Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.09.2019

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SEITE 10·MITTWOCH, 11. SEPTEMBER 2019·NR. 211 Literatur und Sachbuch FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


V


or acht Jahren erschien der erste
Band von Erich Mühsams Tage-
büchern, mit dem fünfzehnten
ist die Reihe nun abgeschlossen


  • planmäßig. Welches philologisch-edito-
    rische Vorhaben könnte das von sich be-
    haupten (oder welches Großprojekt über-
    haupt in Deutschland)? Also gebührt erst
    einmal Respekt den beiden Herausgebern
    Chris Hirte und Conrad Piens, die jedem
    einzelnen Band konzise Nachbemerkun-
    gen beigaben, dem letzten jetzt sogar de-
    ren zwei, wenn auch das schönste Adden-
    dum die Nachbemerkung zum vorletzten
    war, die mit einem Gedicht Mühsams na-
    mens „Die Pflicht“ aus der Gefängniszeit
    endete, dessen Schlussstrophe lautet: „Ich
    schwur den Kampf. Darf ich ihn fliehn? /


Noch leb ich – wohlig oder hart. / Kein
Tod soll mich der Pflicht entziehn – / und
meine Pflicht heißt: Gegenwart!“ In Hirte
und Piens hat Mühsam postum zwei eben-
so pflichtversessene Kämpfer für sein
Werk gefunden. Sie haben ihn der Gegen-
wart zurückgegeben.
Denn man liest diese vor 109 Jahren be-
gonnenen und vor 95 Jahren beendeten
Tagebuchnotate nicht vorrangig als Chro-
nik der Zeitspanne von 1910 bis 1924 mit
all ihren politischen und gesellschaftli-
chen Umstürzen in Deutschland, sondern
als anderthalb Jahrzehnte währendes
Selbstporträt der politischen und priva-
ten Wandlungen des Schriftstellers Erich
Mühsam. Eines Schriftstellers, der sich
als Anarchist begriff, aber über eine
Sprachgewalt und -eleganz verfügte, die
man in abstrakter Vorstellung kaum zu-
sammenbringen kann, aber hier eben kon-
kret vor sich hat. Zudem genährt von
einer Neugier auf die Umgebung, die im-
mer geistesgegenwärtig ist und als solche
von berückend-bedrückender Aktualität.
Nicht, dass etwa die Weimarer Republik
dieser Einträge zur Folie würde für die
heutige Bundesrepublik. Aber der Tage-
buchverfasser wird in seiner Vehemenz
und Akribie zum Muster eines kritischen
Kommentators. Und auch wenn Mühsam
die erste deutsche Republik nicht gerettet
hat – es auch gar nicht gewollt hätte –,
wird unsere zweite nicht dadurch besser,

dass es seinesgleichen nicht mehr gibt. Im
Gegenteil.
Erich Mühsam hat für seine Überzeu-
gungen teuer bezahlt. Die letzten fünfein-
halb Jahre Tagebuch, dem Umfang nach
sogar die Hälfte des gesamten Konvoluts,
entstanden in Haft. Nach dem Scheitern
der Münchner Räterepublik im Mai 1919
wurde er als einer deren führender Intel-
lektuellen angeklagt und zu fünfzehn Jah-
ren Festungshaft verurteilt – zur Höchst-
strafe unter allen Beschuldigten, wenn
man davon absieht, dass prominente Weg-
gefährten beim gewaltsamen Sturz der Rä-
terepublik ermordet (Gustav Landauer)
oder nach kurzem Prozess exekutiert wur-
den (Eugen Leviné). Der letzte Eintrag
im letzten Band der Tagebücher ist der
kürzeste überhaupt: „Vormittag 10½ Uhr.
Frei!“ Es war der 20. Dezember 1924, und
Mühsam profitierte davon, dass ange-
sichts der bevorstehenden Amnestie, die
den Beteiligten am Hitler-Putsch vom


  1. November 1923 zuteilwerden sollte,
    auch die linken politischen Häftlinge aus
    ihrer Haft entlassen wurden. Im Ab-
    schlussband der Tagebücher drehen sich
    Mühsams Gedanken immer wieder um
    das absehbare politische Gegengeschäft.
    Ihn interessierte dabei, verständlicher-
    weise, die eigene Freilassung so sehr, dass
    ihm die der Rechtsradikalen nur recht
    war. Zumal Mühsam verkannt hat, was
    Deutschland mit den Nazis erwuchs: „Tat-


