Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.09.2019

(ff) #1

SEITE 16·MITTWOCH, 11. SEPTEMBER 2019·NR. 211 Wirtschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Digitalisierte Steuerberater


Die Steuerberater scheuen die Digitali-
sierung nicht. Starke Veränderungen
nehmen sie durchaus wahr, wie eine ak-
tuelle Umfrage der Bundessteuerbera-
terkammer (Statistisches Berichtssys-
tem für Steuerberater – STAX) zeigt.
So entfielen deklaratorische Tätigkei-
ten und wissensintensive kämen hin-
zu. Etwa die Hälfte der Einzelkanzlei-
en und knapp 70 Prozent der Sozietä-
ten und Steuerberatungsgesellschaften
sieht sich darauf aber vorbereitet. Hür-
den zur digitalisierten Kanzlei seien
der fehlende Breitbandausbau und der
hohe organisatorische Aufwand. Die
Kammer will weiterhin um Steuerfach-
angestellte werben, da nur die Hälfte
der Personalsuchenden ihren Bedarf
decken kann. „Wer seine Kanzlei heut-
zutage stärker digital ausrichtet, tut
dies nicht, um Personalkosten einzu-
sparen“, sagte Kammerpräsident Ra-
oul Riedlinger. Kanzleien würden ei-
nem aktuellen Trend folgend „mög-
lichst individuelle Lösungen suchen,
um Bewerbern attraktive Arbeitsbedin-
gungen zu bieten“. hw.


Datenschutz-Bußgeldrechner


Die deutschen Datenschutzbehörden
haben sich mehrheitlich auf ein Mo-
dell zur Berechnung von Datenschutz-
bußgeldern geeinigt. Das geht aus ei-
nem Protokoll der Datenschutzkonfe-
renz hervor. Tim Wybitul aus der Kanz-
lei Latham & Watkins warnt, dass die
Behörden das neue Modell schon an-
wenden würden. „Die Höhe der Beträ-
ge, die wir auf Basis dieses Berech-
nungsmodells sehen, sind allerdings
absolut neu“, sagt der Anwalt. Berech-
nungsgrundlage sei der Umsatz eines
Unternehmens, auf dessen Basis ein
„Tagessatz“ ermittelt würde. Diesen
Wert multipliziere man dann mit ei-
nem Faktor je nach Schwere der Tat
und Art ihrer Begehung. Die Unterneh-
men seien „geradezu gezwungen“, vor
Gericht zu gehen, meint der Anwalt.
Die Kanzlei will für ihre Mandanten
eine Art Bußgeldrechner entwickelt ha-
ben. Die auch für Informationsfreiheit
zuständigen Behörden haben das Kon-
zept bisher nicht veröffentlicht. hw.


STUTTGART, 10. September. Trotz al-
ler Anstrengungen, den Austritt des Verei-
nigten Königreichs aus der EU ohne Aus-
trittsabkommen zu vermeiden, ist ein har-
ter Brexit in absehbarer Zeit nicht ausge-
schlossen. Sollten wirtschaftliche Ver-
tragsbeziehungen über den Ärmelkanal
hinweg noch nicht auf die Möglichkeit ei-
nes solchen Szenarios abgestimmt sein,
besteht Handlungsbedarf.
Ist ein Wirtschaftsvertrag nach engli-
schem Recht zu beurteilen, ist zu beach-
ten, dass englisches Recht vor dem Aus-
trittstag und solches danach nicht mehr
identisch sein werden. Bislang zählt zum
englischen Recht auch das geltende EU-
Recht. Künftig wird dies nicht mehr der
Fall sein, selbst wenn viele Bestimmun-
gen des EU-Rechts auf den britischen In-
seln in das innerstaatliche Recht über-
führt werden sollten. Dies kann jedoch
nicht einseitig zur Gänze gelingen, wenn
etwa im EU-Recht Gegenseitigkeitsver-
pflichtungen vorgesehen sind. Zudem
wird das Vereinigte Königreich zumin-
dest nicht mehr direkt der einheitswah-
renden Rechtsprechung des Europäi-
schen Gerichtshofs unterworfen sein.
Eine vertragliche Rechtswahl muss daher
gut überlegt sein, zumal auch die für das
anwendbare Vertragsrecht bislang dies-
seits wie jenseits des Ärmelkanals ver-
bindliche Rom-I-Verordnung jedenfalls
als gemeinsame EU-Rechtsgrundlage ent-
fallen wird.
Entsprechendes gilt für die Bestim-
mung des zuständigen Gerichts und in be-
sonderem Maße, wenn Verträge keine
oder keine hinlängliche Gerichtsstands-
oder Schiedsklausel enthalten. Nach ei-
nem Brexit wird das Königreich kein Mit-
gliedstaat im Sinne der Europäischen Ge-
richtsstands- und Vollstreckungsverord-
nung mehr sein. Erleichterungen der Voll-
streckbarkeit von Urteilen kontinentaler
Gerichte auf den Britischen Inseln wie
auch von Urteilen britischer Gerichte in
der verbleibenden EU können künftig ent-
fallen.
Für Vertragsparteien besteht das Ange-
bot, Brexit-Streitigkeiten einem besonde-
ren Spruchkörper zu unterwerfen, etwa ei-
nem Brexit-Tribunal im Rahmen einer
Schiedsgerichtsbarkeit. Allerdings wer-
den Vertragsparteien Vor- und Nachteile

