Focus - 06.09.2019

POLITIK BREXIT

Fotos: action press, dpa, imago images

50 FOCUS 37/2019

Abweichler noch in der Nacht aus der
Fraktion geworfen. Bei der nächsten Wahl
sollen sie nicht mehr kandidieren dürfen.
Am Morgen nach dem Drama ist der
Spindoktor mit der Narbe unter dem rech-
ten Auge wortkarg – allzu erschüttert wirkt
er aber nicht. Ob er noch daran glaube,
dass Großbritannien im Oktober die EU
verlässt, will der Reporter von ihm wissen.
„Ja, natürlich!“, sagt Cummings, steigt ins
Taxi und braust davon.
Den Brexit begreift er als Schachspiel,
die Züge seiner Gegner waren gerade bei
der angekündigten Parlamentszwangs-
pause absehbar. Von einem „Angriff auf
die Demokratie“ war die Rede, von einem
„Putsch von oben“. Für Cummings kalku-
lierte Empörung.

Die Wahrheit? Damit nimmt es
Cummings nicht so genau

Sein Ziel ist offensichtlich, die EU zu Neu-
verhandlungen über ein Brexit-Abkom-
men zu zwingen. Dafür will der Chef-
berater Neuwahlen (möglicherweise am

15. Oktober) provozieren, um eine große
    und loyale Tory-Mehrheit im Parlament zu
    erhalten, die im Zweifel einem „No Deal“
    doch nicht im Wege stehen würde. Eine
    Tory-Mehrheit als Drohkulisse gegen Brüs-
    sel – so soll Johnson aus Cummings’ Sicht
    der EU neue Zugeständnisse abtrotzen.
    In seinem Job für Johnson nimmt er es
    mit der Wahrheit nicht so genau. Vor drei
    Jahren leitete Cummings bereits Johnsons
    Brexit-Kampagne („Vote Leave“, „Wählt
    Austreten“). Der berüchtigte Bus, auf dem
    stand, dass Großbritannien 350 Millionen
    Pfund pro Woche für die EU ausgebe, war
    seine Idee. Die Zahl aber frei erfunden.
    Cummings entwickelte damals auch den
    Slogan „Take back control“ („Die Kontrolle
    zurückerhalten“).
    Ein Brexit-Ideologe will er aber nicht
    sein. Er sei „kein Tory, Wirtschaftslibe-
    raler, Populist oder sonst etwas“, sagt er.
    Er möge keine Clubs, Parteien prägten
    nicht seine Urteile oder Werte. Er ist kein
    Tory-Mitglied.
    Geschichte und historische Persönlich-
    keiten faszinieren ihn, etwa der deut-
    sche Reichskanzler Otto von Bismarck.
    Zu seinen Leidenschaften gehören auch
    Mathematik und Technologie. Als Chef-
    stratege der „Leave“-Kampagne
    entdeckte er als einer der Ersten
    die Macht der sozialen Netzwerke.
    Er erkannte, wie mittels Data-Mi-
    ning potenzielle Wähler ausfindig
    gemacht und mit spezifischen Bot-
    schaften gefüttert werden können. Im
    Brexit-Wahlkampf 2016 gab er 2,7 Mil-
    lionen Pfund für dubiose Online-An-

zeigen aus. So bekamen Wahlberechtigte,

die sich für Umweltschutz interessieren,

Bilder von Eisbären auf Eisschollen zu

sehen, dazu die Nachricht: „Die EU ver-

hindert den Schutz von Eisbären – klicke

hier, um ihnen zu helfen.“

Cummings’ Ruf als genial-gefährlicher

Querkopf zementierte der fiktive TV-Film

„Brexit: The Uncivil War“, in dem er von

Benedict Cumberbatch dargestellt wird.

Erst durch den Film wurde der Architekt

der Brexit-Kampagne bekannter, und vie-

len Briten dämmerte: Ohne diesen Mann

und seine Methoden hätte das Volk viel-

leicht nie für den EU-Austritt gestimmt.

Geboren wurde Cummings in der Graf-

schaft Durham als Sohn eines Projekt-

managers eines Ölkonzerns und einer

Lehrerin. Er besuchte eine Privatschule,

studierte – wie Johnson – in Oxford und

schloss das Studium der klassischen und

zeitgenössischen Geschichte mit Bestno-

ten ab. Er ist mit der Tochter eines Aristo-

kraten verheiratet, die Redakteurin beim

konservativen Magazin „Spectator“ ist.

Nach seinem Mitwirken bei der Kam-

pagne gegen den Beitritt Großbritanni-

ens zur Euro-Zone 2002 holte ihn Michael

Gove ins Bildungsministerium. Dort ent-

wickelte Cummings seinen Hass auf den

Beamtenapparat von Westminster. Er

hält das politische System für ungeeig-

net, komplexe Probleme zu bewältigen.

In seinem Blog klagte er, dass die Politik

Wissenschaftler, Mathematiker oder Grün-

der – „echte Schöpfer“ – von der Macht

ausschließe. „Er glaubt, dass das, was er

machen will, tatsächlich die Gesellschaft

verbessert“, meint der Historiker Tim Bale.

Cummings bewundert das autoritäre

China, dessen „Ökosystem der Innova-

tion“ und auch die staatliche Überwa-

chung von Bürgern. Autoritär ist auch

sein eigener Führungsstil. Am vorver-

gangenen Donnerstag zitierte er Sonia

Khan in sein Büro. Die 27-jährige Bera-

terin im Finanzministerium musste ihre

Handys untersuchen lassen. Cummings

fand heraus, dass sich Khan mit Ex-Kol-

legen getroffen hatte, die für den ehe-

maligen Schatzkanzler Philip Hammond

gearbeitet hatten, Johnsons Intimfeind.

Der Chefstratege feuerte Khan und ließ

sie von einem bewaffneten Polizisten

abführen.

Der verschrobene Cummings und der

charismatische Johnson, der Clown und

der Nerd – es ist ein ungleiches Paar, das

über das Schicksal der Briten bestimmt.

Doch wer benutzt dabei wen für seine

Ambitionen? Cummings wird immer

wieder mit Trumps Ex-Wahlkampfstra-

tegen Steve Bannon verglichen, der nach

Trumps Wahlsieg bald in Ungnade fiel.

Aber das Brexit-Duo verbindet noch der

Ehrgeiz und die Lust am Chaos, das ihren

Ambitionen nützt.

Oder verzocken sich beide? Tory-Rebell

Hammond schickte zu Wochenbeginn

eine Kampfansage an Cummings: „Ich

werde meine Partei verteidigen gegen

Neuzugänge, Eindringlinge, die versu-

chen, sie von einer Volkspartei in einen

engen Klüngel zu verwandeln.“ n

REINHARD KECK

Original Dominic Cummings (r.) mit Boris

Johnson (l.) und dem Brexit-Hardliner Michael

Gove während der Brexit-Kampagne 2016

Fälschung Benedict Cumberbatch (M.) spielt

Dominic Cummings als Spindoktor des Brexits

im Film „Brexit: The Uncivil War“ (2019)

Widerstand

Johnsons und

Cummings’ Pläne

treiben Tausende

Briten auf die

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