Samstag, 7. September 2019 WIRTSCHAFT 31
Erstaunliche Kluft zwischen Anspruch und Taten
Wirtschaftsfreundliche Mehrheiten gibt es – und dennoch geschieht nur wenig
PETER A. FISCHER
«Die Schweiz mussWeltspitze blei-
ben!», lautete am diesjährigen Tag
der Wirtschaft die sinnige Losung des
Dachverbands der Schweizer Wirt-
schaft, Economiesuisse. Doch das ist
offensichtlich leichter gesagt als ge-
tan. Denn vor alleminder Politik, die
dazu dieRahmenbedingungen schaffen
müsste, tut sich zwischen deklariertem
Anspruch undWirklichkeit oft eine er-
staunliche Kluft auf. Das zeigt sich ge-
radezu exemplarisch in ausgewählten
Ergebnissen einer Online-Umfragevon
Economiesuisse unter Kandidierenden
für den National- und den Ständerat,
wobei die Umfragekeinen Anspruch
auf Repräsentativität erhebt.
Ein «Schwexit»droht
Das Standortthema, das dieWirtschaft
in den vergangenenJahren besonders
beschäftigt hat, ist das zur freienParti-
zipation am EU-Binnenmarkt und zum
weiterenAusbau der bilateralen Bezie-
hungen von der EU geforderte insti-
tutionelleRahmenabkommen.«Wenn
es uns nicht in überblickbarem Zeit-
rahmen gelingt,das Rahmenabkom-
men abzuschliessen, droht der Schwe-
xit», warnte dazu amTag derWirtschaft
Economiesuisse-Präsident Heinz Kar-
rer. Nimmt man die 247Politiker zum
Massstab, die die Umfrage von Econo-
miesuisse beantwortet haben, müsste
dieses Abkommen eigentlich auf brei-
tes te Zustimmung stossen. Unter den
vier Bundesratsparteien gibt es nur
bei derSVP starkenWiderstand, bei
den übrigen herrscht nahezu einhel-
lige Zustimmung (siehe Grafik).Auch
bei den aus der SP stammendenPoli-
tikern gabennicht wenigerals 97% an,
sie seien für ein solches Abkommen.
Doch bisher ist einJa zu dem nach
fünf Jahren ausgehandeltenVertrags-
werk bereits im Bundesrat amWider-
stand der SP- undSVP-Vertreter ge-
scheitert,und Bundesrat Ueli Maurer
erklärte dasVertragswerk amFreitag
in Zürich vor denWirtschaftsvertretern
kurzerhandfür nicht mehrheitsfähig.
Ziemlich inkonsistent scheint dabei
auch die Haltung einzelnerParteien zu
sein.So geben selbst unter denSVP-Poli-
tikern, die an der Umfrage teilgenom-
men haben, 85% an, für das von der
Wirtschaft dringend gewünschte Strom-
abkommen mit der EU zu sein – ein
Abkommen, das bisher blossam fehlen-
den Rahmenabkommen gescheitertist.
Auch die Unterstützung der für viele
Firmen zentralen Personenfreizügigkeit
mit der EU scheint nahezu ungebro-
chen. Kein einziger derPolitiker aus
der SP, die an der Umfrage teilgenom-
men haben, will diese angeblich kün-
digen, und bloss je einer (2%) aus der
CVP und der FDP. In allen Bundesrats-
parteien ausser derSVP möchten über
drei Viertel der Befragtendie gut ausge-
bildeten Absolventen Schweizer Hoch-
schulen aus (nichtzur EU gehörenden)
Drittstaaten vom rigidenAusländer-
kontingent ausnehmen, damit sie hier-
zulande einfach arbeitenkönnen.Selbst
unter denSVP-Politikern beträgt die
Zustimmung dafür fast die Hälfte. Doch
geschehen ist bisher nichts.
