Neue Zürcher Zeitung - 07.09.2019

(Ron) #1

Samstag, 7. September 2019 WIRTSCHAFT 29


Präsident Wladimir Putin hat den Russen ein besseres Leben gegenVerzicht auf politischeFreiheiten versprochen.S. KARPUKHIN / REUTERS QUELLE: IMF NZZ Visuals/cke.


Russlandstagniert

Russland Schwellen- und Entwicklungsländer Welt Prognose

Wirtschaftswachstum, in %

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1991 2009 2019 2024

Putin lässt Russland im Regen stehen


Russland kommt nicht vo ran– wenn der Präsident an der Macht bleiben will , muss er die Wirtschaft in Schwung brin gen


CHRISTIANSTEINER, MOSKAU


Ein Regenschirm zeigt die Macht von
Wladimir Putin:Als der russische Prä-
sident an derFussball-WM im Sommer
2018 den Pokal überreichte, goss es wie
aus Kübeln, doch er wurde als Einziger
auf dem Spielfeld nichtnass.Die Staats-
oberhäupter vonFrankreich und Kroa-
tien und derFifa-Präsident standen im
Regen. Trotz dem schlechtenWetter
beimFinal war dieWeltmeisterschaft
ein voller Erfolg fürRussland.
Die vielen ausländischenFans hat-
ten gemerkt, dass dieRussen gar nicht
so böse sind, und vieleRussen hatten
zum ersten Mal im Leben ausgelassene
Südamerikaner oderFussballfans aus
Asien gesehen. Es wurde gefeiert, ge-
scherzt, und vierWochen lang waren
spontane Menschenansammlungen er-
laubt. Der unerwartete Erfolg der rus-
sischen Nationalmannschaft bescherte
dem Land eine lange vermisste Eupho-
rie.Alleswarplötzlichwunderschönund
angenehm.DieMoskauerriebensichdie
Augenundwundertensichdarüber,dass
selbst diePolizisten vomFreudentaumel
erfasst wurden und manAuskunft und
dazu sogar noch einLächeln erhielt.


Sinkende Einkommen


Doch nichts ist so vergänglich wie Un-
beschwertheit. Die Knüppel derPolizis-
ten haben auch den letzten Moskauer
Träumer längst wieder auf den Boden
der Tatsachen zurückgeholt. Der Kreml
sieht seine Macht selbst bei der eher un-
bedeutendenWahl des Hauptstadtpar-
laments bedroht und greift hart durch.
Die neue Unzufriedenheit der Men-
schen wird nicht bloss durch den Man-
gel an Demokratie genährt. DieRussen
sind vielmehr desillusioniert vom herr-
schendenWirtschaftsmodell, das das
Land von den prosperierenden 2000er
Jahren in eine Stagnation geführt hat.
Die realen Einkommen sinken seit
Jahren, und selbst Optimistenrechnen
für 20 19 bloss mit einemWachstum von
knapp mehr als 1%.Seit 2013 ist dasreal
verfügbare Einkommen derRussen um
rund 10% gefallen. Oft ist der Begriff
«sastoi» zu hören,der eigentlich die Sta-
gnation und die fehlende politische und
wirtschaftlicheDynamik der Bresch-
new-Jahre beschreibt.
Zusätzlich schmälern höhere Steu-
ern die Einkünfte der Menschen, und
eine nötige, aber einschneidende Er-
höhung desRentenalters erzürnt die
Massen. Diese Entwicklungen drücken
die Popularitätswerte des Präsidenten.
Putin hat seinemVolk ein gutesLeben
gegen denVerzicht auf politischeFrei-


heiten versprochen. Kann er diesesVer-
sprechen nicht erfüllen, muss er um die
Macht fürchten.
Die Demonstrationen sindeinVorge-
plänkel des Endspiels um die Macht in
Russland. Der Herrscher Putin, der seit
20 Jahren an der Spitze steht, scheint zu
wanken.Das auffälligste Zeichen dafür
ist, dass die Menschen über seine Nach-
folge–nach dem Ende seiner Amtszeit
2024 – diskutieren. Das hätte sich frü-
her niemand getraut.Dass Putin bis zu
seinem Lebensende die Geschicke des
Landes leiten würde,galt als so sicher
wie das Amen in der Kirche.
Doch Putin gibt sich noch nicht ge-
schlagen. Der Präsident hat ein gutes
Gespür für die Unzufriedenheit im
Land und versucht, Gegensteuer zu ge-
ben. Kurz nach derVereidigung zu sei-
ner vierten Amtsperiode im Mai 20 18
hat er die Marschrichtung vorgegeben
und demLand in denkommendenJah-
ren einWirtschaftswunder verordnet.Er
will dasLand zu einer der fünf grössten
Volkswirtschaften derWelt machen und
dasWirtschaftswachstum über den welt-
weitenDurchschnitt heben.
Putin legt dabei besonderen Wert
auf eine längere Lebenserwartung sei-
ner Bürger, grosse Infrastrukturpro-
jekte und technologischenFortschritt.
Kern der neuenWachstumspolitik sind
Investitionen in die Infrastruktur in Mil-
liardenhöhe.Was sinnvoll klingt,ist aber
bei genauerem Hinsehen oftmals Grös-
senwahn. So mussten selbst die Planer
des Kremls einsehen, dass eine geplante
BrückeinsNirgendwoausserhohenKos-
ten keinen Nutzen mitsich bringt.
Nicht nur fehlende Investitionen sind
ein Problem. Zu viel Geld versickert
auch in denTaschen vonBauunterneh-
mern,die guteKontakte in denKreml
oder zu den Geheimdiensten besitzen.
RundumdieGeheimdiensteunddieEx-
MilitärshatsicheineSchichtgebildet,die
auf Kosten des Staates lebt:Die Silowiki
füllenihre Taschen, kassierenAufträge
und Schmiergeld und lassen alle ande-
ren spüren, wer Herr im Haus ist.

