Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.09.2019

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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Medien MITTWOCH, 11. SEPTEMBER 2019·NR. 211·SEITE 13


Besonders harmonisch war das Verhält-
nis von Thomas Fischer und der deut-
schen Presse nie. Fischer, der bis zu sei-
ner Pensionierung 2017 als Strafrichter
am Bundesgerichtshof gearbeitet hat,
begann 2015 zunächst für „Zeit On-
line“, später für „Meedia“ und „Spiegel
Online“ eine Kolumne zu schreiben, zu
deren wiederkehrenden Motiven eine
beißende Abrechnung mit dem deut-
schen Rechtsjournalismus zählt. Diese
Bereitschaft zur – mal witzigen und be-
rechtigten, mal groben und spitzfindi-
gen – Konfrontation zog diverse in Re-
pliken und Dupliken geführte Ausein-
andersetzungen mit den gescholtenen
Journalisten nach sich, die von interes-
sierten Kreisen mit einer gewissen Lust
am Krawall verfolgt wurden.
Eines dieser Händel hat am Dienstag
vor dem Landgericht Karlsruhe eine
neue Eskalationsstufe erreicht: Dort
klagt Fischer gegen die freie Journalis-
tin Gaby Mayr, die im April und Mai
2018 beim Deutschlandfunk und der
„taz“ Beiträge zur Debatte um die Ab-
schaffung des Verbots der Abtreibungs-
werbung veröffentlicht und dabei einen
besonderen Fokus auf die Bedeutung
des von Fischer herausgegebenen Straf-
rechtskommentars gelegt hatte.
In Mayrs Texten hieß es unter ande-
rem, „der Geist der Kommentierung“
zum Schwangerschaftsabbruch von
Herbert Tröndle – der den Kommentar
vor Fischer und 1999 einmalig mit ihm
zusammen herausgegeben hatte – lebe
in Fischers Kommentierung fort. Da-
durch würden die Ansichten eines „fa-
natischen Lebensschützers“ und deko-
rierten Wehrmachtssoldaten im Zwei-
ten Weltkrieg bis heute die Justiz beein-
flussen.
Wenig verblüffenderweise reagierte
Fischer bald darauf mit einem gehar-
nischten Beitrag auf „Meedia“, in dem
er neben kleineren Spitzen und Korrek-
turen geltend machte, „die buchstäb-
lich erste Änderung“ nach Übernahme
der alleinigen Herausgeberschaft durch
ihn, Fischer, im Jahr 2001, habe in „radi-
kalen Kürzungen und Änderungen“
der Passagen zum Schwangerschaftsab-
bruch und Sexualstrafrecht unter aus-
drücklicher Aufgabe von Tröndles „Ex-
tremposition“ bestanden. Mayrs Unter-
stellung, „Tröndle sei ein (halber)
Nazi“ und „Fischer sein ‚Nachfolger‘,
der ‚nichts geändert‘habe“, sei nichts
anderes als „denunziatorischer Ruf-
mord“. Es folgte eine Antwort von
Mayr, die sich an (teils zuvor von Fi-
scher eingeführten) Nebensächlichkei-
ten abarbeitete und ihre Kritik im Übri-
gen unter Zugeständnissen und Umdeu-
tungen im Detail aufrechterhielt.
In dem Stil, nur noch viel kleinteili-
ger, geht der Streit nun vor dem Landge-
richt weiter, wo Fischer die Unterlas-
sung von Sätzen wie jenem begehrt, er
habe „an der Kommentierung des Para-
graphen 219a (zum Werbeverbot, d.
Red.) auch in der 65. Auflage von 2018
nichts verändert, außer der Rechtschrei-
bung“. Diese objektiv falsche Behaup-
tung versuchte der Prozessvertreter der
Beklagten mit der zu Protokoll abgege-
benen Klarstellung zu retten, dass ledig-
lich die erste Randnummer der Kom-
mentierung zu Paragraph 219a ge-
meint gewesen sei. Weitere Streitpunk-
te betrafen die Frage, ob Mayrs Aussa-
ge, Fischers Kommentar weise „grobe
handwerkliche Mängel“ auf und sei
„schlecht für die Rechtsprechung“, als
subjektive Wertung von der Meinungs-
freiheit geschützt oder mangels tragfä-
higer Tatsachengrundlage rechtswidrig
war, ob sich das angebliche Fortleben
der Kommentierung von Tröndle nur
auf das Werbeverbot oder die gesamten
Bestimmungen zum Schwangerschafts-
abbruch bezogen habe – und ob dies
überhaupt einen Unterschied mache.
Die Kammer betonte, wie berichtet
wird, mehrfach, dass sie sich noch kei-
ne abschließende Einschätzung gebil-
det habe, ließ aber eine vorläufige Nei-
gung erkennen, Fischers Klage in ih-
rem für den 27. September angekündig-
ten Urteil stattzugeben.
Er habe „noch nie jemanden abge-
mahnt oder rechtliche Maßnahmen ge-
gen Journalisten in Betracht gezogen“,
erklärt Fischer auf Nachfrage dieser Zei-
tung. Im Fall von Gaby Mayr sei das an-
ders, weil sie „in besonders unqualifi-
zierter und perfider Weise versucht“
habe, „persönliche Herabsetzungen
und unzutreffende Tatsachenbehaup-
tungen zu verbinden“ und ihm auch
wirtschaftlich möglichst zu schaden.
Mayr sieht in ihrer Verteidigung hinge-
gen ein Anliegen der Pressefreiheit, das
sie, falls nötig, auch in weiteren Instan-
zen verfolgen will. Unterstützung erhält
sie dafür vom Bundestagsabgeordneten
Michel Brandt (Die Linke), der Fischers
Klage als einen „Angriff auf die Presse-
freiheit“ bezeichnete, sowie von Frauen-
rechtlerinnen, die den „misogynen Ex-
Richter“ (Mayr über Fischer) schon seit
langem als Feindbild auserkoren haben


