Focus - 06.09.2019

(singke) #1
KOLUMNE

FOCUS 37/2019 7

Den Autor dieser Kolumne erreichen Sie unter:
[email protected], Twitter: @janfleischhauer

Früher war mehr Kontroverse
JAN FLEISCHHAUER Illustration von Silke Werzinger


Warum es heute weniger Vielfalt gibt? Ein Grund ist eine
Tendenz, die für alle Medien gilt und die ein Soziologe die
Regression zur Mitte nennen würde. Die meisten Journalis-
ten interessieren sich zunächst dafür, was andere Journalis-
ten über ihre Arbeit denken. Die Frage, was die Leser oder
Zuschauer beschäftigen könnte, spielt auf Redaktionskonfe-
renzen meiner Erfahrung nach lediglich am Rande eine Rolle.
Die Neigung, dem Redaktions-Mainstream zu folgen,
ist umso stärker, je mehr das Fortkommen von Aufsichts-
gremien abhängt. Nirgendwo ist der Einfluss der sogenann-
ten gesellschaftlich relevanten Gruppen so groß wie beim
öffentlich-rechtlichen Rundfunk, deshalb ist auch die Ten-

denz zur Meinungsvereinheitlichung nirgendwo so
ausgeprägt wie hier. Jede Gewerkschaftsnudel und
jede Gleichstellungsbeauftragte hat ihren Platz im
Rundfunkrat, weshalb schon die falsche Gäste-
auswahl bei einer Talkshow zu einer Vorladung
führen kann.
Lange Zeit herrschte noch ein gewisser Pro-
porz, weil die CDU dafür sorgte, dass auch
Leute nach oben kamen, die Patchwork nicht für
das ideale Familienmodell hielten und das Wind-
rad nicht für das ultimative Sinnbild des Fort-
schritts. Aber das hat sich erledigt. Seit Angela
Merkel regiert, gibt es so etwas wie eine kon-
servative Medienpolitik nicht mehr.

W


arum auch? Das, was die Kanzlerin
denkt, denken die meisten Journa-
listen ohnehin, da braucht es keine
besondere Beförderungspolitik. Selbst
der Bayerische Rundfunk ist in ihrer Ägide zu einer
Anstalt geworden, in der man sich jeden scharfen Ton
versagt. Ich kenne den Intendanten Ulrich Wilhelm
noch aus seiner Zeit als Regierungssprecher in Berlin.
Ich mag ihn, er ist ein feiner Kerl, aber er ist so wie
alle, die für Merkel gearbeitet haben, ganz Sozial-
demokrat im Herzen.
Die Unbekannte in dem Spiel sind die Zuschauer.
„Britain makes a noise“, sagt der Vater der Brexit-
Kampagne, Dominic Cummings, zum Auftakt des
fabelhaften Historiendramas „Brexit – The Uncivil
War“, in dem der britische Sender Channel 4 die
Hintergründe dieses seltsamen Volksaufstands aufrollt.
Auch die Deutschen machen ein Geräusch. Es ist bis-
lang nur ein Grollen in der Ferne, ein Grummeln des
Unmuts, das man in den Fernsehanstalten glaubt, ignorie-
ren zu können, weil Politik und Verfassungsgerichte ihre
schützende Hand über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
halten. Es schlägt sich in den Umfragen nieder, in denen
eine Mehrheit angibt, man könne bestimmte Wahrheiten
nicht mehr offen aussprechen. Es zeigt sich auch in den
Erfolgen der AfD, die dem Missmut über das Gebührenfern-
sehen den aggressivsten Ausdruck verleiht.
Wie die Sache beim Brexit ausgegangen ist, wissen wir.
Hoffen wir, dass den öffentlich rechtlichen Rundfunk nicht
ein ähnliches Schicksal ereilt. Wenn der Brexit eines gezeigt
hat, dann dass man auf Dauer das Rauschen des Unmuts
nicht überhören sollte.n
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