Der Tagesspiegel - 07.09.2019

(John Hannent) #1

Brüssel- Ein ungeregelter Brexit Ende
Oktoberwäre aus Sicht desDeutschen In-
stituts für Wirtschaftsforschung (DIW)
für Deutschland weniger schlimm als
eineerneuteVerschiebung.Die erwartba-
ren Kosten für die Bundesrepublik seien
mittel- bis langfristig eher gering, deut-
sche Verbraucher kaum betroffen und
Chaos vermeidbar, sagte DIW-Chef Mar-
cel Fratzscher in Brüssel.
„Was ich jetzt an Risiken sehe, ist die
Unsicherheit“, sagte Fratzscher. „Lieber
ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken
ohne Ende – lieber
jetzt ein harter Brexit
als eine Hängepartie,
die sich noch ein oder
zwei Jahre hinzieht.“
Schon jetzt hätten
sich wegen der Unsi-
cherheit deutsche Ex-
porte nach Großbri-
tannien und Irland ab-
geschwächt. „Wenn
einmal Klarheit da ist
und die Unterneh-
men wissen, worauf
sie sich einstellen
müssen, kann man
auch damit umge-
hen“, fügte der DIW-
Präsident hinzu.
Viele Wirtschafts-
forscher warnen vor einem britischen
EU- Austritt ohne Vertrag, zumal
Deutschland 2018 immer noch Waren
im Wert von 82Milliarden Euro nach
Großbritannien exportierte. Eine Studie
der Bertelsmann- Stiftung geht davon
aus, dass ein No-Deal Einkommensver-
luste von fast 100 Milliarden Euro pro
Jahr zur Folge hätte, davon 57 Milliar-
den in Großbritannien und gut 9,5 Milli-
arden in Deutschland.
„Es ist immer noch von Vorteil für alle
Seiten, wenn der ,Hard Brexit’ abgewen-
det wird“, sagte Studienautor Dominic
Ponattu. „Mehr Zeit, um ein Abkommen
zu verhandeln, wäre es definitiv wert.“
Doch Fratzscher argumentiert dage-
gen. So sagte er mit Blick auf deutsche
Verbraucher: „Wenn manjetztdie Konsu-
menten nimmt, habe ich Schwierigkeiten
zu sehen, wer da besonders betroffen
sein soll. Das, was wir aus Großbritan-
nien importieren an Konsumgütern, ist
begrenzt.“
Deutsche Unternehmen seien bereits
dabei, sich neu zu orientieren – sowohl
für den Bezug von Vorprodukten als


auch für neue Absatzmärkte. Nach Re-
geln der Welthandelsorganisation wür-
den auch bei einem Brexit ohne Vertrag
nur geringe Zölle von durchschnittlich
ein bis zwei Prozent auf britische Wa-
ren fällig. Lange Wartezeiten wegen nö-
tiger Grenzkontrollen sowie Liefereng-
pässe könne man verhindern.
„Es muss nicht sein, dass es zu die-
sem Chaos kommt, und es ist letztlich
weder im Interesse der EU noch Groß-
britanniens“, sagte Fratzscher. „Das Ar-
gument, man müsse nun an Großbritan-
nien ein Exempel sta-
tuieren und das bloß
nicht attraktiv ma-
chen, das haben wir
lange hinter uns. Ich
glaube, kein anderes
Land möchte ein sol-
ches Chaos haben,
wie Großbritannien
das in den letzten
drei Jahren gesehen
hat.“
Anders als
Deutschland müssen
sich Großbritannien
und Irland auch aus
Fratzschers Sicht auf
erhebliche negative
Folgen einstellen.
Und da es ohne Ab-
kommen keine Übergangsfrist gäbe,
stünde London unter großem Einigungs-
druck mit der EU.
„Ich glaube nicht, dass Großbritan-
nien nach einem harten Brexit eine bes-
sere Verhandlungsposition hätte, son-
dern ganz im Gegenteil: Der Druck auf
Großbritannien, schnellstmöglich ein
Freihandelsabkommen mit der EU aus-
zuhandeln, wäre eher größer als klei-
ner“, sagte Fratzscher.
Hunderte Seiten sind darüber ge-
schrieben worden, was ein Chaos-Bre-
xit genau bedeuten wird. Kurzfristig
werden dann zum Beispiel stunden-
oder tagelange Wartezeiten für Lastwa-
gen an der Grenze erwartet.
Mittelfristig sagen Studien einen Kon-
junktureinbruch voraus oder gar eine Re-
zession. Exportverluste, Währungsver-
fall, Fabrikschließungen, Arbeitslosig-
keit. Experten der Bertelsmann-Stiftung
kamen in Modellrechnungen für den Fall
eines No-Deal-Brexits auf Einkommens-
verluste von fast 100 Milliarden Euro pro
Jahr – davon allein 57 Milliarden Euro für
Großbritannien. dpa