Mehrheiten in allen vier Bundesrats-
parteien finden offenbarauch , dass die
Ausgaben für Bildung, Forschung und
Innovation gegenüber denjenigen für
Landwirtschaft, Entwicklungshilfe und
Armee priorisiert werden sollten;selbst
bei derBauernparteiSVP sind es 55%
- gleichzeitig feiern die Subventionen
für dieLandwirtschaft Urständ.
Besonders erstaunlich wirkt die Dis-
krepanz zwischen Absicht undTaten
auch bei der Altersvorsorge.Ausser in
der SP befürworten in den anderen drei
grossenParteien sehr solide Mehrhei-
ten das Anliegen derWirtschaft, das
Rentenalter fürFrauen und Männer
anzuheben. Doch während viele Staa-
ten längst zurTat geschritten sind und
sich auch in der Bevölkerung zuneh-
mendesVerständnis für die Notwendig-
keiteinesAnstiegsdesRentenaltersab-
zeichnet,scheintinderSchweizdiewirt-
schaftsfreundliche Mehrheit nicht den
Mut aufzubringen,sich gegen denWi-
derstand der Sozialdemokraten durch-
zusetzen.
Wechselnde Allianzen
Will dieWirtschaft effektiver umRah-
menbedingungenwerben,diedieStand-
ort gunst der Schweiz stärken, muss
es ihr offensichtlich besser gelingen,
wechselnde Allianzen zu unterstützen
und diese davon zu überzeugen, dass
es sich lohnt, gegen starkenWider-
stand von mindestens einer Seite an-
zugehen.SozeigendieAntwortendeut-
lich, dass die SP-Parlamentarier unge-
achtet aller wirtschaftlichenVernunft
nur sehr schwer für Steuersenkungen,
Steuerwettbewerb, ein Zurückdrängen
des Staates oder Einschränkungen bei
der Altersvorsorge oder der Kranken-
kasse zu gewinnen sind. BeiFragen
der europäischen Integrationkönnten
sie hingegen zu wirtschaftsfreundlichen
Kompromissen Hand bieten. DieSVP
wiederum ist tendenziell wirtschafts-
freundlich, wenn es um weniger Staat
und Steuern oder um mehr Effizienz
und Innovation geht – aber sie agiert
gerne protektionistisch, wenn es die
Marktöffnung, Europa und die Inter-
essendes Gewerbes betrifft.
Während in der FDP nach wie
vor der eindeutig wirtschaftsliberalste
Geist unter den vier grossenParteien
herrscht, gibt es in der bürgerlichen
CVP eine signifikante sozial-etatisti-
sche Minderheit. 29% der befragten
CVP-Mitglieder würden einer Locke-
rung der Schuldenbremse zustimmen,
42% möchten digitale Sondersteuern
einführen und 25% auf eine vollstän-
dige Liberalisierung des Strommarkts
ve rzichten.
Wirtschaftsliberale Geister beson-
ders beunruhigen sollten die Antwor-
ten auf einige spezifischeFragen. So
gaben fast ein Drittel der CVP-Politi-
ker, gut zwei Drittel der SP-Politiker
und knapp über die Hälfte derSVP-
Parlamentarier an, die Schweizerische
Nationalbank dazu verpflichten zu wol-
len, die Einnahmen aus Negativzinsen
den Pensionskassen auszuzahlen, was
einem gefährlichen Schritt in Richtung
monetärer Finanzierung durch die un-
abhängige Notenbank gleichkäme. Und
eine staatliche Investitionskontrolle
mitsamt neuerKontrollbehörde schaf-
fen möchten 83% der Antwortenden
aus der SP und immerhin 44% aus
der CVP.
