Die Welt am Sonntag Kompakt - 08.09.2019

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18 DEUTSCHLAND & DIE WELT WELT AM SONNTAG NR.36 8.SEPTEMBER


ORTSVORSTEHER IN HESSEN


NPD-Vertreter


einstimmig gewählt


Der Ortsbeirat einer hessischen
Gemeinde hat einen NPD-Funk-
tionär einstimmig zum Ortsvor-
steher gewählt. Alle sieben anwe-
senden Vertreter des Beirats von
Altenstadt-Waldsiedlung wählten
den stellvertretenden NPD-Landes-
vorsitzenden Stefan Jagsch zum
Vorsteher, wie die Kreisgeschäfts-
stelle der CDU Wetterau bestätigte.
Darunter waren auch Mandatsträger
von SPD, CDU und FDP. Die Lan-
desverbände zeigten sich entsetzt.
Jagsch war der einzigen Kandidat.


KASSENARZT-CHEF


Freie Arztwahl


künftig begrenzen


Kassenarzt-Präsident Andreas Gas-
sen will die freie Arztwahl begren-
zen. Es könne dauerhaft kaum je-
dem Patienten „sanktionsfrei ge-
stattet bleiben, jeden Arzt jeder
Fachrichtung beliebig oft aufzusu-
chen, und oft noch zwei oder drei
Ärzte derselben Fachrichtung“,
sagte der Vorstandsvorsitzende der
Kassenärztlichen Bundesvereini-
gung (KBV) der „Neuen Osnabrü-
cker Zeitung“.


MOBILFUNK


Scheuer plant


weiteren Ausbau


Bundesinfrastrukturminister An-
dreas Scheuer (CSU) will mit einem
Fünf-Punkte-Plan das deutsche
Mobilfunknetz auf Vordermann
bringen. „In unserem Land muss
unterbrechungsfreies Surfen und
Telefonieren selbstverständlich
werden – und zwar nicht in ferner
Zukunft, sondern so schnell wie
möglich“, sagte Scheuer. Dazu sol-
len Planung, Genehmigung und
Ausbau von 4G- und 5G-Netzen
beschleunigt sowie Lücken im 4G-
Netz geschlossen werden.


RELIGIÖSE SYMBOLE


Kopftuch vor Gericht


nicht angebracht


Kopftuch, Kreuz, Kippa: Auf solche
religiösen oder weltanschaulichen
Symbole oder Kleidungsstücke sol-
len Richter und Staatsanwälte in
Niedersachsen nach dem Willen der
Landesregierung künftig grund-
sätzlich verzichten. „Die Bürger
müssen sich darauf verlassen kön-
nen, dass die Justiz ihnen vollkom-
men neutral gegenübertritt“, sagte
Justizministerin Barbara Havliza
(CDU). „Und sie können auch er-
warten, dass das optisch zum Aus-
druck kommt.“


DIESE WOCHE


on vitae sed scholae discimus“


  • nicht für das Leben, son-
    dern für die Schule lernen
    wir. Das kritisierte Seneca
    etwa 62 nach Christus in ei-
    nem Brief an seinen Freund Lucilius.
    Ähnliche Kritik hört man heute auch
    von Soziologen und Bildungsforschern.
    Zum Beispiel, was die Sprache betrifft,
    in der ebendieser Satz von Seneca ge-
    schrieben ist: Latein.


VON SARAH MARIA BRECH

Zunächst einmal versprechen sich
die meisten Eltern besonders viel da-
von, dass ihre Kinder Latein lernen.
Das zeigen neue Forschungen der Frei-
en Universität (FU) Berlin: Soziologen
um Professor Jürgen Gerhards befrag-
ten die Eltern von Achtklässlern, deren
Kinder auf ein Gymnasium mit Latein-
angebot gehen. 80 Prozent dieser El-
tern glauben demnach, dass Latein das
logische Denken besser als moderne
Fremdsprachen fördere. 79 Prozent,
dass es das Deutschniveau stärker ver-
bessere als moderne Fremdsprachen.
Und 71 Prozent, dass es für das Erler-
nen anderer Fremdsprachen nützlicher
sei. Der Wert liegt umso höher, je gebil-
deter die Eltern sind. Am höchsten ist
er bei denjenigen, deren Familie bereits
seit mindestens zwei Generationen aus
Akademikern besteht. Der Haken ist

