Neue Zürcher Zeitung - 07.09.2019

(Ron) #1

Samstag, 7. September 2019 ∙Nr. 207∙240.Jg. AZ 8021Zürich∙Fr. 5.20 ∙€5.


Brexit: Amstärksten leid et das Vertrauen der Briten in die PolitikSeite 12


Zür ich ist auf dem Weg


zur «Crypto City»


Nicht nur Zug zieht neue Blockchain-Firmen an


dfr.·Wenn von der Blockchain-Tech-
nologie dieRede ist, dann landet das
Gesprächrasch beim «CryptoValley» in
Zug. Dies durchaus zuRecht. Gemäss
neuen Zahlen hat sich rund die Hälfte
der 800 in der Schweizregistrierten
Blockchain-Unternehmen im Kanton
Zug angesiedelt, darunter die bekannte
Ethereum-Stiftung. Nebendem Spit-
zenstandort hat sich Zürich zum zwei-
ten starken Zentrum für die zukunfts-
trächtigeTechnologie entwickelt. 140
Firmen zählt der Kanton mittlerweile.
Damit liegt er deutlich vor Genf mit 45
Firmen, woFacebook mit seinerWäh-
rung Libra experimentieren will.
Zürich profitiert diesbezüglich von
seinem traditionellenFinanzplatz,sei-


nen Hochschulen und von hier ansässi-
gen etabliertenTech-Firmen wie Goo-
gle.Wichtig sind auch sogenannte Hubs,
die in letzter Zeit entstanden sind. Der
grösste von ihnen ist der«Trust Square»
an derBahnhofstrasse. Dort habensich
40 Blockchain-Startups mit 250 Mitarbei-
terneinquartiert.Lange können sie aber
nicht mehr an der vornehmenAdresse
residieren. In vier Monaten endet die
Zwischennutzung. Der Geschäftsführer
Thomas Meister ist auf der Suche nach
einer neuen Bleibe. «Wir haben mehrere
neue Standorte im Blick», sagt er. Bis
Ende Monat werde man hoffentlich einen
neuenVertrag unterschreibenkönnen.
Meinung &Debatte , Seite 11
Zürich undRegion, Seite 17

Ein neuer Plan für die Bahn

In der Mobilität stehen grosse Umwälzungen bevor. Die SBB könnten die Schlüsselrolle spielen –


wenn sich Bundesrat und Parlament vo n alten Vorstellungen lö sen.Von Helmut Stalder


Die SBBsind auf Holperfahrt.Sie haben dasLand
vor fast 120Jahren mit ihren Schienensträngen
und Zügenräumlich und mental zu einem Gan-
zen gefügt.Als «Kulturpflug der neuen Zeit» wur-
den die Bundesbahnen zum Inbegriff schweizeri-
scherTugenden wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit,
technischer Präzision, Sicherheit und Qualität und
zu einer Institution, an die sich der Nationalstolz
heftete. Doch das strahlende Nationalsymbol hat
Risse bekommen, die jetzt mit dem angekündigten
Abgang des SBB-Chefs Andreas Meyerim grellen
Licht erscheinen und die sprichwörtlicheBahnliebe
der Schweizer strapazieren.
Der Unterhalt der Infrastruktur hat lange nicht
Schr itt gehalten mit dem massiven Angebotsaus-
bau der letztenJahrzehnte, so dass sich hier gros-
ser Nachholbedarf aufgestaut hat. Die Beschaf-
fung von dringend benötigtemRollmaterial hat
sich mit demFernverkehrs-Doppelstockzug FV-
Dosto dermassen verzögert, dass die SBB viele
alte Waggons einsetzen müssen. Der tägliche An-
sturm auf diePendlerzüge ist derart gross, dass es
eng wird. Störungen an Leitungen,Weichen und
Fahrzeugen beeinträchtigen die Pünktlichkeit. Der
Mangel an Lokführern macht sich im Betrieb be-
merkbar.BeimPersonal, das sich stark mit der
Bahn identifiziert, rumort es.Der tödliche Un-
fall vonBaden hat systemische Mängel bei der
Sicherheit derTürschliessung undVersäumnisse
beim Unterhalt an denTaggebracht.