  • unter anderem wegen seiner Ableh-
    nung der jüngsten Verschärfung des Se-
    xualstrafrechts und seiner teils als sexis-
    tisch empfundenen Formulierungen.
    „Schluss mit sexistischen Sprüchen und
    Diffamierungen“, war auf einem Zettel
    zu lesen, den Besucher am Dienstag am
    Landgericht Karlsruhe ausgelegt hat-
    ten. „Keine Einschüchterung von Jour-
    nalist*innen“, stand auf einem ande-
    ren. CONSTANTIN VAN LIJNDEN


Jennifer ist dann mal weg: verschwun-
den in einer weitläufigen Gebirgsland-
schaft mit steilen Felsen, sattem Gras
und rauschendem Fluss. Sie hat sich in
Sindruin verwandelt, eine Kämpferin
mit spitzen Elbenlauschern und schmu-
ckem Gewand, streift zu erhabener Mu-
sik und dem Ruf eines Adlers durch das
Gelände. Und Sindruins Fähigkeit, sich
in dieser Umgebung mit Messer und Bo-
gen gegen Orks und Drachen zu behaup-
ten, wird Tag für Tag besser.
Wenn man Jennifer machen lässt. Die
siebzehnjährige Schülerin, die nur lä-
chelt, wenn sie per Virtual-Reality-Bril-
le nach „Avalonia“ flieht, darf den Rech-
ner zu ihrem Entsetzen nicht ständig ein-
schalten. Ihre Eltern fürchten, dass sie
beim Schattenboxen mit Maske den
Sinn fürs Reale verliert, und diese
Furcht ist, wie der dunkel gehaltene, nur
in Gaming-Szenen kunterbunt gestalte-
te Problemfilm „Play“ zeigt, begründet.
Das von Hamid Baroua und Regisseur
Philip Koch geschriebene Drama malt
sich neunzig Minuten lang aus, wie eine
junge Frau in die Spielsucht abstürzt.
Die von der Spiel- als Gegenwelt zum
tristen Alltag faszinierte Schülerin, ge-
spielt von Emma Bading (die zum Over-
acting neigt, aber das ist bestellt), ver-
nachlässigt die Schule. Sie starrt wie ver-
rückt in die Gegend, wenn sie die VR-
Brille nicht einschalten darf. Baumkro-
nen wehen in Zeitlupe, Regentropfen
rutschen übers Fensterglas (Kamera:
Alexander Fischerkoesen).
Alle Versuche der Eltern, den Spiel-
konsum der Tochter in den Griff zu be-
kommen, kann das Mädchen aushebeln.
Weder der kumpelhafte Ton des Vaters
(Oliver Masucci) noch die Cholerik der
Mutter (Victoria Mayer) dringen zu ihr
durch. Sie beginnt, Stimmen zu hören
und Figuren zu sehen. Die Augen: wie
bei einem Junkie gerötet. Die Haare:
schweißnass. Erst nach einem Unglück,
das zu Beginn durch die Überreichung
eines Dolches in der Phantasiewelt ange-
deutet wird, gelangt Jennifer dorthin,
wo sie längst hätte sein müssen: in einer
Klinik. Ist das übertrieben? Nein, ist es
nicht. Ein Prozent der Vierzehn- bis
Vierundsechzigjährigen ist laut einer
Studie, die im Begleitmaterial zur Sen-
dung zitiert wird, computerspielsüchtig,
vier Prozent der Vierzehn- bis Sechzehn-