nur: Beweisen lässt sich ein solcher
Nutzen nicht.
Sind die mehr als 600.000 Jugendli-
chen, die in Deutschland Latein lernen,
also Opfer einer überholten Tradition,
der zufolge die alte Sprache selbstver-
ständlich zum Bildungskanon gehört?
Verschwenden sie in Wirklichkeit ihre
Zeit? Wer sich mit Wissenschaftlern da-
rüber unterhält, bekommt unterschied-
liche Antworten – je nach Forschungs-
richtung. Kurz gesagt: Latein hat durch-
aus seinen Wert. Aber es ist ein anderer
als der, der ihm gemeinhin zugeschrie-
ben wird.

KEIN NACHWEISLICHER EFFEKTStu-
dienautor Gerhards, Geschäftsführen-
der Direktor des Instituts für Soziologie
an der FU, erklärt: „Dieser vermutete
Transfernutzen – dass Latein also beim
logischen Denken, beim Grammatikver-
ständnis oder dem Erlernen weiterer
Fremdsprachen nützlicher ist als andere
Sprachen – lässt sich empirisch nicht
nachweisen.“ So führten beispielsweise
der Bildungswissenschaftler Ludwig
Haag und die Lernforscherin Elsbeth
Stern schon um die jüngste Jahrhun-
dertwende mehrere Untersuchungen zu
dem Thema durch. Sie fanden keine Un-
terschiede im logischen Denken zwi-
schen Schülern, die Latein lernten, und
jenen, die eine moderne Fremdsprache
lernten. Eine österreichische Studie von

2 008 bestätigte diesen Befund. In ande-
ren kleinen Studien von Stern und Haag
zeigte sich zwar ein leicht positiver Ef-
fffekt von Latein auf das Erkennen vonekt von Latein auf das Erkennen von
Fehlern in der deutschen Grammatik –
aaaber ein leicht negativer auf das Erler-ber ein leicht negativer auf das Erler-
nen von Spanisch. Hier machten Stu-
dentinnen, die Latein gelernt hatten, vor
allem in der Grammatik mehr Fehler als
jene, die Französisch konnten. Gerhards
rät darum, statt Latein eine moderne
Fremdsprache zu wählen. Die Zahl der
Unterrichtsstunden sei nun einmal be-
grenzt. Der wichtigste Zweck einer
Sprache sei es, Kommunikation mit an-
deren zu ermöglichen, „und das leistet
Latein gerade nicht“.
Philologen sehen die Sache ein wenig
anders – auch wenn sie dem Soziologen
in einigen Punkten recht geben. Um
Grammatik zu lernen, brauche man
kein Latein, bestätigt etwa die belgi-
sche Sprachwissenschaftlerin und Ang-
listin Annick De Houwer, Professorin
für Spracherwerb und Mehrsprachig-
keit an der Universität Erfurt. „Die
wichtigsten Grammatikregeln beherr-
schen Schüler bereits, wenn sie auf die
weiterführende Schule kommen.“ La-
tein sei auch keineswegs besser oder lo-
gischer strukturiert als andere Spra-
chen. Einen praktischen Vorteil sieht
De Houwer im Lateinischen aber trotz-
dem: Wer es gelernt habe, könne sich
Vokabeln anderer Sprachen besser mer-

Knapp ein Drittel


der Schüler an


Gymnasien büffelt


die tote Sprache –


auch wegen der


Hoffnung auf


besseres logisches


Denken. Vergeblich,


der eigentliche


Nutzen liegt ganz


woanders


RespektpersonWer Latein kann, dem werden auch weitere Fähigkeiten zugeschrieben

N


Latein


macht


Eindruck indruck

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