Dass in der Umweltpolitik Mach-
barkeit und Kosten derzeit eine er-
schreckend geringeRolle spielen, zei-
gen schliesslich die Antworten auf die
Frage, ob die Schweiz bis 2050 voll-
ständig aus fossilen Energieträgern aus-
steigen sollte.Alle antwortenden SP-
Politiker, drei Viertel der CVP-Politi-
ker und sogar knapp über die Hälfte
der FDP-Mitglieder sprachen sich da-
für aus; nur bei derSVP waren neun
von zehn dagegen.
Neues Kernthema Ungleichheit
Einen anderen Aspekt als das Schmie-
den fragiler politischer Allianzen zur
Sicherung der wirtschaftlichenWettbe-
werbsfähigkeit hob amTag derWirt-
schaft der ZürcherWirtschaftsprofes-
sor David Dorn hervor. Er betonte,
dass wirtschaftlich sinnvolle Massnah-
men wie handelspolitische Offenheit
oder ein attraktives Steuerklima nur
so lange gut durchzusetzen seien, wie
eine Mehrheit in der Bevölkerung das
Gefühl habe, von Wirtschaftswachstum
und Wohlstand zu profitieren.
Für Dorn ist denn auch Ungleich-
heit das neueKernthemain der Öko-
nomie.Weil sich die Einkommensent-
wicklung in der Schweiz deutlich weni-
ger ungleich entwickelt hat als in den
USA, glaubt er, dass wirtschaftsfeind-
licherPopulismus hierzulande einen
schwereren Stand hat. Anzufügen ist
dem allenfalls,dass die direkte Demo-
kratie, die immer wieder zum Überzeu-
gen von Mehrheiten zwingt, und der
fiskalischeFöderalismus daran ihren
guten Anteil haben dürften – selbst
wenn sich zwischen den deklarierten
Absichten und denTaten vonParla-
mentariern oft eine beklagenswerte
Kluftauf tut.
QUELLEN: ECONOMIESUISSE, ELECTIONS.CH NZZ Visuals/efl.
DiePoliti ksteht hinter den Anliegender Wirtschaft
«Befürworten Sie ein institutionelles
Abkommen mit der EU?»
SP CVP FDP SVP
«Befürworten Sie ein Stromabkommen
mit der EU?»
Umfrage unter 247 Kandidierenden für den National- und den Ständerat.
Anteil der für das Parlament Kandidierenden, die die Frage zustimmend beantwortet haben.
97 96 98
10
«Befürworten Sie eine Erhöhung des
Rentenalters für Frauen und Männer?»
SP CVP FDP SVP
64
96
7
80
SP CVP FDP SVP
89
100
72
85
«Soll die Schweiz eine staatliche Investi-
tionskontrolle einführen und eine ent-
sprechende Kontrollbehörde schaffen?»
SP CVP FDP SVP
44
4
83
20
«Befürworten Sie den vollständigen
Ausstieg der Schweiz aus fossilen
Energieträgern bis 2050?»
SP CVP FDP SVP
76
53
100
10
«Soll die Nationalbank verpflichtet
werden, die Einnahmen aus Negativzinsen
den Schweizer Pensionskassen zugute-
kommen zu lassen?»
SP CVP FDP SVP
29
14
69
55
Die Wirtschaft der USA schaltet einen Gang zurück
In Amerika hat sich das Beschäftigungswachstum verlangsamt – der Industriesektor stag niert
MARTIN LANZ,WASHINGTON
Eines der wichtigstenWahlversprechen
von Präsident DonaldTrump ist dieFör-
derung der Industriebeschäftigung. Das
Versprechen hat ihm besonders in den
Rostgürtel-Gliedstaaten Pennsylvania,
Ohio,MichiganundWisconsinZulaufbe-
schert.Die neuen, amFreitag veröffent-
lichten Arbeitsmarktzahlen zeigen aber,
dass Trump ein Problem bekommt.