Lieber ein Ende
mit Schrecken

sagt Ökonom Fratzscher


ANZEIGE

Rio de Janeiro- Argentiniens Präsident
Mauricio Macri war angetreten, alles an-
ders zu machen. Er wollte den Kräften
des Marktes wieder freies Spiel lassen
und ausländische Investoren anlocken.
Er versprach, Armut und Inflation zu be-
endenund Argentinien vomlinkenKirch-
nerismus zu befreien, der das Land in
eine Wirtschaftskrise geführt hatte. Als
Macri 2015 die Wahlen gewann, titelte
das Nachrichtenportal „Bloomberg“:
„Wall Street hat (wieder) das Sagen.“
Jetzt, nur vier Jahre später, trauen die
BeobachterihrenAugennicht. Macris Po-
litik gleicht der seiner Vorgängerin Cris-
tina Kirchner. Wieder steckt Argentinien
in einer tiefen Wirtschaftskrise mit Kapi-
talflucht, hoher Inflation und bankrottem
öffentlichen Haushalt. Und Macri? Rea-
giert mit staatlichen
Eingriffen, die er,
der Liberale, zuvor
noch als „sozialis-
tisch“ verteufelt
hatte.
Aber womöglich
blieb ihm auch keine
andere Wahl, als er
am1. September Ka-
pitalkontrollen ein-
führte. Die Argenti-
nier hatten panisch
begonnen, ihrGeld außerLandeszu brin-
gen: Innerhalb von nur zwei Tagen flos-
sen drei Milliarden Dollar aus dem Land
ab. Um den Totalabsturz zu verhindern,
begrenzte Macri den Umtausch von Pe-
sos auf 10000 Dollar pro Monat und
pro Kopf. Auch für Unternehmen gibt
es Beschränkungen, Dollar zu kaufen
und Dividenden an ausländische Inves-
toren auszuzahlen. Der Liberale Macri
griff also zum Interventionismus. Das
wäre so, als ob ein Wirtschaftsminister
Christian Lindner die Banken verstaatli-
chen würde.
Die Märkte reagierten entsetzt: Argen-
tinische Staatsanleihen stürzten ab und
die Ratingagenturen rechnen praktisch
mit der Zahlungsunfähigkeit des Landes.
Argentinien ist somit nach 2001 und
2014 zum dritten Mal in diesem Jahrhun-
dert pleite. Die Regierung hat bereits da-


mit begonnen, die Schulden von insge-
samt 101 Milliarden Dollar beim Inter-
nationalen Währungsfonds und anderen
Gläubigern zu „restrukturieren“. Mit an-
deren Worten: Sie werden nicht begli-
chen.
Die Argentinier versuchen nun schleu-
nigst, ihr Geld von den Banken zu holen.
Im Angesicht desPeso-Verfalls –dieInfla-
tion liegt bei 55 Prozent – wollen sie es in
eine Fremdwährung tauschen oder mög-
lichst schnell ausgeben. Sie wollen also
retten, was zu retten ist. Wer kann, legt
sein Geld im Ausland an, worauf sich be-
reits verschiedene Internetplattformen
spezialisiert haben. Auch geldlose
Tauschbörsen für Alltagsprodukte erle-

ben nun wieder eine Blüte, dort tauscht
mandannbeispielsweiseeinpaar Kinder-
schuhe gegen zwei Flaschen Speiseöl. Bei
denUnternehmen herrschtderweilUnsi-
cherheit, welche Preise man überhaupt
ansetzen soll.
Für die Argentinier gleicht die Situa-
tion einem Déjà-vu. Finanzminister Her-
nán Lacunza sagte resigniert: „Argenti-
nien ist wie ein Schiff, das im Kreis fährt
und immer zum gleichen Hafen zurück-
kehrt.“ Wie schon 2001, als das Land ei-
nen traumatischsten Absturz erlebte, de-
monstrieren nun erneutZehntausende ge-
gen die Regierung.
Wie kam es zu diesem Schock? Zu-
nächst muss man den 11. August nennen:

