Focus - 06.09.2019

(singke) #1
BLINDBLINDAUSLAND

Fotos:

Getty Images, Doug Mills/The New York Times/laif, dpa

FOCUS 37/2019 45


entwickelt. Zwischen den schmalen,
alten Reihenhäusern entstehen glän-
zende Glastürme. Die Großstadtbewoh-
ner bestellen ihre Taxis per App. Zum
Kaffee trifft man sich bei Starbucks, und
die Gutverdiener gönnen sich abends
10-Euro-Cocktails in den Dachterras-
senbars. Ökonomen erwarten, dass der
Aufschwung weitergeht. Der Internatio-
nale Währungsfonds rechnet für dieses
Jahr mit einem Wachstum von 6,5 Pro-
zent in Vietnam – mehr als in China.
Angetrieben wird die Wirtschaft von
einem Exportboom im Windschatten des
Handelsstreits: Während Chinas Waren-
ausfuhren in die USA in den ersten sechs
Monaten des Jahres um mehr als zwölf
Prozent zurückgingen, stiegen die Lie-
ferungen aus Vietnam um 33 Prozent.
Und die Zahl der Unternehmen, die ihre
Waren in dem Land produzieren wol-
len, wächst rasant: Im ersten Halbjahr
gab es um ein Viertel mehr Lizenzen für
ausländische Investitionsprojekte als im
gleichen Zeitraum 2018.

Vietnamesen sind gut ausgebildet,
verdienen aber weniger als Chinesen
Es ist eine lange Liste an Weltkonzer-
nen, die aus China nach Vietnam flie-
hen. Nintendo hat angekündigt, einen
Teil seiner Spielkonsolenproduktion
von der Volksrepublik in das ebenfalls
kommunistisch regierte Nachbarland
zu verlegen. Der Elektronikhersteller
Sharp änderte Anfang August seinen
Plan, LCD-Displays für den US-Markt
in China herzustellen. Stattdessen sol-
len sie nun in einer neuen Fabrik in der
Nähe von Ho-Chi-Minh-Stadt gefertigt
werden. Displays aus China sind von
neuen US-Zöllen betroffen.
Auch der iPhone-Hersteller Apple
prüft laut dem japanischen Wirtschafts-
magazin „Nikkei Asian Review“, 15 bis
30 Prozent seiner Produktion aus chine-
sischen Werken in vietnamesische zu
verlegen. Der Zulieferer Goertek macht
bereits den Anfang – und testet seit die-
sem Sommer die Fertigung von drahtlo-
sen Apple-Kopfhörern im Norden Viet-
nams. Nicht nur die Technologiebranche
verabschiedet sich aus China: Der ame-
rikanische Sportschuhhersteller Brooks
zieht 8000 Jobs aus China ab und will
ab Ende dieses Jahres vorwiegend in
Vietnam produzieren.
Der Handelskrieg schreckt vor allem
Firmen auf, die in der Vergangenheit
ausschließlich auf China gesetzt haben.
„Den Warnschuss hören auch deutsche
Unternehmen“, sagt Marko Walde, der
die Vietnam-Niederlassung der Deut-