Zwar ist der Arbeitsmarkt in der
Summe weiterhin in einem guten Zu-
stand. Die offizielle Arbeitslosenquote
beträgthistorischniedrige3,7%,undauch
im August hat die US-Wirtschaft netto
eine ansprechend hohe Zahl neuer Stel-
len geschaffen. Im Privatsektor entstan-
den 96000 Jobs, im öffentlichen Sektor
34 000. Der Beitrag des Staats ist dabei
überzeichnet,weildieBundesverwaltung
im August temporär 25000 Personen für
die Durchführung derVolkszählung2020
angestellt hat.
Geht man ein bisschen tiefer in die
neusten Zahlen,zeigensich deutliche
Bremsspuren. So liegt der Beschäfti-
gungszuwachs von total 130000 im Au-
gust unter dem Monatsdurchschnitt von
158000 im bisherigenJahresverlauf und
weit unter demDurchschnitt von 223 000
des Jahres 2018. Neben dieser allgemei-
nenVerlangsamungoffenbartsichzudem
zunehmendeine Zweiteilung imArbeits-
markt. So hat das Beschäftigungswachs-
tum in den letzten sechs Monaten fast
ausschliesslich im Dienstleistungssektor
stattgefunden, während die Entwicklung
in der Industrie bestenfalls flach war.
Das deckt sich mit der Entwicklung
der Industrieproduktion,die seitJanuar
rückläufig ist. Beobachter sprechen von
einer«Industrierezession»,auchwenndie
Beschäftigungseit Januar nochleicht um
26 000(19000indenletztensechsMona-
ten) zugenommen hat. 2017 und 20 18
hattedagegendieIndustriebeschäftigung
einen Miniboom erlebt,als sie von 12,368
Mio. auf 12,809 Mio. um fast 450000oder
pro Monat um fast 20000 zun ahm.
Innerhalb der Industrie gibt es freilich
beträchtliche Unterschiede. In der Pro-
dukt ion dauerhafter Güter hat sich die
Beschäftigung diesesJahr fast nur noch
in der Branche «Computer und elektro-
nische Produkte» positiv entwickelt.In
der Metallbranche, sowohlbei den Pri-
märmetallen wie bei den fabrizierten
Metallprodukten,ist sie rückläufig – trotz
TrumpsZöllenaufStahl-undAluminium,
welche die heimische Produktion schüt-
zensollen.Undganzoffensichtlichleiden
die Maschinenindustrie und dieTrans-
portmittelindustrieunterdemschwachen
globalenUmfeld,daswiederumstarkvon
Trumps Zöllen beeinflusst ist.
BeidenkurzlebigenGüternistdieBe-
schäftigung in den letzten sechs Monaten
nur noch in der Lebensmittelproduktion
und in der Branche «Plastik und Gummi-
produkte» gestiegen. In der wichtigen
US-Chemiebranche mit ihren derzeit
857 000 Beschäftigten hat die Dynamik
dagegen ebenfalls deutlich nachgelassen.
Die grosseFrage ist, ob und wann die
Schwäche des Industriesektors auch die
Dienstleistungen und denKonsumen-
ten erfasst. In der industriellen Produk-
tion sind weniger als 10% aller Ameri-
kaner beschäftigt, die weniger als 12%
der gesamtenWirtschaftsleistung erbrin-
gen.Die Industrierezession muss deshalb
nicht zwingend zur gesamtwirtschaft-
QUELLEN: BLS, FRED NZZ Visuals/cke. lichenRezession werden.
Diealten Industrienfallen in denUSA zurück
DerIT-Sektor boomt
Nettoveränderung der grössten Industrie-
zweige von März bis August, intausendStellen
Beschäftigte im produzierenden Gewerbe
(Manufacturing), inTausend
–6 –3 0369 12 15
Chemikalien
Verschiedene
Computer
und Elektronik
Maschinen
Fabrizierte
Metallprodukte
Lebensmittel
Transportmittel
Der Rostgürtel stagniert
0
200
400
600
800
1000
1200
- 1990 1. 7. 2019
Ohio
Wisconsin
Pennsylvania
Michigan