Die Welt am Sonntag Kompakt - 08.09.2019

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ken. Viele moderne westeuropäische
Sprachen – vor allem die romanischen,
aber auch Englisch – seien vom Lateini-
schen geprägt.
Ähnlich argumentiert Thomas Paul-
sen, der als Professor am Institut für
Klassische Philologie der Goethe-Uni-
versität Frankfurt den alten Sprachen
natürlich besonders zugetan ist. „Latein
ist die Muttersprache aller romanischen
Sprachen“, sagt Paulsen, und es erleich-
tere den Zugang zu den neueren Spra-
chen außerordentlich. Wer Latein be-
herrsche, könne zumindest Texte in un-
bekannten romanischen Sprachen le-
sen. So habe er selbst zum Beispiel im
Zug einmal eine rumänische Zeitung ge-
funden und die Schlagzeile sofort ver-
standen. „Ultimul stinge lumina“(Der
Letzte macht das Licht aus) stand da-
rauf, und das klingt für Lateiner tat-
sächlich recht vertraut.
Dieser unmittelbare praktische Nut-
zen ist für Paulsen aber gar nicht das
Entscheidende. „Wenn man nur danach
geht, was man später anwendet, sind 80
Prozent des Schulunterrichts überflüs-
sig“, sagt er. Wissen habe aber einen
Wert, der darüber hinausgehe. „Es er-
möglicht Kultur, Fantasie und Kreativi-
tät. Ganz kurz gesagt: Bildung kann
glücklich machen.“ Nun besteht Bil-
dung natürlich nicht nur aus Latein, das
gesteht auch der klassische Philologe
zu. Wer kein Interesse daran habe, solle


es eben nicht lernen. Vergessen werden
sollte es aber auch nicht. Immerhin ha-
be die Sprache der Römer Philosophie,
Theologie und Naturwissenschaften
2000 Jahre lang geprägt. „Wenn nie-
mand mehr Latein lernen würde, würde
das kulturelle und historische Gedächt-
nis Europas erlöschen“, sagt Paulsen.
Momentan sieht es nicht danach aus.
In Deutschland ist Latein laut Statisti-
schem Bundesamt die Fremdsprache,
die am dritthäufigsten gelernt wird –
nach Englisch und Französisch. Ein
knappes Drittel der Jugendlichen an
Gymnasien lernt Latein. Die Tendenz
geht allerdings, nach einem Hoch in den
Nullerjahren, wieder leicht nach unten.
Die „tote“ Sprache hat bei vielen den
Ruf, staubtrocken und langweilig zu
sein. Das liegt vor allem daran, dass man
sich auf Latein eben nicht unterhalten
kann. Nicht einmal der gelehrteste
Oberstudienrat führt heutzutage mit
seinen Primanern noch Gespräche auf
Latein. Die Sprache hat sich in ihrem
Vokabular seit Jahrhunderten kaum wei-
terentwickelt, sodass aktuelle Themen
darin kaum besprochen werden können.
Der Schwerpunkt des Unterrichts liegt
auf Grammatik und Übersetzung. Ganz
im Gegensatz zum Credo des modernen
Fremdsprachenunterrichts.