abzuwägen haben, ob für Brexit-Streitig-
keiten und die übrigen vertraglichen Strei-
tigkeiten die Zuständigkeit unterschiedli-
cher Spruchkörper vorgesehen werden
soll.
Zu prüfen ist, ob wegen der Auswirkun-
gen des Brexits eine Vertragsanpassung
oder gar ausnahmsweise ein Rücktritt
vom Vertrag wegen Wegfalls der Ge-
schäftsgrundlage geboten erscheint. Sol-
len bei einer künftigen Vertragsgestal-
tung kürzere oder längere Laufzeiten ver-
einbart werden? Eventuell wird auch die
Aufnahme eines zusätzlichen Vertrags-
kündigungsrechts dem Anliegen der Par-
teien gerecht.
Jedenfalls wären bestehende Verträge
dringend zu überprüfen, ob mit dem Bre-
xit Regelungslücken oder Unklarheiten
entstehen, die bislang noch nicht vorher-
sehbar waren, etwa hinsichtlich einer Ver-
wendung des Begriffs „EU“ – ist hier
auch künftig das Gebiet der heutigen 28
EU-Mitgliedstaaten gemeint?
Es besteht eine Unsicherheit, ob bei
Lieferungen über den Ärmelkanal hin-
weg künftig eine Verzollung stattzufin-
den hat. Die Verwendung internationaler

Handelsklauseln (Incoterms, „Delivered
Duty Paid“) verdient hierbei einen beson-
deren Blick. So können mit einer über-
nommenen Lieferung „frei Haus“ für den
Lieferanten höhere Kosten erwachsen als
zuvor. Schließlich ist von Bedeutung, ob
und inwieweit besondere Exportkontroll-
bestimmungen zu berücksichtigen sind.
Auch beim Datenschutz dürfte nicht al-
les beim Alten bleiben: Mit einem EU-
Austritt wird das Vereinigte Königreich
zu einem Drittland im Sinne der europäi-
schen Datenschutzgrundverordnung. Es
empfiehlt sich, hier vorsorglich bis auf
weiteres sogenannte Standarddaten-
schutzklauseln zu verwenden. Zudem
dürften Regelungen in Bezug auf geisti-
ges Eigentum mit dem Brexit Änderun-
gen erfahren, etwa wenn die unionsweite
Erstreckung einer Unionsmarke auf das
Vereinigte Königreich durch einen Brexit
künftig entfallen würde. Es erscheint
sinnvoll, salvatorische Klauseln am Ver-
tragsende ausführlicher und speziell auch
im Hinblick auf einen Brexit zu formulie-
ren. THOMAS M. GRUPP
Der Autorist Partner bei der Kanzlei
Haver & Mailänder.