Milliardenteure Ausbauten


All diese Unzulänglichkeiten, welche dieKern-
bestände des schweizerischsten aller Schweizer
Unternehmen betreffen, haben mit dem Manage-
ment und den dort gesetzten Prioritäten zu tun.
Die SBB dürfen zwar immer noch von ihrem
Ruf zehren, zu den bestenBahnen derWelt zu
zählen. Sie spulen ein riesigesPensum in einem
immerkomplexeren und immer enger getakte-
ten System ab, meist zur Zufriedenheit der 1,
MillionenKunden, die täglich mit derBahn fah-
ren. Dennoch erbt Meyers Nachfolger oder die
Nachfolgerin grosse Herausforderungen,di e be-


wältigt werden müssen, um dasVertrauen in die
Bahn zu kitten und die Liebe und die Zahlungs-
bereitschaft derBahnkunden zu erhalten. Die SBB
müs sen sich in diesem Bereich zurückbesinnen auf
ih re Kernaufgabe, nämlich dieReisenden tagtäg-
lich zuverlässig, pünktlich, sicher undkomforta-
bel durchsLand zu bringen.
Die gegenwärtigen Schwierigkeiten der SBB
sind aber auchAusdruck von tieferliegenden, struk-
turellenVeränderungen. Es zeigt sich immer deut-
licher:Trotz zahlreichenReorganisationen und
Effizienzprogrammen fahren die SBB am Limit.
DasAngebot wird stetig ausgebaut. Die Fahrpläne
sind immer enger kalkuliert und weniger störungs-
tolerant. Es gibt kaumFahrzeuge inReserve und
an vielen Orten kaum mehr freieTrassen, um lang-
same Güterzüge, S-Bahnen,Regionalzüge und
Intercitys aneinandervorbeizubringen. Gleichzeitig
wachsen dieKundenströme in den morgendlichen
und abendlichenSpitzenzeiten,und dank verkürz-
ten Reisezeiten nehmen diePendlerdistanzen und
Pendlerzahlen imFernverkehr zu. Die Gesellschaft
wird immer mobiler. Die SBB sind einer derTrei-
ber dieser Entwicklung – und sie sind zugleich Op-
fer ihres Erfolgs. Sie setzen um, was der Bund als
Leistungsauftrag vorgibt, und sie tun dies über alles
gese hen gut. Doch stellt sich angesichts des stetigen
Wachstums gleichzeitig dieFrage, ob die Schweiz
mit dieser Entwicklung auf dem richtigenWegist
und wo er hinführt.
Seit1980 hat sich, angetrieben durch Bevölke-
rungswachstum, steigendenWohlstand und bessere
Angebote, der Personenverkehr auf der Schiene
mehr als verdoppelt, und der Güterverkehr hat sich
um 40 Prozent erhöht. Gemäss den Prognosen soll
der Personenverkehr bis 2040 um 51 und der Güter-
verkehr um 45 Prozent wachsen.In steterRegel-
mässigkeit erreicht der Schienenverkehr auf vie-
len Strecken und an Knotenpunkten die Kapazi-
tätsgrenzen.Regelmässig legt der Bund neueAus-
bauprogramme für dieBahninfrastruktur auf, und
ebensoregelmässig passieren sie dasParlament.
Unlängst haben dieRäte in Bern denAusbau-
schritt 2035 beschlossen.Dabei hätte der Grund-
sa tz gelten sollen, dort zu investieren, wo abseh-
bar die Nachfrage besonders gross und die Kapa-

zitäten knapp sein werden. Doch in gewohn-
ter Manier wurden die Investitionen stark nach
regionalen oder gar lokalen statt nach funktiona-
len Gesichtspunkten verteilt. Und wahljahrbedingt
war die Spendierlaune so gross, dass neben Nöti-
gem und Dringlichem auch überflüssige und un-
reife Projekte aufgenommen wurden.Für 13 Mil-
liardenFranken sollen nunTunnels gebaut, Bahn-
höfe vergrössert, Strecken erweitert und Engpässe
beseitigt werden.Verdichtete Angebote mit neuen
Viertelstunden- und Halbstundentakten auf stark
frequentierten Linien sollen die jetzigen und die
künftigenPassagiermassen aufnehmen, und auch
im Güterverkehr sollenTempo und Qualität stei-
gen.Damit macht dasLand einen weiteren Schritt
auf eine «S-Bahn-Schweiz» zu, in der täglich Mil-
lionen von Menschen und Massen von Gütern
auf Achse sind und immer häufiger immer wei-
tereStrecken fahren.
Dass der erwarteteVerkehr hauptsächlich auf
der Schiene abgewickelt werden soll, ist sinnvoll.
Denn wo Menschenmassen undTonnagengebün-
delt werdenkönnen,ist dieBahn das effizienteste
Verkehrsmittel,das zugleicham wenigstenRaum
beansprucht. Nur fehlt bei diesem Investitions-
feuerwerk die Gesamtsicht, wie sich die Mobilität
der Zukunft entwickeln soll, welcheRolle die SBB
und andereVerkehrsträger dabei spielen und wie
sich dies auf die Siedlungsentwicklung der Schweiz
auswirkt.Weiter wie bisher, mehr vom Gleichen
und für alle etwas, das ist wie eh und je die Devise.
Dabei müsste diePolitik jetzt ein Mobilitätssystem
aufgleisen, das die künftigen Bedürfnisse von 10
Millionen Einwohnern in einer zusammenwachsen-
den, agglomerierten Schweiz decken kann.