GESCHICHTE EINBEZIEHEN Vieles,
was Spaß mache – Gespräche führen,
singen, spielen –, komme im Lateinun-
terricht kaum vor, sagt De Houwer. „Ich
empfehle Lateinlehrern darum, die Ge-
schichte mit einzubeziehen. Es gibt viele
gute Bücher über die Römer und ihre
Kultur, die für Kinder geeignet sind.
Wenn sie hören, wie diese Menschen ge-
lebt haben und wie ihr Erbe uns bis heu-
te prägt, macht es das Fach Latein gleich
interessanter.“ Sie plädiert für ein Fach
Europäische Kulturgeschichte, in dem
sowohl die römische Geschichte behan-
delt würde als auch die wichtigsten la-
teinischen Vokabeln. Wer sich danach
weiter informieren wolle, könne den
klassischen Lateinunterricht besuchen.
In jedem Fall hat Latein noch einen
sehr eigenen und überraschenden Zu-
satznutzen, wie Soziologe Gerhards he-
rausgefunden hat. Weil Menschen näm-
lich glauben, dass die Sprache so viele
zusätzliche Effekte hat, schreiben sie
denen, die es gelernt haben, positive Ei-
genschaften zu. Vor allem halten sie sie
für kulturell gebildeter als andere. Und
dieser Glaube schafft eine neue Realität.
Tim Sawert, einer von Gerhards’ Mitar-
beitern, hat das in seiner Dissertation
untersucht: Wer Latein gelernt hat,
wird demnach häufiger zu Vorstellungs-
gesprächen eingeladen. Zudem nutzen
bildungsbürgerliche Eltern das Prestige
der Sprache, um sich und ihre Kinder
von anderen abzugrenzen – das Abitur
allein reicht dafür heutzutage nicht
mehr aus. „Latein hat zwar keinen grö-
ßeren praktischen Nutzen als moderne
Sprachen“, sagt Gerhards, „aber weil
Menschen das fälschlicherweise anneh-
men, bekommt Latein eine symbolische
Bedeutung. Es ist wie mit einem Place-
bo, das wirkt, weil Patienten daran glau-
ben.“ Insofern hatten also jene alten La-
teiner recht, die das Seneca-Zitat ir-
gendwann umdichteten: „Non scholae
sed vitae discimus.“ Für die Schule mag
Latein nicht besonders nützlich sein.
Für das weitere Leben offenbar schon.

PA/ HERITAGE-IMAGES

/ THE PRINT COLLECTOR

WELT AM SONNTAG NR.36 8.SEPTEMBER2019 DEUTSCHLAND & DIE WELT 19


Wir haben genug Geld, da
können wir etwas zurück-
geben“, sagt Bürgermeister
Frank Schneider. Der Haushalt der
60.000-Einwohner-Stadt Langenfeld
im Rheinland weist seit dem Jahr 2008
einen Überschuss aus. Jetzt senkt
Schneider sowohl die Gewerbe- als auch
die Grundsteuer, in drei Schritten bis
zum Jahr 2021.

VON KARSTEN SEIBEL

Er reagiert auf die Nachbarschaft zu
Köln und Düsseldorf – und vor allem zu
Monheim. „Ich wurde von Geschäfts-
führern angesprochen, ob bei den Steu-
ern auch bei uns was möglich ist oder
sie ihr Büro nach Monheim verlegen
müssen“, sagt der CDU-Politiker. Mon-
heim gehört seit Jahren zu den steuer-
lich attraktivsten Gemeinden. So nied-
rig wie in der 40.000-Einwohner-Stadt
ist die Gewerbesteuer nirgendwo, bei
der Grundsteuer reicht es für Platz fünf.
Da musste Langenfeld reagieren und
den Abstand bei den Hebesätzen redu-
zieren. Schließlich sollen auch in Zu-
kunft Arbeitsplätze und Gewinne in
Langenfeld bleiben und neue entstehen.
Ein Wettbewerb wie zwischen Lan-
genfeld und Monheim ist selten. Trotz
der über Jahre erfreulichen Konjunk-
turlage und steigender Einnahmen
sind Steuersenkungen im Kampf um
Unternehmen und Arbeitskräfte die
Ausnahme. Das zeigt eine Untersu-
chung des Deutschen Industrie- und
Handelskammertags (DIHK), die
WELT AM SONNTAG exklusiv vor-
liegt. Von 699 Gemeinden mit mehr als
20.000 Einwohnern senkten in diesem
Jahr nur acht die Hebesätze für die Ge-
werbesteuer. 54 erhöhten sie. Die
Grundsteuer ging in zehn Gemeinden
zurück, in 37 stieg sie.