jährigen sollen es sein, „mit steigender
Tendenz“. „Play“ nimmt sich eines The-
mas an, das man nicht unterschätzen
darf und das viele Eltern bewegt.
Allerdings läuft der mit allerlei Bild-,
Ton- und Digitaleffekten inszenierte
Film, ohne es zu wollen, auf Angstma-
che hinaus: Dass sich Millionen von Ga-
mern in Videospielen verlieren, ohne ir-
gendwann eine Psychose zu entwickeln,
darunter viele Erwachsene, gerät aus
dem Blick. Nicht ganz: Als Gegenmo-
dell zu Jennifer dient der schlaksige
Pierre (Jonas Hämmerle), ein Mitschü-
ler, der wie sie „Avalonia“ spielt und
trotzdem in der Lage ist, sich aufs Abitur
vorzubereiten. Als die beiden, die im vir-
tuellen Raum erstmals miteinander kom-
munizieren, sich zum Date verabreden,
fragt er Jennifer nach ihrem Lieblings-
film. Sie interessiere sich nicht für Fil-
me, sagt sie und entsetzt Pierre, dessen
Leben nicht nur aus Spielen besteht.
Aber was Pierre so treibt, fällt zwischen
all den heftigen Szenen kaum ins Ge-
wicht. Und die Furcht, dass Videospiele
die Jugend ins Unglück stürzen könnten,
sitzt in der Gesellschaft tief. Gelungen
ist das von den Autoren gezeichnete Psy-
chogramm, das Jennifers Anfälligkeit
für die Computerspielsucht erklärt: Die
schüchterne Jennifer ist mit ihrem Kör-
per unglücklich. Sie ist einsam, seit ihre
Eltern, der Karriere des Vaters wegen,
von Wuppertal nach München gezogen
sind. In ihrem Unglücklichsein würde
sie am liebsten wie früher zwischen den
Eltern im Bett übernachten. Kurzum:
Sie bräuchte mehr Aufmerksamkeit und
Zuneigung, als ihr Mutter und Vater zu
geben vermögen. Aber nur einmal, als
der Vater heimlich die VR-Kamera über-
streift, um das Interesse der Tochter an
der Phantasiewelt nachvollziehen zu
können, sind die Eltern zur Abwehr der
Katastrophe vielleicht auf dem richtigen
Weg. Oder nicht? Das kann man nach
diesem Film gut diskutieren.
MATTHIAS HANNEMANN


Play, 20.15 Uhr im Ersten. In der Mediathek fin-
det sich eine Diskussionsrunde zum Film.


