Die Welt am Sonntag Kompakt - 08.09.2019

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WELT AM SONNTAG NR.36 8.SEPTEMBER2019 DEUTSCHLAND & DIE WELT^7


Ministerpräsident Li Keqiang


na-Politik aller 27 EU-Mitgliedsstaaten
fffür neue europäische Stärke sorgenür neue europäische Stärke sorgen
und zugleich das Erbe der merkelschen
Kanzlerschaft bereichern. Außenpoliti-
sche Experten empfehlen diesen Kurs-
wechsel freilich schon lange.
China-Politik ist für die Kanzlerin
keine Nebensache: Zwölf Mal war Mer-
kel in ihrer Amtszeit hier. Nach den ob-
ligatorischen Gesprächen in Peking
reist sie jedes Mal in eine Provinzstadt.
Einmal erinnert sie während dieser
Reise an ihre vorigen Besuche, so im
südchinesischen Shenzhen, einem ehe-
maligen Fischerdorf, das zu einem
Technologiezentrum geworden ist,
Standort des Mega-Unternehmens We-
Chat. Sie erzählt von Hefei, dem Hei-
matort des Ministerpräsidenten Li Ke-
quian im östlichen Teil Zentralchinas,
und von Xian, südwestlich von Peking,
wo sie 2010 mit ihrem Mann ihren 56.
Geburtstag feierte. Auch Hangzhou in

Ostchina kennt sie schon, wo der Tech-
Gigant Alibaba residiert. Und Shan-
dong, eine ehemalige Stahl-Provinz.
Derweil hat sich ihr Chinabild ge-
wandelt. Als junge Kanzlerin empfing
sie noch den Dalai Lama – sehr zum Är-

andelt. Als junge Kanzlerin empfing
ie noch den Dalai Lama – sehr zum Är-

andelt. Als junge Kanzlerin empfing

ger ihres damaligen Außenministers
und Koalitionspartners Frank-Walter
Steinmeier. Seither hat sie viel über
China nachgedacht und nachgelesen.
Als Einstiegslektüre empfahl sie An-
fffang des Jahrzehnts das von Peking ver-ang des Jahrzehnts das von Peking ver-
botene „China in zehn Worten“ von Yu
Hua. Zeitweise wirkte Merkel von Chi-
na regelrecht fasziniert. Das hatte auch
politische Gründe: In der Euro-Krise
fffand Merkel in den KP-Führern verläss-and Merkel in den KP-Führern verläss-
lichere Partner als im Washington Ba-
rack Obamas. Darüber, ob ihre Begeis-
terung zuletzt abgekühlt ist, gibt es un-
terschiedliche Aussagen von Vertrau-
ten. Dass der mächtige Xi Jinping vom
System der kollektiven Führung ab-
wich und eine robuste „China First“-
Politik durchzieht, kann ihr jedenfalls
wohl kaum gefallen.
Andererseits: Während Donald
Trump sie im Weißen Haus zuletzt nur

geschäftsmäßig empfing und durchaus
schroff behandelte, nahm sich Xi Jin-
ping am Freitagabend stundenlang
Zeit für sie. Während die Kanzlerin
sich in der amerikanische Innenpolitik
zuletzt mit durchaus deutlichen Wor-
ten positionierte, vermeidet sie der-
gleichen in Peking. Zur Sonderwirt-
schaftszone Hongkong, wo die Demo-
kratiebewegung ein militärisches Ein-
greifen Pekings befürchten muss, wie-
derholt sie, was der G-7-Gipfel vor ei-
ner Woche in Biarritz als Minimalkon-
sens festgehalten hat: China soll sich
an die Vereinbarung von 1984 halten,
die den Bürgern der ehemaligen briti-
schen Kronkolonie etliche Rechte zu-
gesteht. Und: Ohne die Begleitpresse
trifft Merkel am Samstagabend in der
deutschen Botschaft Menschenrechts-
anwälte. Zum Abschluss ihrer Reise
drückt Merkel die Hoffnung auf eine
fffriedliche Lösung des Konflikts inriedliche Lösung des Konflikts in
Hongkong aus: Alles andere wäre „eine
Katastrophe“.