HAUSGEMACHTE PROBLEMEErhö-
hungen wollen nicht recht zu den Zah-
lender kommunalen Spitzenverbände
passen. Sie rechnen auch für 2019 mit
einem deutlichen Überschuss der Kom-
munen – in Höhe von 5,6 Milliarden Eu-
ro. Nicht nur das Steueraufkommen
steigt dank der guten Wirtschaftslage
seit Jahren. Auch der Bund schießt im-
mer mehr Geld hinzu. Gleichzeitig sind
die Zinsausgaben für den Schulden-
dienst gering.
Erhöhungen seien oft in Gemeinden
mit hausgemachten Finanzierungspro-
blemen zu finden, sagt DIHK-Hauptge-
schäftsführer Martin Wansleben.
„Dort werden Haushaltslöcher ge-
stopft, und das Geld fehlt, um in die
Zukunft zu investieren.“ Für Gemein-
den mit hohen Hebesätzen werde es
immer schwieriger, sich im Wettbe-
werb mit anderen Regionen zu behaup-
ten. Er spielt auf Defizite wie ungenü-
gende Verkehrsanbindung und fehlen-
des Breitbandnetz an.

Kurzfristig lassen sich mit höheren
Hebesätzen die größten Lücken im Ge-
meindehaushalt ausgleichen, doch auf
lange Sicht wandern Unternehmen eher
ab, und die Steuereinnahmen sinken.
Die DIHK-Zahlen zeigen: Ohnehin hoch
verschuldete Gemeinden haben die
höchsten Hebesätze. Die Top 30 beim
Gewerbesteuerhebesatz liegen allein
Nordrhein-Westfalen, angeführt von
Oberhausen (580 Prozent), Mülheim
und Erftstadt (je550 Prozent). Der
durchschnittliche Satz in Deutschland
beträgt 436 Prozent – fünf Prozent-
punkte mehr als im Jahr 2014.
Die für Unternehmen relevante
Grundsteuer B ist in den vergangenen
fünf Jahren im Schnitt sogar um 32
Punkte auf 539 Prozent gestiegen. Sechs
Gemeinden haben den Hebesatz 2019
um mehr als 100 Prozentpunkte erhöht.
Mit Abstand vorn liegt Offenbach in
Hessen mit einem Aufschlag von 395
Prozentpunkten auf 995 Prozent. Den
niedrigsten Hebesatz bei der Grund-
steuer weist Ingelheim am Rhein auf –
mit konkurrenzlosen 80 Prozent.

GROSSE UNTERSCHIEDEFür Unter-
nehmen fallen die Unterschiede ins Ge-
wicht. Der DIHK rechnet vor: Eine mit-
telständische Kapitalgesellschaft mit ei-
ner Gewerbeimmobilie mit einem Ein-
heitswert von 1,5 Millionen Euro muss
in Nordrhein-Westfalen im Jahr 46.
Euro mehr Gewerbe- und Grundsteuer
zahlen als im benachbarten Rheinland-
Pfalz, sogar fast 64.000 Euro mehr als
in Baden-Württemberg.
Auch die Wirtschaftsforscher des ar-
beitgebernahen Instituts der deut-
schen Wirtschaft (IW) sehen einen di-
rekten Zusammenhang zwischen der
Pro-Kopf-Verschuldung einer Kommu-
ne und der Höhe der Hebesätze der
Gewerbe- und der Grundsteuer. „Da-
durch haben sich zahlreiche Gemein-
den in eine Negativspirale begeben“,
schreiben die Experten. Finanziell soli-
de Kommunen können ihre Hebesätze
konstant halten oder in Einzelfällen so-
gar senken. „Somit wurden sie noch at-
traktiver im Wettbewerb um Unter-
nehmen, Investitionen und Fachkräf-
te“, heißt es in einem IW-Report „Ver-
schuldung der Kommunen in Deutsch-
land – Vorschläge für mehr Handlungs-
fähigkeit“. Damit die schwachen Ge-
meinden aus der Negativspirale kom-
men, sieht der DIHK vor allem die Län-
der gefordert.
Das Stichwort, damit auch Kommu-
nen in finanzschwachen Regionen wie-
der Handlungsspielraum zurückgewin-
nen, heißt „Altschuldentilgung“. In
Hessen hat die Landesregierung schon
vor Jahren die Möglichkeit eines Schul-
denschnitts für Kommunen geschaffen.
Im Juli signalisierte die Bundesregie-
rung erstmals, dass der Bund überschul-
dete Gemeinden bei Zins und Tilgung
unterstützen könnte.

KlammeKommunen


verspielen ihre Zukunft


Gerade in Gemeinden mit Finanzproblemen müssen


Unternehmen immer höhere Gewerbesteuern zahlen


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