KONSTANZ, 10. September. Die ange-
messene Vergütung von Betriebsräten
ist ein heikles Thema, vor allem recht-
lich. Vor diesem Hintergrund haben die
Berichte über die Ermittlungen gegen
den Gesamtbetriebsratsvorsitzenden
von VW – Bernd Osterloh – ein großes
Medienecho entfacht. Im Raum steht da-
bei eine Strafbarkeit wegen Beihilfe zur
Untreue, da Osterloh mutmaßlich am
Zustandekommen überhöhter Vergü-
tungsvereinbarungen an Mitglieder des
Betriebsrats beteiligt gewesen sein soll.
Der strafrechtliche Vorwurf steht und
fällt mit der These einer unangemesse-
nen Vergütung. Diese primär arbeits-
rechtliche Frage ist äußerst komplex
und sorgt daher ihrerseits für einige Ver-
wirrung in den Vorstandsetagen und Per-
sonalabteilungen. Nicht gänzlich unbe-
rechtigt ertönt immer nachhaltiger der
Appell an den Gesetzgeber, den The-
menkomplex neu zu gestalten. Nach den
maßgeblichen Vorgaben des Betriebsver-
fassungsgesetzes (BetrVG) ist die Be-
triebsratstätigkeit ehrenamtlich, so dass
es den professionell ausgeübten Beruf
des Betriebsrats trotz der teilweise er-
heblichen Arbeitsbelastung nicht gibt.
Nichtsdestoweniger beziehen die Ange-
hörigen der Arbeitnehmervertretung
freilich weiterhin ein Gehalt, das sich ge-
mäß § 37 BetrVG nach dem Lohnausfall-
prinzip bemisst. Diesem zufolge stellt
die Entlohnung zwar keine Kompensati-
on für die geleistete Arbeit im Betriebs-
rat dar. Allerdings ist der Betriebsratsan-
gehörige gehaltsmäßig so zu stellen, wie
er stünde, wenn er die ursprünglich
nach dem Arbeitsvertrag geschuldete Tä-
tigkeit erbracht hätte.
Schwierigkeiten treten indes auf,
wenn Betriebsräte zu Lasten ihres eige-
nen beruflichen Fortkommens mehrere
Amtszeiten in der Arbeitnehmervertre-
tung verbleiben, während ihre einstigen
Kollegen mittlerweile gehobene und da-
her auch deutlich besser bezahlte Posi-
tionen bekleiden. Das BetrVG erkennt
in diesem Zusammenhang einen mone-
tären Ausgleich an. Gemäß § 37 BetrVG
darf das Arbeitsentgelt von Betriebsrä-
ten nicht geringer ausfallen als dasjeni-
ge vergleichbarer Arbeitnehmer mit be-
triebsüblicher beruflicher Entwicklung
(Arbeitsentgeltgarantie). Um dies im

Einzelnen beurteilen zu können, muss
zunächst feststehen, welche Arbeitneh-
mer im relevanten Zeitpunkt des Ein-
tritts in den Betriebsrat vergleichbar wa-
ren. Entscheidend sind hier neben der
geschuldeten Arbeitsleistung auch die
persönlichen und fachlichen Qualifika-
tionen. Des Weiteren kommt es darauf
an, inwieweit die berufliche Weiterent-
wicklung dieser Vergleichsgruppe be-
triebsüblich ist, so dass außergewöhnli-
che Karriereverläufe einzelner Beschäf-
tigter unbeachtet bleiben. Entscheidend
ist demnach eine komparative Betrach-
tung, die sich daran orientiert, welche
beruflichen und finanziellen Sprünge
vergleichbare Arbeitnehmer vollzogen
haben. Exorbitant hohe Gehälter sind
folglich eher selten.
Folgt daraus, dass ein Gehalt auf dem
Niveau eines Managers per se rechtswid-
rig ist? Nicht zwingend. Denn neben die-
ser Vergleichsbetrachtung steht dem Be-
triebsrat die Möglichkeit offen, seine hy-
pothetische Karriere, die er ohne die Tä-
tigkeit in der Arbeitnehmervertretung
durchlaufen hätte, im Einzelnen nachzu-
zeichnen. Auf diese Weise ließe sich ein
überdurchschnittliches Gehalt rechtferti-
gen, auch wenn der Nachweis kaum ge-
lingen dürfte. Normative Grundlage ist
insoweit § 78 BetrVG, der das allgemei-
ne Benachteiligungs- und Begünsti-
gungsverbot statuiert. Diesem zufolge
darf ein Betriebsrat wegen seiner Tätig-
keit weder Vor- noch Nachteile erleiden.
Die Vorschriften des BetrVG sind
schließlich nicht disponibel, weshalb ab-
weichende Vergütungsvereinbarungen
zivilrechtlich unwirksam sind. Als weit-
aus bedeutender erweisen sich die straf-
rechtlichen Konsequenzen einer geset-
zeswidrigen Entlohnung. Im Besonde-
ren gilt dies für die Untreue. Dass Bernd
Osterloh „nur“ der Vorwurf einer Beihil-
fe zur Untreue trifft, hängt mit der tatbe-
standlichen Konzeption der Strafnorm
zusammen. Diese verlangt eine Vermö-
gensbetreuungspflicht, weshalb der Tä-
ter eine besondere Verbindung zum be-
treuten Vermögen des Geschädigten auf-
weisen muss. Dem Betriebsrat kommt
eine solche – im Gegensatz zum Vor-
stand oder den Mitgliedern der Personal-
abteilung – nicht zu. SAMUEL STRAUSS
Der Autorist wissenschaftlicher Mitarbeiter an
der Universität Konstanz.

