30 WIRTSCHAFT Samstag, 7. September 2019
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Der Mann für Italiens schwierigsten Job
Der neue Finanzmini ster Roberto Gualtieri kennt die EU-Mechanismen von innen und ist für sein Verhandlungsgeschick bekannt
ANDREA SPALINGER,ROM
Roberto Gualtieri übernimmt unbestrit-
ten das schwierigste Amt in der neuen
Regierung inRom. Die italienischen
Medien sprechen gar von einer «mis-
sion impossible». Als Finanzminister
muss der 53-jährigeRömer den von der
popu listischenVorgängerregierung an-
gerichteten Scherbenhaufen zusammen-
kehren und bereits Ende Oktober einen
Sparhaushalt präsentieren, der den Ita-
lienern nicht allzu drastische Opfer ab-
verlangt und die EU-Kommission den-
noch zufriedenstellt.In einer Zeit,in der
Italien quasi Nullwachstumverzeichnet
und sich auch das globale Umfeld ver-
düstert, erscheint dies tatsächlich wie
eine Herkulesaufgabe.
Der einflussreiche Europaabgeord-
nete des Partito Democratico hat fast
sei n ga nzes Leben in derPolitik ver-
bracht. Den meisten Italienern dürfte
sein Name bis vor wenigenTagen aber
dennoch nichts gesagt haben. Denn der
verheirateteVater eines Sohnes ist eine
eher ungewöhnlicheFigur im italieni-
schenPolitzirkus. Er hat immer lieber
hinter denKulissen gearbeitet, als sich
ins Rampenlicht zu stellen.
Bevor er sich zu einemThema äus-
sert,studiert Gualtieri dieses genau.
ÜberflüssigeWorte hört man von ihm
nicht, und auch für die heute sozusagen
zum Job desPolitikers gehörendeEigen-
promotion in den sozialen Netzwerken
verschwendet er kaum Zeit. Erst nach
seiner Ernennung ging ein Interview aus
dem letztenJahr mit einemWeb-Sender
viral,in dem Gualtieri auf seiner Gitarre
ein virtuoses «Bella Ciao» spielt.
Seine zurückhaltende Art hätte ihn
bei den Europawahlen im Mai fast die
Karriere gekostet.Nur dank demRück-
zug eines anderen Kandidaten schlüpfte
er nachträglich doch noch durch und
konnte seine dritte Legislatur in Strass-
burg antreten.
Gualtieri ist der erste Nicht-Tech-
nokrat in diesem Schlüsselministe-
rium seit GiulioTremonti 2011. Er ist
kein Ökonom, sondern Historiker und
hält eine ausserordentliche Professur
für zeitgenössische Geschichte an der
Sapienza-Universität inRom. Schon
seit seiner frühenJugend engagiert sich
Gualtieri politisch. Mitte der achtziger
Jahre schloss er sich derKommunisti-
schenPartei an und machte in den fol-
gendenJahrzehnten wie viele im linken
Lager eine fundamentale Wandlung
durch. 2006 gehörte er zu den Grün-
dungsmitgliedern desPartito Democra-
tico. Später wurde er den «jungenTür-
ken» um MatteoRenzi zugerechnet,
die diePartei reformieren und mehr ins
Zentrum rücken wollten.
SeineWirtschaftskompetenz erarbei-
tete sich der Sozialdemokrat nach der
Wahl ins Europaparlament 2009. Als
Mitglied derWirtschafts- undFinanz-
kommission erlebte er die globale
Finanzkrise und die europäischeBan-
kenkrise aus nächster Nähe. Er spielte
bei derAusarbeitungdes europäischen
Fiskalpakts und der neuenRegeln über
Staatshilfen fürBanken eine wichtige
Rolle. 2014 wurde Gualtieri Präsident
der Wirtschafts- undFinanzkommission
inStrassburgundtrugindieserFunktion
entscheidend dazu bei, EU-Strafverfah-
ren gegen Italien abzuwenden. Zudem
war er als Chefunterhändler an den Bre-
xit-Verhandlungen beteiligt.
In Strassburg und in Brüssel hat sich
der Italienerim letztenJahrzehnt durch
Verhandlungsgeschick und Detailkennt-
nisse über dieParteigrenzen hinweg
Respekt verschafft. So pflegt er nicht
nur gute Beziehungen zu den wichtigs-
ten Kommissionsmitgliedern, sondern
auch zu den Spitzen der Europäischen
Zentralbank. Laut «Politico» zählte Gu-
altieri in der vergangenen Legislatur zu
den drei meistgehörten und damit ein-
flussreichsten Europaparlamentariern.
Die Reaktionen auf seineWahl zum
Finanzminister waren in EU-Kreisen
denn auch durchsBand positiv.
