Die Welt am Sonntag Kompakt - 08.09.2019

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6 DEUTSCHLAND & DIE WELT WELT AM SONNTAG NR. 36 8. SEPTEMBER 2019


richtig. Dafür müsste dann auf der
anderen Seite des Spektrums eine
stärkere Progression bei sehr hohen
Einkommen erfolgen.


Ein Grund für die kriselnde Welt-
wirtschaft ist der Protektionismus
von Donald Trump. War es im
Rückblick ein Fehler der Grünen,
sich gegen das europäisch-amerika-
nische Freihandelsabkommen
TTIP zu wenden?
Das Problem ist nicht der Freihandel.
Für den sind wir. Es waren die fehlen-
den Standards. Wenn wir in Europa
die Tendenzen zu immer stärkerem
Nationalismus überwinden wollen,
brauchen wir Handelsabkommen. Sie
sind ein ziviles Mittel, um geostrate-
gisch Interessen und Werte zu vertei-
digen – statt mit Waffengewalt. Aber
dann müssen diese Abkommen ja
selbst den Werten einigermaßen ent-
sprechen. In Freihandelsabkommen
muss beispielsweise Klimaschutz ver-
bindlich verankert werden und ein-
klagbar sein. Das fehlt beim Merco-
sur-Abkommen für Südamerika – und
deshalb wird der Zerstörung des
Amazonas nichts Wirksames entge-
gengesetzt, was am Ende auch uns in
Europa gefährdet. Wir müssen Euro-
pas Interessen verteidigen, nicht nur
mit Freihandel.


Sondern?
Beispielsweise durch eine Stärkung
der europäischen Währung. Warum
sind die USA in der Lage, das Iran-
AAAbkommen zu torpedieren? Weil diebkommen zu torpedieren? Weil die
Leitwährung der Welt noch immer
der US-Dollar ist, er eine Vormacht-
stellung hat. Zwei Drittel der Devi-
senreserven der Staaten sind Dollar.
WWWäre der Euro eine weltwirtschaftli-äre der Euro eine weltwirtschaftli-
che Leitwährung, könnten die Euro-
päer Geschäfte mit Teheran über
den Euro abwickeln. Der Euro wäre
dann ein ziviles Mittel, um geopoli-
tisch zu agieren.


Mit dem Euro könnten Unterneh-
men jetzt auch Iran-Geschäfte ab-
wickeln. Aber sie haben Angst, da-
durch den Zutritt zum US-Markt zu
verlieren.
Das ist ein zusätzliches Problem.
Aber wäre der Euro eine globale Leit-
währung, würden also die Devisen
der Staaten stärker im Euro angelegt
werden, hätten wir weit mehr Wehr-
haftigkeit in diesem und in anderen
Konflikten.


Dann wäre die Unabhängigkeit der
EZB vorbei.
Nein, die amerikanische Zentralbank
ist ja auch unabhängig. Darüber klagt
Donald Trump gerade täglich, aber er
kann es nicht ändern. Wir müssen da-
für nur gemeinsame europäische An-
leihen schaffen, damit andere Staaten
eine Anlagemöglichkeit für ihre Devi-
senreserven in Euro haben.


Trump wird für den Handelskrieg
mit China verantwortlich gemacht.
Aber ist nicht die chinesische Rück-
sichtslosigkeit in der Handels- und
Wirtschaftspolitik der wesentliche
Grund für den Konflikt?


Die Art, wie China weltweit eigene
machtstrategische Interessen durch-
setzt, ist besorgniserregend. Chinas
Investitionen in Häfen oder Flughä-
fen sorgen nicht nur für eine ökono-
mische Abhängigkeit der Empfänger-
länder, sondern nehmen auch Ein-
fluss auf die demokratische Aufstel-
lung der Länder. Hinzu kommt, dass
China ein Know-how in der künstli-
chen Intelligenz und der Digitalisie-
rung entwickelt hat, dem Europa
noch nichts entgegensetzen kann.
Wenn wir chinesische Technik be-
nutzen und Peking würde irgend-
wann entscheiden, über sie gegen un-
sere Interessen zu agieren, sind wir
geliefert. Dabei ist Europa als Wirt-
schaftsraum immer noch größer als
China. Wir dürfen dieses Feld also
nicht China überlassen, sondern
müssen dem eine eigene Strategie
entgegensetzen.

Für den Aufbau der 5-G-Netze hat
Nokia ein Angebot gemacht. Sollte
man da grundsätzlich Europäern
den Vorrang vor Chinesen geben?
Ja. Aus genau den Gründen. So
könnte eigenes europäisches Know-
how entstehen. Wir sollten da dem
Beispiel der australischen Regie-
rung folgen; sie hat Huawei nicht
zugelassen. Nokia und Ericsson
sollten das machen.

Wie geht es weiter mit der neuen
Regierung in Rom?
Es ist ja ein kleines politisches Wun-
der, dass aus einer innenpolitischen
Krise heraus in Italien noch mal die
Chance auf eine vernünftige Regie-
rung geboren wurde, die ohne Salvi-
ni auskommt. Jetzt ist es von zentra-
lem deutschen und europäischen In-
teresse, dass die neue italienische
Regierung erfolgreich arbeitet. Ita-
lien ist ein Schlüsselland. Darum
muss sich die deutsche Politik über-
legen, wie sie diese Regierung unter-
stützen kann.

Nämlich?
Vor allem muss es einen rasch wir-
kenden Verteilungsmechanismus für
die Flüchtlinge geben, die nach Ita-
lien kommen, um den Rechtspopulis-
ten keine weitere Munition zu liefern.
Und wir brauchen einen Weg, damit
Italien trotz der immensen Verschul-
dung Investitionen in die Infrastruk-
tur tätigen kann.

Was schlagen Sie vor?
Die Europäische Investitionsbank
könnte die Programme für Italien
ausweiten. Wir haben die Chance,
aber auch die Notwendigkeit, die ita-
lienische Regierung zu stützen und
den Rechtspopulismus zurückzu-
drängen. Und Deutschland sollte als
Hauptprofiteur der europäischen Ei-
nigung ein besonderes Interesse da-
ran haben. Deutschland profitiert
davon, wenn Italiens Wirtschaft
fffunktioniert. Deswegen sollten wirunktioniert. Deswegen sollten wir
nicht auf einem schnellen Schulden-
abbau bestehen, sondern den
Schwerpunkt darauf legen, die italie-
nische Wirtschaft wieder in
Schwung zu bringen.

FORTSETZUNG VON SEITE 5

VVVor der Großen Halle des Volkes in Peking or der Großen Halle des Volkes in Peking Bundeskanzlerin Angela Merkel und Chinas

DPA

/ MICHAEL KAPPELER
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