch


Warum sind im neuen
Einkaufszentrumsogar die
Durchsagen auf Slowakisch?

8 POLITIK HMG Samstag/Sonntag,7./8. September 2019, Nr. 207 DEFGH


Neubaugebiet am Ortsrand von Kittsee. Christine Schmid (li.), Kindergartenleiterin, und Silvia Hösl, Erzieherin, haben die wichtigsten Wörter auf Slowakisch
gelernt. Bürgermeister Johannes Hornek sagt, Kittsee werde langsam weiter wachsen. „Achtung!“: Hinweis auf die Staatsgrenze. FOTOS: TOBIAS ZICK

Entschuldigung angeordnet


Matrosen frei


Wahlleiterin attackiert


Russland begleicht Schulden


Russland hat ukrainische Schiffe und ih-
re Besatzung festgesetzt. FOTO: AFP

AUSLAND

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