V


or zwanzig Jahren hatten die Pro-
duzenten Bernd Eichinger und
Nico Hofmann eine Idee aus ei-
ner „Weißweinlaune“ heraus.
Sie tranken selbigen bei einem Italiener
in München und dachten sich: Wir müs-
sen etwas für den deutschen Filmnach-
wuchs tun. Einen Preis stiften für die Ab-
solventen der deutschsprachigen Film-
und Medienhochschulen und für freie,
junge Filmemacher. Binnen eines Tages
hatten Eichinger und Hofmann ein Kon-
zept entworfen, Sponsoren gefunden, die
bis heute dabeigeblieben sind, und einen
Namen für den Preis: „First Steps“. Was ih-
nen noch fehlte, war die Dritte im Bunde,
die das Ganze zum Laufen bringen würde


  • Andrea Hohnen.
    In der Branche kennt sie jeder, darüber
    hinaus tritt sie nicht ins Rampenlicht, im
    Mittelpunkt zu stehen ist ihre Sache näm-
    lich ganz und gar nicht. Sie fördert andere
    mit liebenswerter Hartnäckigkeit, Verve
    und Empathie, weshalb ihr der Modera-
    tor Knut Elstermann bei der zwanzigsten
    Verleihung des First-Steps-Preises am
    Montagabend im Theater des Westens in
    Berlin den Ehrentitel „Mutter Courage
    des deutschen Nachwuchsfilms“ verlieh.
    Doch das war zum Glück nicht alles.
    Zum Jubiläum erhielt die Künstlerische
    Leiterin und Mitschöpferin des Wettbe-
    werbs den First-Steps-Ehrenpreis. Der ist
    nicht nur über alle Maßen verdient, er
    kommt auch noch gerade rechtzeitig:
    Nach zwanzig Jahren gibt Andrea Hoh-
    nen ihre Aufgabe ab.
    Von ihrem Rücktrittsentschluss ließ sie
    sich auch von Nico Hofmann nicht abbrin-
    gen. Das Bedauern darüber ist so echt,
    dass es den gesamten Abend im Theater
    prägte. Da geht ein Star von der Bühne,
    ein Champion, eine Macherin, die so be-
    scheiden, so voller Neugier auf Menschen
    und ihre Geschichten, so voller Enthusias-
    mus und Anteilnahme ist, dass es die Be-
    treffenden unter Umständen aus den Pan-


tinen haut. Sie vermittelt jedem den Ein-
druck, dass es ohne ihn oder sie partout
nicht geht und man die jeweilige Ge-
schichte einfach kennen, das Drehbuch le-
sen, den Film machen oder sehen muss.
Ohne diesen persönlichen Impetus
wäre aus First Steps nicht das geworden,
was es ist. Vielleicht wäre es ein geachte-
ter, bedeutungsvoller, in den einzelnen
Kategorien mit Preisgeldern zwischen
zehntausend und fünfundzwanzigtausend
Euro dotierter Preis geworden. Die Initial-
zündung jedoch, die First Steps für viele
Nominierte und Preisträger darstellt, die
Ausstrahlung auf und in die Branche, die
der Wettbewerb ausübt, ist zwar mit den
beiden Produzenten Bernd Eichinger, der
2011 verstarb, und dem heutigen Ufa-
Chef Nico Hofmann verbunden, ohne An-
drea Hohnen aber wäre First Steps nicht,
was es heute darstellt.
Nico Hofmann weiß das. Er weiß, dass
Andrea Hohnen First Steps „Persönlich-
keit“ und „Würde“ gegeben, dass der Wett-
bewerb durch ihr Wirken seine Bedeu-
tung erlangt hat und als „Instanz“ wahrge-
nommen wird. All das hob Hofmann in
seiner Laudatio am Montagabend in Ber-
lin hervor – Leidenschaft und Herz seiner
Mitstreiterin, die er schließlich ein „krea-
tives Gesamtkunstwerk“ nannte. Der
Schauspieler Ulrich Matthes, der die Preis-
gala in seiner Eigenschaft als Präsident
der Deutschen Filmakademie eröffnet
hatte, nannte Andrea Hohnen die „Seele
vons Janze“ und dankte ihr „auf den
Knien seines Herzens“.
Die Geehrte – geboren in Bonn, studier-
te Musik- und Filmwissenschaftlerin (Flo-
renz, Stuttgart, Berlin), Kabarettistin, Kla-
vierlehrerin, Theaterregisseurin, Video-
dozentin und Dokumentarfilmerin – wie-