Maybach in Moskau


In dieses Schicksal wollen sich vor allem
junge undgut ausgebildete Leute nicht
fügen.DerAufstand derJugend,die sich
über soziale Netzwerke org anisiert und
im InternetfürAufklärung sorgt,hat ein
grossesSprengpotenzial. Doch dieJun-
gen protestieren nicht nur.Wer nicht
auf die Strasse geht, der stimmt mit den
Füssen ab. Immer mehr junge Menschen
wollen dasLand verlassen.
In Russland existieren zweiWelten:
Moskau und derRest desLandes. Die

Hauptstadt hat eine magische Anzie-
hungskraftundwächstimmerweiter.Die
ganzeStadtisteinegrosseBaustelle,und
in denAussenquartieren werden neue
Wohnsiedlungen im Akkord hochgezo-
gen. Die Moskauer Skyline ist wohl die
imposanteste in ganz Europa.Laut in-
offiziellen Zahlen leben bis zu16 Mio.
MenscheninderStadt.InderInnenstadt
entstehen täglich neueRestaurants, und
es sollen mehr Maybach-Limousinen in
Moskau als in ganz Deutschland herum-
kurven.AuchblühenvereinzeltStartups,
und wenn es irgendwo imLand Innova-
tion gibt, dann in der Hauptstadt.
Keine vier Stunden ausserhalb der
Stadt sieht dieWelt anders aus: Statt
Prachtstrassen,Fussgängerzonen und
Parks gibt es Einöde, Rückständig-
keit und, wenn überhauptTeer vorhan-
den ist, eine Unzahl von Schlaglöchern.
Wäre der Erdgaspreis nicht stark sub-
ventioniert, wüssten wohl viele Men-
schen auf demLand nicht, wie sie die
Strom-, Erdgas- undWasserrechnung
bezahlen sollen.
Schuld an der Stagnation trägt
auch Putin. Der Kreml-Herr hat sich
mit seinerAussenpolitik verrannt und
sein Land isoliert.Fünf Jahre nach der
«Rückholung» der Krim-Halbinselrächt
sich Putins Husarenstück. StattFreude
über den neuen Boden herrscht bei vie-
len Russen nur noch Katerstimmung.
Die Bevölkerung merkt immer mehr,
dass sie dieKosten für die internatio-

nale Abschottung bezahlen muss. Doch
nicht nur die ausländischen Sanktionen
schwächen dieWirtschaft imLand. Fast
genauso schlimm wirken die Gegen-
sanktionen.Die Losung lautet:Wir
können das auch allein. So will Moskau
möglichst alles im Inland produzieren
lassen. DieseRückholung der Produk-
tion ist das Gegenteil vonTeilnahme an
der internationalen Arbeitsteilung: Hei-
matschutz. DieRechnung bezahlen die
Konsumenten durch höhere Preise und
schlechtere Qualität.

Verbündete wendensich ab


Die aggressiveAussenpolitik vergrault
auch die anderen ehemaligenLänder der
Sowjetunion.Aus traditionellenVerbün-
detenRusslandssind Erzfeinde gewor-
den. So macht Georgien zwar noch Ge-
schäfte mit dem grossen Nachbarn,doch
zwischen Moskau und Tbilissi herrscht
Funkstille. Die jungen Menschen in der
georgischen Hauptstadt geben Putin die
Schuld an ihrer Perspektivlosigkeit, und
der Kreml lässt denKonfliktköcheln
und provoziert, wo er kann.Auch zur
Ukraine istdas Verhältnis weiterhin
schlecht.Fünf Jahre nach der Annexion
der Krim sterben weiterhin Menschen
im Donbass, und Putin nutzt auch hier
jede Chance zur Provokation. Mit den
zentralasiatischenStaaten stehtRuss-
land nicht im offenen Streit, dochauch
dort spürt man den Unwillen, mit Mos-
kau zusammenzuarbeiten.
Der Gewichtsverlust Russlands
ist spürbar. Russisch wird in den jun-
gen Nachfolgestaaten der Sowjetunion
immer weniger benutzt.Touristen wer-
den auf Englisch oder Chinesisch be-
grüsst,und das kyrillischeAlphabet wird
von einem Staat nach dem anderen aus-
gemustert. Die wirtschaftlichenTiger
Kasachstan und Usbekistan haben ge-
merkt, dass die chinesische Brieftasche
um einiges grösser ist als diejenige des
Kremls. Die Herrscher in Nursultan
(ehemals Astana) undTaschkent rich-
ten ihren Blick daher weg von Moskau
und RichtungPeking. Die Russen haben
den jungen Staaten der ehemaligenSo-
wjetunion schlicht zu wenig zu bieten.
Putin wird so als traditioneller
Schirmherr der Region geschnitten
und verliert wichtigePartner. Da hel-
fen auch die vermeintlichen aussen-
politischen Erfolge des Kremls nicht.
So agiert Putin inSyrien,Venezuela
und im Streit um Atomwaffen mit den
Amerikanern zweifellos gewieft. Der
Kreml-Herr beweist, dass er ein skru-
pelloserTaktiker ist. Doch seineWin-
kelzüge bringenRussland nur bedingt
Erfolge. Noch schlimmer:Manmerkt