We iterdenkenin Räumen


Statt der verstärktenFortschreibung des Bisherigen
braucht es neueAnsätze. Es wäre schon einiges ge-
wonnen, wenn die Entflechtung des Güterverkehrs
und desPersonenverkehrs prioritär vorangetrieben
würde– mit demKonzept Cargo SousTerrain für
ein schnelles, unterirdischesSystem für die Logis-
tik zwischen Produktionsstätten und Städten.Vor

allem aber braucht es einen Plan, der Mobilität als
raumwirksames Gesamtsystem denkt. Statt dass die
Politik da und dort punktuell Flaschenhälse besei-
tigt oder eineRandregion mit einemTunnel be-
schenkt, müsste derAusbau viel stärker von der
Raumentwicklung her gedacht werden. So wären
jenseits von historischen Gemeinde-und Kantons-
grenzen funktional zusammenhängende Entwick-
lungskorridore zu identifizieren, die mit derBahn
optimal erschlossen werdenkönnen. Es wären ver-
mehrt unterirdische Durchmesserlinien vorzu-
sehen, die denVerkehr in die und aus den Zen-
tren beschleunigen. Und in den Agglomerationen
wären zwischenEntwicklungsschwerpunkten ver-
mehrtTangentialen zu planen, die denVerkehr an
den überlasteten Zentren vorbeiführen.

EineMetro fürdie Schweiz


Der öffentliche Massenverkehr zwischen Metropo-
litanregionen auf der Schiene, der öffentlicheVer-
kehr innerhalb derAgglomerationen und Städte,der
Individualverkehr mit privaten oder geteiltenAutos,
der Langsamverkehr mitVelos und zuFuss – all die
Fortbewegungsarten müssen sich künftig stärker zu
einem integriertenSystem verbinden und verketten.
Dabei soll, um die Massen zu bewältigen, möglichst
jedesVerkehrsmittel dort zumTragenkommen, wo
es am effizientesten ist.Aufdem Fernverkehrsnetz,
das künftig wie eine Metro die verstädterte Schweiz
verbindet, käme den SBB – wem sonst? – dieSys-
temführerschaft zu.Als grosser landesweiter Mobi-
litätsdienstleister sind sie in derLage, in einem inte-
grierten,funktionalenSystemFahrplan,Betrieb und
Ticketing zu gewährleisten und die Schnittstellen zur
Feinverteilung zu organisieren.
Die Bundesbahnen hatten von jeher dieFunk-
tion, dasLand zu verbinden undräumlich zu struk-
turieren. Die Bevölkerung ist bei allen Unzuläng-
lichkeiten im Betriebsalltag gern bereit, viel Geld
dafür auszugeben.Wenn die SBB ihre altenTugen-
den in denFokus rücken und sich zugleich auf die
Mobilität der Zukunft ausrichten,können sie wie-
der der «Kulturpflug der neuen Zeit» sein–falls die
Politik sie machen lässt.

Kritik an der Regierung


in Berliner Mordfall


Hinweise au f Verbindungen zum russischen Geheimd ienst


asl.Berlin.·Nach dem brutalenMord an
dem Georgier Selimchan Changoschwili
in Berlin fordern immer mehrParlamen-
tarier die Bundesregierung zum Handeln
auf. Es verwundere schon, «dass sich die
Bundesregierung zu demFall noch nicht
geäussert hat», sagt der SPD-Bundes-
ta gsabgeordneteFritz Felgentreu. Vie-
les deute darauf hin, dass einrussischer
Geheimdienst hinter dem Mord stecke.
Wenn sich derVerdacht erhärte, müsse
die Bundesregierung unmissverständlich
klarmachen, «dass ausländische Spione
in Deutschland nicht einfach Menschen
auf offener Strasse töten können».
Auch der Grünen-Politiker Konstantin
von Notz kritisiert das «bisherige laute
Schweigen der Bundesregierung zu die-

sem ungeheurenVorgang». Die Bundes-
regierung müsse schnellstmöglich die
Hintergründe aufklären.
Am23.August war Changoschwili
im Berliner Stadtteil Moabit in einem
Park erschossen worden. Er giltals Geg-
ner des russischen Präsidenten Wladimir
Putin. Der Täter wurde kurz daraufge-
fasst. Ihm werdenVerbindungen zum
russischen Geheimdienst nachgesagt.
Unterdessen gibt es Hinweise, wonach
die Behörden in Deutschland schon
früh Bescheid wussten, dass die Sicher-
heit Changoschwilis gefährdet war. So
wurde das Bundesamt fürMigration und
Flüchtlinge bereits imJanuar 2017 auf
die Gefahr hingewiesen.
International, Seite 3

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MARTIN DIVISEK / EPA

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Rudolf SteinersWaldorfschule
wird 10 0 Jahre alt. Eine kritische
Betrachtung.Seite 43

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