derum reagierte, wie man es von ihr
kennt. Sie schüttelte sich kurz vor Rüh-
rung und bedankte sich bei anderen, für
den Freiraum, den man ihr gewähre, die
Möglichkeit, auch einmal zu scheitern,
die man ihr zugestanden habe, und für
den Umgang mit „Menschen, die für das
brennen, was sie tun“. Sie habe es stets
als Bereicherung erfahren, „Türen zu Wel-
ten öffnen zu können, die ich noch nicht
kannte“. Das klingt so einfach. Was es
selbstverständlich ganz und gar nicht ist.
Auf ein Verdienst, das Andrea Hohnen
auch zukommt, machte der Moderator
Knut Elstermann, dem es gelang, einen
doch sehr langen Abend kurzweilig zu hal-
ten, in einem Nebensatz aufmerksam. An-
drea Hohnen, sagte er, sei auch in der
Lage, Jurys elegant und herzlich zu „mo-
derieren“. Diese Kunst darf man nicht un-
terschätzen. Man muss Jurys besetzen, sie
angesichts tage- und nächtelanger Sich-
tung bei Laune halten und anspornen,
sich dem Geist des First-Steps-Wettbe-
werbs verpflichtet zu fühlen. Was bedeu-
tet, sich so lange miteinander ins Beneh-
men zu setzen, bis nicht der kleinste ge-
meinsame Nenner, sondern tatsächlich
der Film ausgewählt ist, der unter all den
anderen originellen, preiswürdigen Ein-
reichungen noch ein Stück herausragt,
der am stärksten beeindruckt, auch wenn
es nicht unbedingt der größte, teuerste,
perfekteste, sondern ein Film ist, der
nachhallt und von dessen Regisseur, Ka-
merafrau, Drehbuchautor, Hauptdarstelle-
rin man sich Impulse für die hierzulande
vor allem von den festgefügten Vorstellun-
gen der (öffentlich-rechtlichen) Fernseh-
macher bestimmte Branche verspricht.
Dass es beim First-Steps-Preis von An-
beginn bis heute so läuft und nicht an-

ders, war den Laudationes des einen oder
anderen Jurors zu entnehmen. Die nomi-
nierten oder preisgekrönten jungen Filme-
macherinnen und Filmemacher müssen
nicht unbedingt wissen, was dahinter-
steckt. Aber mit etwas Einfühlungsvermö-
gen bekommen sie es schon mit und ver-
zichten auf Belehrungen, wie sie der jun-
ge Regisseur Faraz Shariat loswerden
musste. Mit seinem – frei eingereichten –
Film „Futur Drei“ hatte er den Preis für
den besten abendfüllenden Spielfilm er-
rungen, seine Hauptdarsteller Banafshe
Hourmazdi, Eidin Jalali und Benjamin
Radjaipour hatten den Preis als beste
Schauspieler erhalten. Shariat wunderte
sich auf der Bühne darüber, dass eine Ge-
schichte, wie er sie erzählt, nicht „Teil des
nationalen Narrativs“ sei und warum 95
Prozent des Publikums im Saal „weiß“ sei-
en. Wofür es jede Menge Applaus gab.
Solcher Kritik, muss man sagen, liegt al-
lerdings zumindest mit Blick auf den
First-Steps-Preis eine kapitale Fehlein-
schätzung zugrunde. Der Preis, seine Stif-
ter, seine Jurys (der Autor saß einmal
selbst in einer) und seine Künstlerische
Leiterin waren der Zeit in dieser Hinsicht
schon immer voraus. Bei First Steps gibt
es Preise für die beste, persönlichste, er-
greifendste, wahrhaftigste Geschichte,
handele sie in Weißrussland wie der Film
„1986“ der Produzentin Romana Janik, in
China wie der mittellange Spielfilm „Ab
morgen werde ich.. .“ von Ivan Marcović
oder in Kurdistan wie der Kurzfilm
„Hörst du, Mutter?“ des Regisseurs Tuna
Kaptan.
Der Vielfalt ist der First-Steps-Preis seit
jeher verpflichtet, wie sie Ulrich Matthes,
der zunächst einmal die inzwischen bei
derlei Gelegenheiten obligate dringliche
Warnung vor der AfD loswerden musste,
voller Pathos beschwor. „Erzählt das, was
ihr zu erzählen habt“, gab er den jungen
Filmemacherinnen und Filmemachern
mit auf den Weg. Den „Glutkern“ ihres
Schaffens sollten sie stets bewahren.
Ob das gelingt, hängt freilich nicht von
First Steps, sondern von den zweiten und
dritten Schritten der jungen Kreativen ab
und von den Widerständen, auf die sie bei
potentiellen Auftraggebern, Förderern
oder beim Publikum stoßen. Einen besse-
ren Start aber als jenen, für den die Künst-
lerische Leiterin des First-Steps-Preises
Andrea Hohnen steht, kann man sich
kaum denken. Sie geht von der Bühne,
weil sie, die nie Macht ausüben wollte und
deshalb so wirkmächtig geworden ist, es
so will. Der Vorhang fällt, und alle, die
sich fragen, wie das jetzt ohne Andrea
Hohnen weitergeht, stehen betroffen. Da-
nach war erst mal die Party angesetzt bis
morgens um sechs. MICHAEL HANFELD