RECHT UND STEUERN


LUXEMBURG, 10. September (AFP).
Im Streit um russische Gaslieferungen
über eine Verlängerung der Erdgas-Pipe-
line Nord Stream 1 hat Polen einen Er-
folg vor dem Gericht der Europäischen
Union errungen. Das Gericht erklärte
am Dienstag einen Beschluss der EU-
Kommission für nichtig, mit welchem
dem russischen Gasprom-Konzern der
Erwerb weiterer Kapazitäten in der
Opal-Pipeline von Deutschland nach
Tschechien ermöglicht wurde. Die Lu-
xemburger Richter begründeten ihre Ent-
scheidung mit einem Verstoß gegen den
Grundsatz der Solidarität im EU-Ener-
giesektor (Az. T-883/16).
Die Ostseepipeline-Anbindungslei-
tung (Opal) von Deutschland nach Tsche-
chien wurde im Jahr 2011 in Betrieb ge-

nommen. Eingespeist wird in die Lei-
tung Erdgas aus der Pipeline Nord Stre-
am 1, über die durch die Ostsee Erdgas
aus Russland nach Europa transportiert
wird. Zunächst durfte nur die Hälfte der
Transportkapazität der Opal-Leitung ge-
nutzt werden.Auf Antrag der Bundes-
netzagentur änderte die Kommission die
Vorgaben. Polen klagte dagegen und
machte geltend, dass dadurchGasprom
gestattet werde, zusätzliche Gasmengen
über Nord Stream 1 auf den Unions-
markt zu leiten. Das EU-Gericht kippte
nun den Beschluss, da die Kommission
nicht geprüft habe, welche Auswirkun-
gen die Änderungen auf die Versorgungs-
sicherheit Polens hätten. Deshalb liege
ein Verstoß gegen den Grundsatz der So-
lidarität im Energiesektor vor.

mas.BERLIN, 10. September. Soli-Ab-
bau nicht für Spitzenverdiener, neue Steu-
er auf Finanzgeschäfte, heute Verzicht
auf neue Schulden, um später gebenen-
falls mit „vielen, vielen Milliarden“ gegen-
halten zu können: Bundesfinanzminister
Olaf Scholz (SPD) hat am Dienstag den
Haushaltsentwurf 2020 in den Bundestag
eingebracht. Er beschwörte eingangs sei-
ner Rede die Bedeutung des sozialen Zu-
sammenhalts. Er verwies auf die Verwer-
fungen in anderen Ländern, das harte Rin-
gen um den Brexit in London und auf Wa-
shingtons Zollpolitik. „Zusammenhalt ist
die wichtigste Aufgabe für die Zukunft“,
meinte der Minister und rühmte die Leis-
tungen der Koalition in Sachen Familien
und Pflege. Darüber hinaus bezeichnete
er die Schulden der Kommunen als eine
wichtige Frage, für die man eine Einigung
brauche.
Scholz, der sich mit der Brandenburge-
rin Klara Geywitz um den SPD-Vorsitz be-
wirbt, erhielt mehrfach nur aus den Rei-


hen seiner eigenen Partei Applaus. Die
Union hielt sich oft zurück. Auch nach sei-
nen Aussagen zum Solidaritätszuschlag
war dies der Fall. Der SPD-Politiker erin-
nerte daran, dass der Steuerzuschlag für
90 Prozent der bisherigen Zahler entfal-
len werde. Für andere werde er reduziert.
Wer hohe Einkommen habe, solle richti-
gerweise seinen solidarischen Beitrag
weiterhin leisten. Der Minister zeigte sich
zudem überzeugt, dass eine Einigung zur
Finanztransaktionssteuer mit einigen an-
deren Ländern in Europa bald möglich
sein werde. Was woanders funktioniere,
könne man auch in Deutschland machen.
Er nannte das Vorgehen in Frankreich,
was nicht viel anders als in Großbritan-
nien sei. Nach diesem Punkt seiner Rede
gab es ebenfalls nur von den SPD-Bänken
Beifall.
Der Regierungsentwurf sieht Ausga-
ben von 359,9 Milliarden Euro für das
nächste Jahr vor. Das entspricht einem
Anstieg um 1 Prozent gegenüber diesem
Jahr. Der Bundestag berät noch bis Frei-
tag über die Haushaltspläne für die einzel-
nen Ressorts. Endgültig beschlossen wird
das Budget Ende November. Nach der mit-
telfristigen Finanzplanung sollen die Aus-
gaben des Bundes bis 2023 auf 375,7 Milli-
arden Euro weiter steigen. Dies soll ohne
neue Schulden geschehen. Dazu will die
Regierung die in den vergangenen Jahren
gebildeten Reserven nutzen. Aus der