PräsidentMacri verlor eineVorwahldeut-
lichgegenden oppositionellen Präsident-
schaftskandidaten Alberto Fernández.
Dessen Vizekandidatin ist ausgerechnet
das „linke Schreckgespenst“ Cristina
Kirchner. Dem Duo gelang es, ein breites
Oppositionsbündnis zu bilden, und nie-
mand zweifelt mehr an ihrem Sieg bei
den Wahlen am 27. Oktober. Diese Aus-
sicht raubte den Finanzmärkten den letz-
ten Glauben an Argentinien.
Die Ursachen für die Krise liegen indes
tiefer. Seit Jahren lebt Argentinien über
seine Verhältnisse. Das einstmals
reichste Land Südamerikas importiert
mehr, als es exportiert und hat ein ständi-
ges Leistungsbilanzdefizit. Das bedeutet,

dass es auf den Import von ausländi-
schem Kapital angewiesen ist. Auch Ma-
cri hielt Argentinien vor allem mit der
Aufnahme von Krediten über Wasser.
Weil diese Kredite aber in Dollar gelten,
machen sie das Land extrem verwund-
bar. Denn sobald die Gläubiger meinen,
ihre Anlagen seien nicht mehr sicher,
zum Beispiel wegen hoher Inflation, zie-
hen sie sie ab. Der Peso verliert dann
weiter an Wert, was wiederum weitere
Kapitalabflüsse zur Folge hat. Es macht
den Peso auch zum Objekt von Wäh-
rungsspekulanten. Genau diese Entwick-
lung setzte nach der Lirakrise in der
Türkei 2018 ein. Niemand traute mehr
dem Peso.

Daraufhinschaltete sichder Internatio-
nale Währungsfonds (IWF) ein. Und er-
neut spielte der für Argentinien eine fa-
tale Rolle. Kaum einem Land hat der IWF
mehr Kredite gewährt – und kaum einem
Land haben sie mehr geschadet.
AlsParadebeispiel kann dasIWF-Hilfs-
paket von 2000 gelten, das ganz im neoli-
beralen Zeitgeist an drastische Kürzun-
gen der Sozialausgaben geknüpft war.
Zahlreiche Menschen stürzten damals
ins Elend. Schwere Unruhen mit Plünde-
rungen, Toten und fünf Präsidenten in-
nerhalb von zwei Wochen waren die
Folge.Anschließend beganndie zwölfjäh-
rige Regierungs-Ära des Ehepaars Néstor
und Cristina Kirchner.
Der IWF schien also nicht viel aus der
Vergangenheit gelernt zuhaben, alser Ar-
gentinien im Juni 2018 mit 50 Milliarden
Dollar den höchsten
Kredit seiner Ge-
schichte einräumte.
Es heißt, dass die
US-Regierung da-
rauf drängte, um
den Trump-Verbün-
deten Macri zu stüt-
zen. Erneut knüpfte
der IWF den Kredit
an strenge Austeri-
tät. Aber schon
bald war die erste
Tranche des Kredits aufgefressen. Ohne
zu zögern gewährte der IWF einen Zu-
satzkredit von 6,3 Milliarden Dollar –
Argentinien steckte erneut in der Schul-
denfalle.
Mauricio Macri nützte es nichts. Die
Argentinier, von denen ein Drittel unter
der Armutsgrenze lebt, verloren das
letzte Vertrauen in die Regierung und
schwenkten zur Opposition.
Für die irre Geldvernichtung machen
viele nun auch die scheidende IWF-Che-
fin Christine Lagarde verantwortlich.
Der Rekordkredit sollte ihre Karriere
beim Währungsfonds krönen. Jetzt ist er
zum Desaster geworden. Das ist auch
kein gutes Omen für Europa. Lagarde
wird im Oktober den Vorsitz über die Eu-
ropäischeZentralbankübernehmen. Zeit-
gleich werden die Argentinier wohl Ma-
criabwählenund den Kirchnerismuswie-
der an die Macht bringen.

Foto: Daniel Naupold/dpa

Schlange stehen bei der Bank.Aus Angst vor einem Zahlungsausfall heben die Argentinier ihr Erspartes ab, hier Anfang der Woche in Buenos Aires. Foto: Natacha Pisarenko/AP/dpa

Das Problem:


Seit Jahren


lebt


das Land


über seine


Verhältnisse


Keinem


Land hat
der IWF

mehr Geld
zur Verfügung

gestellt


Harter Brexit


besser als Verschieben


DIW-Präsident Marcel Fratzscher


warnt vor einer Hängepartie


SONNABEND, 7. SEPTEMBER 2019 / NR. 23 938 WIRTSCHAFT DER TAGESSPIEGEL 21


Von Philipp Lichterbeck

Der argentinische Patient


Hohe Inflation, schwache Währung: Das südamerikanische Land steckt wieder in einer schweren Krise. Wie konnte es dazu kommen?


Deutschlands bester


Vermögensverwalter


kommt aus Berlin.


Capital, August und September 2019


Deutschlands wichtigstes Finanzmagazin hat 33 digitale


und 47 traditionelle Vermögensverwalter analysiert.


LIQID gewinnt in beiden Tests.


liqid.de


Erstellen Sie Ihre Anlagestrategie jetzt online.


Oder rufen Sie an: (030)30806655.


Vermögensverwaltung


Private Equity

Free download pdf