Sie ist in ihrem Bunde die Dritte


LKurz- und Animationsfilm:„Hörst
du, Mutter?“, Regie: Tuna Kaptan,
Hochschule für Fernsehen und Film
München
LMittellanger Spielfilm:„Ab morgen
werde ich.. .“, Regie: Ivan Marković,
Universität der Künste Berlin
LAbendfüllender Spielfilm:„Futur
Drei“, Regie: Faraz Shariat, Freie Ein-
reichung
LDrehbuchpreis:Jacob Hauptmann,
Drehbuch „Zeit der Monster“, Deut-
sche Film- und Fernsehakademie Ber-
lin
LDokumentarfilm:„Out of Place“, Re-
gie: Friederike Güssefeld, Hochschule
für Fernsehen und Film München

LMichael-Ballhaus-Preis:Sabine Pa-
nossian, Kamera „Off Season“, Film-
universität Babelsberg Konrad Wolf
LWerbefilm:„Would You Listen?“, Re-
gie: Veronika Hafner, Hochschule für
Fernsehen und Film München
LNo Fear Award:Romana Janik, Pro-
duktion, „1986“, Deutsche Film- und
Fernsehakademie Berlin
LGötz-George-Nachwuchspreis:Schau-
spielensemble Banafshe Hourmazdi,
Eidin Jalali, Benjamin Radjaipour in
„Futur Drei“, Regie: Faraz Shariat,
Freie Einreichung
LFirst-Steps-Ehrenpreis:Andrea Hoh-
nen, Künstlerische Leiterin First
Steps

TOKIO, 10. September
Am Tag vor der Kabinettsumbildung hat
der scheidende japanische Umweltminister
Yoshiaki Harada gestern seinen großen
Auftritt. Beim Rückblick auf sein Minister-
jahr kommt er vor Journalisten auch auf
das Wasserproblem im havarierten Kern-
kraftwerk Fukushima Daiichi zu sprechen.
Der Betreiber Tokyo Electro Power Hol-
ding werde nicht umhinkommen, radioak-
tiv belastetes Wasser verdünnt in den Pazi-
fik abzulassen, sagt Harada. Das sei die ein-
zige Lösung. „Die ganze Regierung wird
das diskutieren, aber ich wollte meine per-
sönliche Meinung dazu geben.“
Harada sagt damit nichts Neues. Seit Jah-
ren wird in Japan von Fachleuten und Politi-
kern darüber diskutiert, was mit dem Fu-
kushima-Wasser geschehen soll. Eine Opti-
on ist, das Wasser, das Reinigungsanlagen
durchlaufen hat und dann nur noch mit ver-

gleichsweise ungefährlichem Tritium radio-
aktiv belastet ist, schrittweise ins Meer ab-
zulassen. Die Regierung drückt sich vor der
Entscheidung. Diese muss bald fallen,
2022 geht der Platz für Wassertanks auf
dem Kraftwerksgelände aus.
Haradas Meinung erreicht die Schlagzei-
len japanischer Nachrichtenseiten, auch
weil zuletzt Südkorea das Fukushima-Was-
ser zum Thema gemacht hat (F.A.Z. vom