sächlich sind die Völkischen, nachdem sie
sich mal mit dem parlamentarischen
Humbug eingelassen haben, lächerlich
zahm geworden, und es ist sicher anzu-
nehmen, daß die Hitlerjacken in Zukunft
keine Regierung mehr verhaften werden,
sondern nur noch Juden totschlagen und
republikanische Weiber mit Lysol be-
sprengen werden.“ Diese spöttische Be-
merkung sollte sich furchtbar rächen, als
der atheistische Sohn jüdischer Eltern
1933 bald nach Hitlers Ernennung zum
Reichskanzler wieder verhaftet und 1934
im KZ ermordet wurde.
Natürlich liest man seine Tagebücher
vor diesem Hintergrund, und eine Bemer-
kung wie die vom 4. August 1924 über
den tödlichen Verkehrsunfall eines jun-
gen Bekannten, „man könnte meinen,
das Schicksal hätte von den Menschen ge-
lernt, ungerecht und infam zu handeln“,
ist gerade angesichts der eigenen Zukunft
Mühsams herzzerreißend. Andererseits
kokettierte der Revolutionär gern mit
einem gewaltsamen Tod, so etwa am


  1. April 1924: „mir wäre der Galgen für
    meine Überzeugung viel erwünschter als
    der Tod durch Herzschlag in dieser öden
    Burg.“ Das war allerdings nicht leichtfer-
    tig geschrieben. Mühsams Gesundheit
    hatte in der Haft gelitten, seine Sorge, in
    Gefangenschaft zu sterben, war groß.
    Die sich daran anknüpfenden existen-
    tialistischen Bemerkungen sind ebenso


eindrucksvoll wie die beiläufigen Psycho-
gramme seiner Mithäftlinge. In der bayeri-
schen Festung Niederschönenfeld saßen
als politische Häftlinge nur Linke ein (die
Rechten waren in Landsberg inhaftiert),
aber zwischen Mühsam und einigen sei-
ner Genossen herrschte gegenseitige Anti-
pathie. Regelrechte Porträts aufzuschrei-
ben, verkniff sich der Diarist am Ende,
weil er die abermalige Beschlagnahmung
seiner Tagebücher fürchtete, wie er sie be-
reits einmal erlebt hatte. Trotzdem ist der
Text der Notate höchst entschieden und
stilistisch ausgefeilt – als hätte Mühsam
einem unerwünschten Publikum die Levi-
ten lesen wollen. Er selbst betrachtete das
Konvolut der Tagebücher als seinen größ-
ten literarischen Schatz. Man kann ihm
darin nur beipflichten. Und nicht zuletzt
seine Witwe Zenzl bewundern, die den
Großteil irgendwie durch die einem Frei-
geist wie Mühsam denkbar feindlichen
Zeitläufte gebracht hat. Das war ein eige-
nes Abenteuer. ANDREAS PLATTHAUS

Was für ein großartiger Anfang! Schon in
der ersten Szene von Carmen Buttjers
starkem und eigenwilligem Debütroman
„Levi“ scheinen die ganze Phantasie, Wut
und Dünnhäutigkeit ihres jungen Helden
auf. Der klare und lakonische Sprach-
klang zieht den Leser sofort in seinen
Bann, ein Sound, der an Salinger und
Mark Twain denken lässt. Denn Levi, der
während der Beerdigung seiner Mutter
den Boden unter den Füßen verliert und
an der groben Gleichgültigkeit seines Va-
ters und der ganzen Trauergesellschaft
verzweifelt, ist ein Seelenverwandter von
Holden Caulfield und von Huckleberry
Finn, der lieber „zur Hölle geht“, als von
seiner inneren Moral abzuweichen.
Levi ist elf, mit seiner Familie vor kur-
zem wieder einmal umgezogen, diesmal
nach Berlin, vorher lebten sie in London
und Paris. Eigentlich sind ihm alle diese
Städte egal, in seiner Phantasie wachsen
sie zu einem einzigen Riesendschungel zu-
sammen, mit Häusern, so hoch wie Mam-
mutbäume. Es ist Sommer, und Levi irrt
allein durch die Straßen, in denen es aus-
sieht, als lehnten sich die Menschen in
der heißen Luft an, „und sobald sich einer
von ihnen rührte, schien er damit nicht
nur sich selbst, sondern auch alle anderen
zu bewegen, als wären alle durch unsicht-
bare Fäden miteinander verbunden“.
Neugierig und ein bisschen ängstlich
bewegt sich Levi durch diese surreal-be-
drohliche Marionettenwelt, in der nachts
die Schatten zu Tigern werden und die Ge-
rüche sich plötzlich ändern. Seine gran-
dios erzählte, lebensgefährliche Abenteu-
erreise markiert das – zu frühe – Ende ei-
ner Kindheit, denn Levi ist erst elf. Doch
ganz neue Gedanken, zweifelnde, trotzige
und sehr selbstbewusste, beginnen in sei-
nem Kopf zu kreisen. Mit der Urne seiner
Mutter im Rucksack, die er bei der Beerdi-
gung gestohlen hat, ist er abgehauen, zu-
nächst auf das Dach des eignenen Hau-
ses, wo er sich ein Zelt baut. Doch das
funktioniert nicht lange.