es dem Herrscher an, dass er zwar ver-
einzelt von der Schwäche der Euro-
päer und vom Unwillen der Amerika-
ner profitieren kann, doch es fehltihm
an einer Strategie. Das Resultat ist eine
Abschottung desLandes, das sich wei-
ter auf seine traditionelleRolle alsRoh-
warenlieferant fokussiert.
Diese Entwicklung bekommenauch
die russischen Unternehmen zu spüren.
Ihnen fehlt ausländisches Geld undWis-
sen. «DiesesLand ist nicht für Business»,
titelte jüngst die Wirtschaftszeitung
«Wedomosti». Die Zeitungüberschrieb
damit einen Beitrag über eine Umfrage
zum Investitionsklima.Mehr als 70%
der befragten Unternehmer beurteilten
das Klima negativ.
Besonders derFall des amerikani-
schen Investors Michael Calveysitzt
noch vielen russischen Chefs und Inves-
toren in den Knochen. Mit derVerhaf-
tung desKopfes desFonds BaringVos-
tok wurde der Glaube vieler Geschäfts-
leute an das ungeschriebene Gesetz zer-
stört, dass, wer sich von der Staatsmacht
fernhält, ungestört seinen Geschäften
nachgehenkann.Gerade die Staats-
gewalt operiert nicht im Interesse des
Volkes , sondern arbeitet in ihre eigene
Tasche. Geschichtenvon Unternehmen,
die die Nationalgarde,den Inlands-
geheimdienst oder diePolizei schmie-
ren müssen, sind an derTagesordnung.

Profiteure verhindernWandel


Ohne eine freieJustiz undRechtssicher-
heit für Investoren und Unternehmer
kann die Wachstumsschwäche nicht
überwunden werden. Doch Russland
will sich nicht wirklich ändern.Dafür
haben es sich die Profiteure zu gemüt-
lich eingerichtet. Der Staat weitet damit
seinen schon sehr grossen Einfluss wei-
ter aus. Das Einzige, was dasLand noch
zusammenhält, ist die makroökonomi-
sche Stabilität.Dank einer umsichtigen
Notenbank und einer strammen Budget-
disziplin hat sichRussland unabhängig
gemacht von Geldern aus demAusland.
Das russische Staatsbudget ist ausgegli-
chen,und dasLand bildetReserven.Da-
mit kann in einer Krise zumindest das
Schlimmste verhindert werden.
Doch ob dies ausreicht? Wladimir
Putin wird weiterhin auf die Knüppel
seinerPolizisten setzen müssen. Die
letzten grossen Demonstrationenim
Jahr 2012 hat er ohne grosse Probleme
überstanden und sich die Herzen der
Bevölkerung mitseineraussenpoliti-
schen Entschlossenheit gesichert. Die-
ses Mal ist Innenpolitik gefragt.Dieent-
scheidendeFrage ist,ob Putin es schafft,
die «sastoi» zu überwinden.

Von Moskau


zurück nach Zürich


pfi.· Russland ist riesig und weit viel-
fältiger als die Klischees, die mit dem
Land gemeinhin verbunden werden –
und ebenso gross und breit ist sein wirt-
schaftlichesPotenzial.Wie Christian
Steiner (cts.) in seiner Analyse schreibt,
gelingt es demLand allerdings unter
der herrschenden politischenFührung
immer weniger, dies es Potenzial zu nut-
zen. Diese Entwicklung hat cts. in den
vergangenen zweiJahren mit vielSym-
pathie gegenüberLand und Leuten und
mit ökonomisch geschultem Blick fa-
cett enreich beschrieben.Dafür reiste
er nicht nur vonPetersburg bis in den
hohenNorden Sibiriens oder in das
ferne Sachalin, er erkundete und schil-
derte auch die wirtschaftlicheLage in
Zentralasien und dem Kaukasus. Nun
ist er auf dieRedaktion nach Zürich
zurückgekehrt. Neu berichtet Markus
Ackere t (mac.) auch überWirtschaft-
liches aus derRegion.
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