schen Auslandshandelskammer leitet.
Von seinem Büro in Ho-Chi-Minh-Stadt
reiste er in letzter Zeit öfter nach China.
Dort traf er sich mit Mittelständlern aus
Deutschland, die China als ihre Werk-
bank nutzen – und die Folgen des Zoll-
streits fürchten. „Der Handelskonflikt
führt ihnen das Risiko vor Augen, sich
nur auf einen Standort in Asien zu ver-
lassen“, sagt Walde. „Sie suchen nach
einem weiteren Standbein. Vietnam
gehört zu den beliebtesten Optionen.“
Das hat gleich mehrere Gründe: Die
Bevölkerung ist jung und gilt als gut
ausgebildet. Die Löhne sind
niedriger als in China. Das
kommunistische Regime,
das sich vor drei Jahrzehnten
dem Kapitalismus geöffnet
hat, ist wirtschaftsfreundlich
und sieht die Globalisierung
als Chance, nicht als Gefahr.
Wie kaum ein anderes
Land in der Region hat Viet-
nam in den vergangenen
Jahren neue Handelsver-
einbarungen abgeschlossen:
Als Teil der Wirtschaftsge-
meinschaft AEC kann es
Waren innerhalb Südost-
asiens zollfrei liefern.
Durch den transpazifi-
schen Handelspakt CPTPP
ist Vietnam seit Januar in
einer Freihandelszone mit
Ländern wie Japan, Kana-
da und Mexiko. Ende Juni
unterschrieb es ein Freihan-
delsabkommen mit der EU.
2020 soll der Handelspakt
RCEP fertig sein, der neben
Vietnam auch China ein-
schließt.
Vietnams Erfolg auf dem
Weltmarkt möchten auch lokale Unter-
nehmer für sich nutzen. Der Milliardär
Pham Nhat Vuong, der reichste Mann
des Landes, will mit dem ersten Auto-
konzern seines Landes international
durchstarten. Mit traditionellem Dra-
chentanz und Trommelschlägen ließ
er die Fabrik seines Fahrzeug-Start-
ups VinFast Mitte Juni offiziell eröff-
nen. Eine Viertelmillion Autos soll hier
jährlich vom Band laufen und nicht nur
den heimischen Markt versorgen. Die
Technik kommt zu großen Teilen aus
Deutschland. BMW stellte Lizenzen für
den Motor sowie die Basisarchitektur
des X5 und der 5er-Reihe. Die Achsen
kommen vom Zulieferer ZF Friedrichs-
hafen. Das Unternehmen vom Boden-
see hat für das Projekt eigens ein neues

Werk in Vietnam eröffnet. Und zwar in
rasantem Tempo: „Der Erstkontakt mit
VinFast war im Frühjahr vergangenen
Jahres“, erzählt der zuständige Projekt-
leiter Tim van de Stay. „Bereits Anfang
dieses Jahres lieferten wir die ersten
Achsen von dem neuen Standort.“ Ins-
gesamt entstand der Autokonzern Vin-
Fast in nur 21 Monaten.
Die hohe Geschwindigkeit, mit der
sich Vietnams Wirtschaft behauptet,
gefällt nicht jedem. US-Präsident Trump
wirft dem Land vor, sich im Außen-
handel unfair Vorteile zu verschaffen.
Er bezeichnet Vietnam als
den „größten Missbraucher
von allen“. Die USA unter-
suchen derzeit, ob das Land
seine Währung manipuliert,
um Exporte zu verbilligen.
Zudem beklagen die Ame-
rikaner Etikettenschwindel:
Waren, die eigentlich aus
China stammen, würden
über Vietnam umgeleitet,
um Strafzölle zu umgehen.
Die Regierung in Hanoi
scheint einer Konfronta-
tion aus dem Weg gehen
zu wollen: Sie kündigte ein
hartes Vorgehen gegen fal-
sche Made-in-Vietnam-Be-
schriftungen an und ver-
sucht, die Amerikaner mit
Großaufträgen zu besänfti-
gen. Als Trump Ende Feb-
ruar für sein Gipfeltreffen
mit Nordkoreas Diktator
Kim Jong Un nach Hanoi
reiste, bestellten die viet-
namesischen Gastgeber
Boeing-Jets und Flugzeug-
turbinen im Wert von mehr
als 20 Milliarden Dollar.
Auch deutsche Investoren setzen da-
rauf, dass sich die Konflikte lösen lassen.
„Wir sehen unser Engagement in Viet-
nam als langfristige Investition“, sagt
Schaeffler-Manager Schreiber. Das neue
Werk in Bien Hoa umfasst 25 000 Qua-
dratmeter. Schreiber denkt aber bereits
über einen Ausbau nach. Genug Platz
hat sich Schaeffler dafür schon gesi-
chert: „Wir haben die Möglichkeit, uns
in den nächsten Jahren hier zu verdop-
peln.“ Das große Potenzial, das er in
dem Standort sieht, begründet Schreiber
auch mit der Mentalität seiner vietna-
mesischen Mitarbeiter: „Wenn ich in der
Fabrik bin, fällt mir das jedes Mal auf:
Die brennen einfach, die Leute.“ n

MATHIAS PEER

Gegner US-Präsident
Donald Trump, 73, Chinas
Präsident Xi Jinping, 66

Investor Martin Schreiber
ist Chef der Industriesparte
von Schaeffler in Asien
Free download pdf