Erleichterungin Brüssel
Unter derKoalition von Cinque Stelle
und Lega verschlechterten sich die Be-
ziehungen zwischenRom und Brüssel im
letztenJahr dramatisch.Nun hat die EU
mit Gualtieri wieder einen überzeugten
Proeuropäer und profunden Kenner
europäischer Normen zum Gesprächs-
partner. Das heisst allerdings nicht, dass
die Zusammenarbeitkonfliktfrei wer-
den wird. Italiens neuerFinanzminister
wird vermutlich wie seineVorgänger
hart mitder EU-Kommission um mehr
Flexibilität beim Budget feilschenmüs-
sen. Er dürfte bereits beim erstenTref-
fen mit seinen Amtskollegen in einer
Woche in Helsinki dieWasser testen.
Wie die meisten italienischenPoliti-
ker fordert auch er eineReform des Sta-
bili tätspakts, das heisst vor allem Zuge-
ständnisse an wirtschaftlich schwächere
Mitgliedstaaten. Zur Ankurbelung des
Wachstums nötige Investitionen sollten
seiner Meinung nach beim Defizit künf-
tig nicht mehr berücksichtigt werden.In
Berlin und anderen nordeuropäischen
Hauptstädten hat man für solcheFor-
derungen jedoch wenigVerständnis.
Das Regierungsprogramm von Cin-
que Stelle undPartito Democratico ist
in Bezug auf den wirtschaftlichenKurs
noch schwammig und widersprüchlich.
Zum einen wird eine expansive Haus-
haltspolitik versprochen, um die lah-
mendeWirtschaft anzukurbeln. Zum
anderen heisst es, man werde sich an die
europäischenHaushaltsvorgabenhalten,
um ein Strafverfahren abzuwenden.
Bei vielen Programmpunkten wie
etwa der Steuerpolitik wurdenForde-
rungen beider Seitenkombiniert. So
heisst es etwa, die Brutto-Netto-Lohn-
schere solle zugunsten der Arbeitneh-
mer reduziert werden (ein altes Anlie-
genderSozialdemokraten).Gleichzeitig
wird eineReduktion der Einkommens-
steuern insbesondere für Niedrigverdie-
ner angekündigt (ein Steckenpferdder
Cinque Stelle). Laut Experten würden
die beiden Massnahmen aber5Mrd.be-
ziehungsweise3,5 Mrd. €jährlichkosten.
Der Finanzminister wird sie kaum in sei-
nenerstenHaushaltaufnehmenkönnen.
Wenig Spielraum
Umso mehr, als die Steckenpferde
der letztenRegierung, die Senkung
des Rentenalters und die Einführung
eines Grundeinkommens für Arbeits-
lose , vorerst beibehalten werden sol-
len. ImKoalitionsprogramm wird zu-
dem die Erhöhung der Gehälter von
Frauen versprochen.Ausserdem ist von
mehr Unterstützung für junge Selbstän-
dige, für Süditalien und für dieLand-
wirtschaft dieRede, und es soll im gros-
sen Stil in alternative Energien und an-
dere Umweltprojekte investiert werden.
So sinnvoll viele dieser Massnah-
men angesichtsder wachsenden Armut
und des grossen sozialen Gefälles schei-
nen mögen, Italien kann sie sich derzeit
schlicht nicht leisten. DieVorgänger-
regierung hat mit ihrem populistischen
Kurs nicht nur dasVertrauen der Inves-
toren und damit viel Kapital an den
Märkten zerstört. Sie hat auchein tie-
fes Loch im Haushalthinterlassen.Ohne
eine Kurskorrektur dürfte das Defizit im
nächstenJahr auf über 3% des Brutto-
inlandprodukts steigen.
Allein um eine drohende Mehrwert-
steuererhöhungimkommendenJahrab-
zuw enden, mussGualtieri im nächsten
Budget 23 Mrd. € einsparen, und damit
wird er sich weder bei seinen Kabinetts-
kollegen noch beimWahlvolk beliebt
machen.Wollte er das Defizit gar, wie
von seinemVorgänger versprochen,bei
2% halten, müsste er weitere15 Mrd. €
einsparen oder zusätzlich in die Kassen
bringen.Das scheint schlicht unmöglich,
und derFinanzminister wird alles tun,
um in Brüsselfürs Defizit einige Stellen
hinter demKomma herauszuschinden.
RobertoGualtieriwechselt vomEuropaparlament ins italienischeKabinett. EPA
QUELLE: EUROSTAT NZZ Visuals/cke.
DeritalienischePatient
Italien Euro-Raum
Die Wirtschaft kommt nicht in die Gänge Die Schuldenlast drückt
Reales Wirtschaftswachstum imVergleich Staatsverschuldung, in%desBIP
zumVorquartal, in %
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- 2007 30. 6. 2019 2007 2018
In Strassburg
trug Gualtieri
entscheidend dazu bei,
EU-Strafverfahren
gegen Italien
abzuwenden.
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