Focus - 06.09.2019

(singke) #1
KOLUMNE

Am 21. Februar 1848 liefen die Maschinen
an, die das „Kommunistische Manifest“
von Karl Marx und Friedrich Engels druck-
ten. Nur drei Tage später begann die Revo-
lution in Frankreich, wurde der Bürgerkönig
Louis-Philippe I. gestürzt, die Republik
ausgerufen und halb Europa von Aufstän-
den und Umstürzen erschüttert.
Das klingt nach durchschlagendem
Erfolg. Doch der zeitliche Zusammen-
hang war Zufall, das eine hatte mit
dem anderen wenig zu tun. Fast nie-
mand kannte oder las damals das „Mani-
fest “. Und die Revolution von 1848 hatte
vor allem nationalistische und liberale Zie-
le, nicht aber kommunistische. Der Sieges-
zug des „Manifests“ begann erst mit einer
Neuauflage 1872, doch da war es, wie Marx

und Engels schrieben, bereits „veraltet,
weil sich die politische Lage total umge-
staltet“ hatte.
Trotz allem hat das Werk bis heute einen
Ruf wie Donnerhall. Jetzt haben die Wirt-
schaftswissenschaftler Rupert Younger
und Frank Partnoy versucht, es für die
aktuelle politische Lage umzuschreiben.
Dafür haben sie verstaubte alte Begriffe
gegen moderne ausgetauscht und ins-
gesamt 26 Prozent des ursprünglichen
Textes verändert. Entstanden ist „Das
Aktivisten-Manifest“ (S. Fischer, 12 Euro).
Was sie damit erreichen wollten, ist
nicht ganz klar. Sie schreiben selbst,
dass sie eine Menge marxistische Ideen
streichen mussten, da sie sich schlicht
als falsch erwiesen haben. Was sie statt-
dessen in den Text hineinschreiben, läuft
auf die richtige – aber etwas banale –
Erkenntnis hinaus, dass eine gerechte und
liberale Demokratie nur überleben kann,
wenn sich die Bürger für sie engagieren.
Robert Habeck fasst das im Vorwort
gut zusammen: Marx und Engels glaub-
ten, die ökonomischen Gesetze entdeckt
zu haben, nach denen sich die Geschichte
zwangsläufig hin zur proletarischen
Revolution entwickeln wird. Von diesem
Glauben ist heute nichts mehr übrig.
Die Zukunft ist für uns ein Rätsel, es
gibt keine Sicherheiten, die Entwick-
lung kann nahezu jede Richtung
ein schlagen. Welche Richtung
sie nimmt, liegt an uns allen.
Aber auch in der Neufassung
bleibt dem „Manifest“ seine enorme
Sprachkraft und rhetorische Wucht.
Es ist ein Meisterwerk der Literatur. Das
spürt man sofort in den 74 Prozent, die
Younger und Partnoy unverändert gelassen
haben. Die Dichter Marx und Engels sind
heute überzeugender als die Revolutionäre
gleichen Namens.

Ein Buch, von dem es heißt, es habe


die Welt in Brand gesetzt


FOCUS-Autor Uwe Wittstock
über das eindrucksvolle, aber unbrauchbare
Meisterwerk zweier Schriftsteller,
die Revolutionäre sein wollten

Buch & Welt


Was würden sie dazu sagen?
Ein neues Buch versucht,
das „Kommunistische Mani-
fest“ von Marx und Engels in
die Gegenwart zu übersetzen

FOCUS 37/2019 99


dass die Motivation dieser Gruppe der
Schlüssel zum Verständnis des dunkelsten
Kapitels deutscher Geschichte ist. Genau
in der politischen Gleichgültigkeit des
Großvaters liegt die wohl wichtigste Bot-
schaft aus der Vergangenheit an die heute
Lebenden: „Mitläufer sind entscheidend
beim Entstehen von Diktaturen.“ Sie hofft,
dass ihr Buch jeden Einzelnen auffordert,
keiner von ihnen zu sein: „Eine Demo-
kratie muss in jeder Generation von ihren
Bürgern geschützt werden.“
Den Geschichtsunterricht in Deutsch-
land zum Thema Nazi-Zeit erlebte sie –
wie so viele ihrer Generation – als sehr
gründlich, aber geradezu abstrakt. Sie
vermisste die Ermutigung, auch auf
menschlicher Basis, von Familie zu Fami-
lie, schwierige Fragen zu stellen. „Aber die
eigene Geschichte, die Recherche tief in
die Familie hinein, macht das unbegreif-
liche Geschehen ja erst greifbar. Schuld
lässt sich nicht messen und Unschuld nicht
beweisen“, findet Krug. „Man muss jeden
Menschen einzeln betrachten.“
Für das Hörbuch – bei dieser Vorlage
ein ehrgeiziges Projekt – hat sie alte deut-
sche Volkslieder ausgegraben wie „Der
Jäger Abschied“ und „In der Ferne“.
Gesungen werden sie von dem Männer-
quartett Barbershop Sixpack, früheren
Klassenkameraden am Karlsruher Musik-
gymnasium. Auch damit will sie ein Zei-
chen setzen: „Man darf es nicht der extre-
men Rechten überlassen, das Deutschsein
zu feiern.“ n


NELE HUSMANN

Gesamtkunstwerk „Heimat“ ist Comic,
Geschichte, Anekdotensammlung
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