Focus - 06.09.2019

(singke) #1
KULTUR

Fotos: Hugo Boss, Florian Böhm, Tom Vack, Erica Overmeer, Gerhardt

Kellermann, Vitra Office 02, Konstantin Grcic Design

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E


ine Gemeinsamkeit von
Stuhl und Herrenjackett mag
nicht auf den ersten Blick
erkennbar sein, doch Kons-
tantin Grcic sieht eine klare
Verbindung. „Jacketts sind
die Königsdisziplin der Klei-
dung“, sagt er, „und die Kö-
nigsdisziplin der Möbel ist der Stuhl.“
Mit Stühlen kennt Grcic sich bes-
tens aus. Mindestens 30 verschiedene
Modelle hat Deutschlands bekanntes-
ter Industriedesigner in seiner Karriere
entworfen, sie werden weltweit in wich-
tigen Designsammlun-
gen gezeigt, darunter im
New Yorker Museum of
Modern Art. Seine Erfah-
rung mit Jacken ist hin-
gegen überschaubar. „Ich
kenne Jacken natürlich,
weil ich welche trage“,
sagt er. Doch die Tatsache,
dass man mit einem Ding
vertraut sei, bedeute noch
lange nicht, dass man
auch eine Ahnung habe,
wie so ein Teil gemacht
und konstruiert werde.
Inzwischen dürfte Grcics
Jackett-Fachwissen ge-
wachsen sein, hat er doch
für die aktuelle Herbst/
Winter-Kollektion des
Modeunternehmens Hugo
Boss ein Jackett, einen
Mantel und drei T-Shirts entworfen.

Herrenkleidung vom Industriedesigner
Grcic, Jahrgang 1965, sitzt in seinem Ate-
lier in der Berliner Kurfürstenstraße. Sein
1991 gegründetes Designbüro hat er vor
einem Jahr aus München in die Haupt-
stadt verlegt. Es ist ein Donnerstag-
vormittag Anfang August und abge-
sehen von seiner Büroleiterin sind die
Räumlichkeiten menschenleer. Das sei
sonst anders, erklärt er, es liege an der
Urlaubszeit. An den Wänden hängen
Poster, Bilder und Ausdrucke von Skiz-
zen. Unzählige Bildbände liegen ordent-
lich gestapelt auf Tischen und Regalen.
Ein buntes Sitzmöbel aus Plastik, das
er vergangenes Jahr für die Schweizer
Möbelfirma Vitra entwickelt hat, steht
dekorativ im Raum. Grcics Boss-Jackett
hängt passenderweise über den Schul-
tern einer Schneiderpuppe.
Auf den ersten Blick lassen sich an dem
sportlich geschnittenen Sakko aus dun-

kelblauer Schurwolle keine Besonder-
heiten feststellen. Doch beim genaueren
Hinsehen erkennt man, dass zum Bei-
spiel die Öffnung der Brusttasche bis zum
Revers verlängert ist. Und auf Höhe der
Hüfte befindet sich eine doppelte Naht, in
die Taschen eingearbeitet sind, die über
die gesamte Front reichen, so, als sei das
Jackett horizontal zweigeteilt.
Das Innenfutter besteht aus einem at-
mungsaktiven und transparenten hell-
grauen Stoff, der noch mehr Taschen bie-
tet. Der idealtypische Träger hat laut Grcic
offenbar eine Menge zu verstauen.

Das Futter ist dabei nicht genäht, son-
dern verklebt, was dem Entwurf einen
Hauch von Effizienz verleiht, der wiede-
rum mit dem Verzicht auf überflüssige
Knöpfe korrespondiert. Die Knöpfe an
den Ärmeln fehlen komplett, während
Grcic an der Frontseite mit nur einem
auszukommen meint. Weil man beim
klassischen Jackett ja sowieso nur einen
der beiden Knöpfe benutzt, dachte er,
dass man den anderen wohl einfach so
weglassen könne. „Für die Spezialisten
bei Boss war das jedoch ein gravierender
Eingriff“, sagt er, „weil Jacketts, die nur
einen Knopf haben, offenbar ganz anders
geschnitten sind.“ Ohne es zu ahnen, rüt-
telte Grcic an den Grundfesten von mehr
als 100 Jahren Herrenmode. Daraufhin

habe man dann sehr fruchtbare und inte-
ressante Gespräche geführt, wie er sagt.

Neuinterpretation des Bewährten
Es ist nicht Grcics erster Ausflug in die
Welt der Mode. Vor acht Jahren ent-
wickelte er gemeinsam mit dem ita-
lienischen Traditionshaus Brioni einen
Anzug. Das Projekt kam über das Maga-
zin „Wallpaper“ zustande, das die Idee
hatte, Menschen aus unterschiedlichen
Disziplinen zusammenzuführen. Rasch
musste Grcic erkennen, dass die Gestal-
tung von Anzügen ein Fachwissen erfor-
dert, das man sich nicht
einfach mal so aneignen
kann. „Das Jackett in sei-
ner klassischen Form habe
ich dann auch gar nicht
weiter angefasst“, sagt er,
„sondern ein Oberteil ent-
worfen, das eigentlich ein
Cape war – also im Grunde
ein Stück Stoff, das man
sich über die Schultern
wirft.“ Das Cape bestand
aus einem schönen Tuch
mit Nadelstreifen, hatte
ein Revers und gewisse
andere Details, die sich als
Hinweise deuten ließen,
dass es sich dabei um die
Interpretation eines Her-
renanzugs handelte. Aber
als Jackett konnte man es
beim besten Willen nicht
bezeichnen – es hatte keine Ärmel.
Wie Modedesigner arbeiten, kann man
sich als Laie in etwa vorstellen: Mindes-
tens zweimal im Jahr müssen sie pas-
send zu den Jahreszeiten neue Kollek-
tionen auf den Markt bringen. Aber wie
arbeiten eigentlich Industriedesigner?
Denken sie ständig darüber nach, wie
sie Alltagsgegenstände und damit das
Leben der Menschen verbessern kön-
nen? Oder legen sie erst los, wenn man
sie darum bittet?
Grcic sagt, er arbeite nur auf Zuruf.
Stühle, Lampen und Tische zählen dabei
gewissermaßen zu seinem täglich Brot,
aber er hat auch schon Sonnenschirme,
eine Armbanduhr, eine Brille, einen
Flaschenöffner, einen Schnellkochtopf,
einen Spiegel für Hunde, Kacheln und
Waschbecken entworfen.^ Dass er dabei
oft als Außenstehender an die Sache
herantreten muss, liegt in der Natur der
Sache, er kann ja nicht auf jedem Gebiet
Experte sein. Das heißt aber nicht,

Meister-Stück
Grcics Sakko für Boss hat ein eingeklebtes,
transparentes Futter, eine Menge
Taschen und nur einen einzigen Knopf

86 FOCUS 37/2019
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