Carmen Buttjers Debüt ist ein ein-
drucksvoller Großstadtroman, eine Odys-
see mit großartigen Bildern, in denen,
sparsam instrumentiert und damit umso
wirkungsvoller, sich die Stadt um die
eigene Achse zu drehen scheint. Levi hört
unter den Straßen leise den Ozean rau-
schen und sieht bei starkem Regen Haie
ihre stumpfen Schnauzen gegen die Ab-
flussgitter drängen. Die Krallen der Tiger-
schatten, die ihm nachts durch die Stadt
folgen, kratzen leise auf dem Pflaster, und
jede Kontur scheint wie mit einem Zei-
chenstift nachgezogen und neu akzentu-
iert. Levis Einsamkeit eröffnet ihm ganz
neue Gefühle, die ihn nicht nur in wilde
Phantasien katapultieren, sondern ihn
vor allem die Wirklichkeit neu sehen las-
sen.
Die anonyme Großstadt zeigt sich im
Roman aber auch von ihrer zärtlichen,
überraschend fürsorglichen Seite. So wird
der schweigsame Nachbar Levis erster
Freund, der ihn im Auto auf seine zwie-
lichtigen Geschäftstouren mitnimmt und
ihm zuhört – eine für den Jungen völlig
neue Erfahrung. Und auch Kolja, der den
Kiosk in Levis Straße betreibt, nimmt ihn
ernst, denn er spürt, welcher Druck auf
dem Jungen lastet. Eigentlich ist Kolja
Kriegsfotograf, nur wuchsen ihm irgend-
wann die Gewalt und das Sterben seiner
Freunde über den Kopf. Jeden Tag ver-
sucht er von neuem, alles zu vergessen –
auf dieser Ebene verstehen sich Levi und
Kolja wortlos.
Wie Huckleberry Finn, der eigentlich
sanfte Rebell wider Willen, wehrt sich
Levi mit radikalen Mitteln gegen die Zu-
mutungen seines Lebens, gegen den ge-
waltsamen Tod der Mutter und die aggres-
sive Hilflosigkeit des Vaters. Dabei spie-
gelt er wie ein Seismograph die Ressenti-
ments der Menschen, die ihm, einem
Kind gegenüber, ganz ungeniert und of-
fen sind. Gerade dass er sich oft kindlich
benimmt, die Umwelt ihn auch so wahr-
nimmt, er aber durch die Wucht der Ereig-
nisse immer mehr gezwungen wird, ganz
unkindliche Entscheidungen zu treffen,
macht das Besondere dieser Figur aus.
Carmen Buttjer, 1988 geboren und in
Finnland aufgewachsen, lebt in Berlin
und schreibt für die „Vogue“ Kolumnen
unter dem Titel „Wenn ich von Sex rede“.
Es geht darin um den Eigenwillen von
Phantasie und Gefühlen, mithin um Men-
schen, „die aneinander vorbeischreddern
und durch das Feuer streunen“. Genau da-
von erzählt ihr Roman, wobei die fein aus-
tarierte, wandlungsfähige Erzählperspek-
tive und die präzise Sprache ihm existen-
tielle Schärfe verleihen: Levi ist verletz-
lich, entschlossen und die liebenswertes-
te Figur, die seit Wolfgang Herrndorfs
„Tschick“ die literarische Bühne betreten
hat. NICOLE HENNEBERG