KEINE KRITIK AN CHINAChina ist in
den vierzehn Merkel-Jahren immer
wichtiger geworden: Der Anteil Chinas
am Welthandel hat sich seit Beginn ih-
rer Amtszeit verdreifacht. Auf diese
Reise begleiten sie deshalb unter ande-
rem die Vorstandsvorsitzenden oder
AAAufsichtsräte von Daimler, VW, BMW,ufsichtsräte von Daimler, VW, BMW,
der Allianz-Versicherung und der
Deutschen Bank. Als inoffizieller Spre-
cher der Wirtschaftsdelegation fun-
giert Siemens-Chef Joe Kaeser, der
auch Vorsitzender des Asien-Pazifik-
AAAusschusses der deutschen Wirtschaftusschusses der deutschen Wirtschaft
ist. In Deutschland interveniert Kaeser
mittlerweile regelmäßig politisch, et-
wa, indem er die AfD-Fraktionsvorsit-
zende Alice Weidel für eine Rede im
Bundestag rügt. Auch mit Kritik an
Trump ist Kaeser schon aufgefallen –
selbst wenn er sie später gar nicht so
gemeint haben wollte. Kritik an China
dagegen äußert Kaeser nicht – jeden-
fffalls nicht öffentlichalls nicht öffentlich.
So groß ist das Zutrauen der chinesi-
schen Führung in die deutsche Delega-
tion, dass Merkel ungewöhnlich „freie“
Begegnungen zugestanden werden.
Nach dem Stopp am Jangtsekiang darf
sie in Wuhan, das seit Helmut Kohls
Besuch im Jahr 1984 von drei auf elf
Millionen Einwohner angewachsen ist,
die Universität für Wissenschaft und
Technologie besuchen. Merkel mag lan-
ge Reden weder hören noch selbst hal-
ten. Lieber trägt sie eine kurze Anspra-
che vor, die mit einem generalistischen
Appell endet: „Global statt national!
WWWeltoffen statt isoliert! Kurzum: Ge-eltoffen statt isoliert! Kurzum: Ge-
meinsam statt allein!“ Danach disku-
tiert sie mit den Studenten.
Dieses Format ist längst zum Stil-
mittel ihrer Reisen geworden. Merkel
liebt es, auch weil es immer wieder
Überraschungen birgt. So wurde die
Kanzlerin vor einem Jahr an einer Uni-
versität in Senegal gefragt, ob es in
Deutschland für Besucher aus Afrika
noch sicher sei. Man höre so viel vom
AAAufschwung rechter Bewegungen. Inufschwung rechter Bewegungen. In
WWWuhan bleiben Überraschungen aus.uhan bleiben Überraschungen aus.
Die Studenten sind offenkundig ange-
halten, jedes politische Thema zu ver-
meiden. Sie fragen nach der Rolle von
Goethe-Instituten und schlagen die
Einrichtung eines Wettbewerbs im Ro-
boterbau vor.

m Samstagmorgen weicht
Angela Merkel zum ersten
und einzigen Mal vom Proto-
koll ab. Da stoppt die lange
WWWagenkolonne der Bundes-agenkolonne der Bundes-
kanzlerin auf einer Brücke, die sich
über den schlammfarbenen Jangtse-
Fluss spannt, und Merkel steigt aus.

VON ROBIN ALEXANDER

Sie geht über die abgesperrte sechs-
spurige Brücke an die Brüstung und
schaut hinunter. Das Panorama ist eher
gewaltig als schön: Der sehr breite Fluss
hat die Farbe von Schlamm, an seinem
Ufer muss man die fast 2000 Jahre alte
Gelbe-Kranich-Pagode suchen. Es do-
minieren neue Hochhäuser ohne archi-
tektonische Ambition, daneben Platten-
bauten und eine mithilfe der Sowjetuni-
on gebaute Eisenbahnbrücke. Aber die
Kanzlerin freut sich, lässt sich filmen

und Erinnerungsfotos schießen. Denn
dies ist ein historischer Ort: Hier stieg
der Vorsitzende Mao einst in den Jang-
tsekiang, durchschwamm den breiten
Fluss und demonstrierte so als 73-Jähri-
ger seine Vitalitätund politisch seinen
Machtanspruch.

MERKLES KANZLERERBE SICHERN
Merkel ist erst 65 – und sie steigt lieber
nicht in den Fluss. Ihr Machtanspruch
reicht allenfalls noch zwei Jahre, bis
2 021. Doch, das wird auch auf dieser
Chinareise deutlich, schon im kom-
menden Jahr will sie als EU-Ratspräsi-
dentin die chinesische Regierung zu ei-
nem Treffen mit allen europäischen
Staats- und Regierungschefs einladen.
Damit würde die übliche Konstellation
endlich einmal umgedreht: Bisher näm-
lich lädt Peking stets die Europäer ein,
am liebsten zur Teilnahme an seinem
gigantischen Seidenstraßenprojekt, das
Infrastruktur und Handelswege von
Europa nach China schafft – selbstver-
ständlich zu Chinas Bedingungen. Statt
von Peking gegeneinander ausgespielt
zu werden, soll eine koordinierte Chi-

A


In Zeiten des Handelskriegs


zwischen den USA und China sowie


Konflikten in Hongkong träumt


die Bundeskanzlerin von einer


europäischen China-Politik


Gute


Position

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