  1. August). Die Meldung schwappt nach
    Deutschland, in dem das Schlagwort „Fu-
    kushima“ Urängste weckt. In Hamburg ar-
    beitet „Spiegel online“ das Thema auf.
    Doch wer von Haradas Pressekonferenz in
    Tokio weiß, reibt sich die Augen. „Das Un-
    ternehmen Tokyo Electric Power (Tepco),
    Betreiber des havarierten Atomkraft-
    werks in Fukushima, soll radioaktives Was-
    ser direkt in den Pazifik leiten. Das kündig-
    te der japanische Umweltminister Yoshia-
    ki Harada bei einer Pressekonferenz an“,
    schreibt SpOn. Mit „sollen“ und „Ankündi-
    gung“ klingt das wie ein Beschluss. Doch
    angekündigt hat Harada gar nichts, er hat


seine Meinung kundgetan. Auch ist nicht
der scheidende Minister, sondern nur die
Regierung entscheidungsbefugt. Die hat
nicht entschieden. So schürt „Spiegel on-
line“ die deutsche Angst vor dem Fukushi-
ma-Wasser, obwohl noch niemand weiß,
ob es je im Pazifik landet. pwe.

First Steps 2019


Fischers


Kommentar


Früherer Bundesrichter


klagt gegen Journalistin


GENF, 10. September
Die Redaktion der Pariser Zeitung „Le
Monde“ fürchtet um ihre Unabhängigkeit.
460 Journalisten unterzeichneten einen
Aufruf, mit dem sie im eigenen Blatt auf ei-
nen Konflikt verweisen, der seit einem
Jahr schwelt. Der Appell ist mit einem Ulti-
matum verbunden: Bis zum 17. September
sollen die Eigentümer bestätigen, dass sie
ohne die Zustimmung der Redaktion keine
neuen Aktionäre ins Hause holen. Nach
dem Tod des Miteigentümers Pierre Bergé

hatten Xavier Niel und Matthieu Pigasse
dessen Anteile übernommen. Vor einem
Jahr teilte Pigasse, dem das Geld ausgeht,
seine Aktien mit dem tschechischen Unter-
nehmer Daniel Kretinsky. Damals verspra-
chen beide, das Vetorecht zu unterschrei-
ben. Das wurde auch wegen eines Kon-
flikts beim Magazin „L’Obs“ mit den glei-
chen Besitzern verzögert. Inzwischen sind
Pigasse und Kretinsky dabei, zusätzlich die
wenigen Anteile, die „El País“ an „Le Mon-
de“ besitzt, zu kaufen. Niel und Louis Drey-
fus, der Geschäftsführer von „Le Monde“,
reden nur mit Pigasse, nicht mit Kretinsky.
Sie haben sich mit der Redaktion gegen
ihn verbündet. Der Konflikt spitzt sich zu.
Am Montag hat Niel den Vertrag mit der
„Monde“-Redaktion unterzeichnet. Am
Dienstag veröffentlichte diese den Aufruf.
Was sie nach Ablauf der Frist zu unterneh-
men gedenkt, steht nicht im Text. Warum
Pigasse und sein Geldgeber nicht unter-
schreiben, liegt auf der Hand: Kretinsky
greift nach „Le Monde“. Das wollen Niel
und die Redaktion verhindern. J.A.

Auf nach


Avalonia


Ein Mädchen verfällt dem


Computerspiel: „Play“


In Berlin wurde der


Nachwuchsfilmpreis


„First Steps“ verliehen.


Zu ehren galt es diesmal


aber die Frau, ohne die


dieser Wettbewerb nicht


wäre, was er ist: Andrea


Hohnen macht


Filmkunst möglich.


Fukushima-Wasser
Wie „Spiegel online“ Ängste schürt

Kampfansage
„Le Monde“ fürchtet Übernahme

Jennifer Reitwein (Emma Bading)
sieht nur noch mit VR-Brille. Foto BR


Andrea Hohnen hat den Nachwuchsfilmwettbewerb „First Steps“ zwanzig Jahre lang betreut und zu einer Instanz gemacht. Ihr Wirken hallt nach. Foto dpa
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