Bruce Schneier ist ein Sicherheitstechnolo-
ge, der in Harvard lehrt und bei IBM Secu-
rity arbeitet. Dass man ihm zuhört, wenn
er bei Silicon-Valley-Unternehmen oder
in politischen Expertengremien Vorträge
hält, liegt nicht nur an seinem Fachwis-
sen, sondern auch daran, dass er sich zur
Zukunft einer mit dem Internet verschmol-
zenen Gesellschaft zugleich als Pragmati-
ker und Optimist äußert. Angriffe auf
Stromversorgungen seien zwar schon vor-
gekommen, Morde via Remote Hacks in
Bordcomputern von Autos seien zumin-
dest möglich, aber panische Angst vor Ter-
roranschlägen mit dem Tatmittel Internet,
wie es im Polizeijargon heißt, hält Schnei-
er für übertrieben: „Internet-Terrorismus
wird es wohl erst in einigen Jahren ge-
ben“, und selbst dann bleibe er wohl die
Ausnahme, weil bösartigen Eingriffen in
kritische Infrastrukturen das Spektakuläre
eines analogen Anschlags abgehe.
Selbst den Titel seines eigenen Buches
nennt er „zugegebenermaßen reiße-
risch“, denn er spielt auf eine Art „movie-
plot threat“ an, wonach „irgendjemand
mit ein paar Mausklicks die Zivilisation
zerstören könnte“. Denkbar sei etwa,
dass in wenigen Jahren gehackte Biodru-
cker eine weltweite Epidemie auslösen.
Gleichwohl dürfe konstatiert werden,
dass selbst die mächtigsten, von Russ-
land, den Vereinigten Staaten oder China
ausgehenden militärischen Cyberatta-
cken „bisher auf lange Sicht weitgehend
wirkungslos geblieben“ seien.

Die Entwarnungen dienen freilich nur
dazu, die Aufmerksamkeit auf die eigentli-
chen Gefahren zu lenken. Sparvermögen
oder Rentenansprüche bestehen eben vor
allem aus Daten auf Servern. Viele Geld-
automaten verwenden immer noch das
seit 2014 nicht mehr unterstützte Be-
triebssystem Windows XP. Häufig gefähr-
det uns einfach nur Unachtsamkeit: Mehr-
fachpasswörter, lausige Apps, Verzicht
auf Updates. Mit „Internet+“ bezeichnet
Schneier die digitale Infrastruktur von
morgen, eine umfassende Mensch-Ma-
schine-Umgebung, die über das „Internet
der Dinge“ – also mit dem Netz verbunde-
ne Geräte vom Kühlschrank bis zu Kraft-
werken – hinausgehe. Interaktion mit
Codes ist die Basis dieser Umwelt. Jede
Steuerungs- oder Sicherheitssoftware sei
aber prinzipiell umprogrammierbar und
werde somit zu einem Einfallstor für Kri-
minelle, um hilfreiche Systeme gegen
ihre arglosen Nutzer zu verwenden, ganz
direkt etwa, wenn Erpresser auf Herz-
schrittmacher zugreifen können.
Der erste Teil des Buches befasst sich
unter Heranziehung vieler eindrücklicher
Beispiele mit den Sicherheitsproblemen
des Internets, die laut Schneier auch da-
mit zu tun haben, dass wir bis heute viele
völlig ungeschützte Internetprotokolle
nutzen: von der E-Mail über den Domain
Name Service bis zum HTML-Protokoll.
Identitätsdiebstahl werde schon durch
schlichte Maßnahmen wie eine verbind-
liche Zwei-Faktoren-Authentifizierung

stark erschwert. Man schließe ja auch in
der analogen Welt seine Haustür ab. Ge-
nerell aber sieht Schneier das Sicherheits-
problem als eines an, das systemisch ge-
löst werden müsse, also nicht dem End-
nutzer überlassen bleiben dürfe, weil die-
ser in der Regel nicht über genug Kennt-
nisse verfüge. Gefragt seien vielmehr
Wirtschaft und Staat.
Dass in Sachen Sicherheit so wenig ge-
schehe, liege daran, dass aufwendige Si-
cherheitstests von Kunden kaum hono-
riert oder staatlicherseits sogar untermi-
niert würden. So sei schlecht program-
mierte Software mit nachgereichten „Pat-
ches“, also Sicherheits-Updates, heute der
Regelfall. Regierungen, die an der Überwa-
chung der eigenen Bürger und an Spiona-
ge-Hacks gegen andere Länder interes-
siert seien, drängten ebenso wenig auf
eine Änderung dieser Gepflogenheiten
wie die großen Plattformen, die massen-
haft Daten sammelten (und auch damit
Zugänge in die Privatsphäre ihrer Nutzer
legten, die von Hackern ausgenutzt wer-
den könnten). Viele dieser Gefahren seien
lange bekannt, aber in Verbindung mit ei-
ner komplett vernetzten Gesellschaft und
den Fortschritten im Maschinenlernen er-
gebe sich eine neue Bedrohungsqualität.
Hochinteressant ist Schneiers Buch vor
allem deshalb, weil es über die kenntnis-
reiche Darstellung der prekären Sicher-
heitslage hinaus auf Lösungen zielt und
konkrete Vorschläge macht. Dieser zwei-
te Teil ist seinerseits zweigeteilt in eine

Darlegung eigentlich notwendiger Verän-
derungen und in einen pragmatisch-realis-
tischen Part, der Minimalforderungen ent-
hält. Die Online-Durchdringung der Ge-
sellschaft, so die Grundeinsicht Schnei-
ers, habe inzwischen eine Dimension er-
reicht, die eine starke staatliche Regulie-
rung unumgänglich mache. Dafür gebe es
durchaus positive Beispiele wie im Falle
der Richtlinien zur Flugsicherheit, bei de-
nen Verstöße hart sanktioniert würden.
Zu den eher frommen Wünschen zäh-
len Anforderungen an private Unterneh-
men, bei ihren Produkten auf „Security
by Design“ (Sicherheitstests vorab) zu set-
zen und nur in unverzichtbaren Fällen Da-
ten zu sammeln. Es sei auch darüber nach-
zudenken, Systeme wieder zu trennen
oder ganz vom Netz zu nehmen, das Inter-
net zu entmilitarisieren, die Produkthaf-
tung deutlich zu verschärfen und viel
mehr Geld in die Ausbildung von Sicher-
heitsexperten zu stecken. Viel wäre aber
schon erreicht, wenn innerhalb der Sicher-
heitsorgane die Defensive über der Offen-
sive rangierte, so dass etwa die NSA ent-

deckte Sicherheitslücken nicht für spätere
Angriffe geheim halten dürfte, sondern
Herstellern melden müsste.
Schneier, der aus amerikanischer Per-
spektive schreibt, schlägt die Einrichtung
eines „National Cyber Office“ vor, einer
eigenen Behörde, welche die Regierung
in digitalen Sicherheitsfragen berät, Ex-
pertenwissen bündelt und Sicherheits-
standards entwickelt. Der Autor macht
sich zudem für die konsequente Ende-zu-
Ende-Verschlüsselung auf allen Ebenen
stark. Massenüberwachung und Hack-
Backs seien hingegen zu unterlassen, weil
der Schaden den Nutzen übersteige. Als
Hoffnungsschimmer und Modell in Sa-
chen Datensicherheit, die sich von Unter-
nehmen einfordern lasse, scheint gegen
Ende des Buches die neue europäische
Datenschutz-Grundverordnung auf, zu-
mal Europa nicht vor der Auflage hoher
Bußgelder zurückschrecke.
Ganz aussichtslos sei die Situation
also nicht, auch wenn man Kriminellen
mit solchen Gesetzen natürlich nicht bei-
komme. Dafür brauche es die intensive
Zusammenarbeit von Informatikern, Poli-
tikern und Wirtschaftsvertretern. Auch
die Administration sei anzupassen: „Wir
müssen eine tragfähige Karrieremöglich-
keit für Technologen im öffentlichen
Dienst schaffen.“ All das gilt für Europa
gleichermaßen, wenn wir nicht, von
Schlummer-Apps auf der Smartwatch in
den Schlaf gesummt, in einem Albtraum
erwachen wollen. OLIVER JUNGEN

Carmen Buttjer: „Levi“.
Roman.

Verlag Galiani, Berlin 2019.
257 S., geb., 20,– €.

Bruce Schneier: „Click
Here To Kill Everybody“.
Sicherheitsrisiko Internet
und die Verantwortung
von Unternehmen und
Regierungen.Aus dem
Englischen von K. Lorenzen.
mitp Verlag, Frechen 2019.
384 S., br., 26,– €.

Erich Mühsam:
„Tagebücher“.
Band 15: 1924.

Hrsg. von Chris Hirte und
Conrad Piens. Verbrecher
Verlag, Berlin 2019.
340 S., geb., 32,– €.

Unerwünschtem Publikum wollte er die Leviten lesen


In der vernetzten Welt werden Dinge für ihre Benutzer gefährlich


Der IT-Experte Bruce Schneier legt überzeugend dar, warum staatlich durchgesetzte Sicherheitsstandards für das Internet überfällig sind


Unter dem


Pflaster liegt


der Ozean


Carmen Buttjer schickt


ihren jugendlichen Helden


durch die nächtliche Stadt


Es ist vollbracht: Die


Tagebücher des anar-


chistischen Schriftstel-


lers Erich Mühsam sind


mit dem fünfzehnten


Band vollständig ediert.


Sie sind Lesegenuss und


permanente Mahnung.


Räterevolutionäre hinter Gittern, fürs bürgerliche Gruppenfoto friedlich vereint: Acht Gefangene der Festung Niederschönfeld im Jahr 1919. Erich Mühsam sitzt in der Mitte. Foto AKG
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