Asyl-Rücklage sind 2020 zunächst 9,2 Mil-
liarden Euro eingeplant, im Jahr darauf
13,5 Milliarden Euro und 2022 nochmals
7 Milliarden Euro. Dann ist der Topf leer.
Um in den nächsten Jahren ohne Kredite
auszukommen, plant die Regierung mit
noch nicht genauer ausgeführten Ausga-
benkürzungen („globale Minderausga-
ben“). Nächstes Jahr machen diese fast 5
Milliarden Euro aus, in den Folgejahren
jeweils knapp 4,5 Milliarden Euro.
Scholz beschrieb seine Haushaltspoli-
tik als expansiv, aber gleichwohl solide.
Man plane mit Investitionen von 400 Mil-
liarden Euro für das nächste Jahrzehnt
(dabei hat er die nächsten Jahresbeträge
fortgeschrieben). Mit der soliden Finanz-
politik sei man in der Lage, „mit vielen,
vielen Milliarden“ gegenzuhalten, wenn
es notwendig sei. „Das ist gelebter Keyne-
sianismus“, rief er. Der britische Ökonom
hatte im vergangenen Jahrhundert gera-
ten, mit einer expansiven Finanzpolitik
auf eine tiefe Wirtschaftskrise zu reagie-
ren. Daraus wurde später eine Konzep-
tion, wie der Staat die Konjunkturaus-
schläge glätten sollte. In den sechziger
und siebziger Jahren scheiterten aller-
dings in verschiedenen Ländern derartige
Versuche. Die Arbeitslosigkeit und die
Staatsschulden stiegen im Gleichschritt.
Der AfD-Politiker Peter Boehringer kri-
tisierte, es handele sich nicht um eine se-
riöse Planung, weil die Regierung weit

entfernt davon sei, die Belastungen realis-
tisch abzubilden. Man erlebe jetzt die letz-
ten warmen Steuertage vor dem konjunk-
turellen Winter. Der haushaltspolitische
Sprecher der Grünen-Fraktion, Sven-
Christian Kindler, mahnte: „Gehen Sie
runter von der Investitionsbremse.“ Die
Regierung müsse das niedrige Zinsniveau
nutzen und Abschied nehmen vom „Dog-
ma schwarze Null“. Seine Partei wirbt da-
für, die Schuldenbremse im Grundgesetz
zu lockern. Sie fordert einen Investitions-
fonds, der jedes Jahr 35 Milliarden Euro
an neuen Krediten aufnehmen kann.
Otto Fricke von der FDP warf der Regie-
rung vor, die Warnsignale aus der Wirt-
schaft zu ignorieren. Sie wolle sich in den
Dezember retten. Gesine Lötzsch von der
Linken-Fraktion bemängelte, die Regie-
rung gebe zu viel für Rüstung und zu we-
nig für Investitionen und Soziales aus.
Unionshaushaltspolitiker Eckhardt
Rehberg (CDU) warnte vor einem Abrü-
cken von der schwarzen Null. Deutsch-
land habe ausreichend hohe Steuerein-
nahmen, sagte er. „Wir können nicht bei
der ersten konjunkturellen Schwäche
nach neun Jahren alle unsere Prinzipien
über Bord werfen.“ Er gehe fest davon
aus, dass die Bundesregierung das Klima-
paket „ohne Schuldenaufnahme finan-
ziert und an der schwarzen Null festhält“.
Am 20. September sollen die klimapoliti-
schen Maßnahmen feststehen.

Was der Brexit aus Verträgen macht


Mit dem Austritt der Briten müssen etliche Begriffe und Klauseln geprüft werden


Vergütung des Betriebsrats


Er kann theoretisch verdienen wie ein Manager


Scholz bereitet die Deutschen auf Schulden vor


mj.FRANKFURT, 10. September. Ein
Jobcenter kann einem Bezieher von Ar-
beitslosengeld II („Hartz IV“) die Leistun-
gen vollständig kürzen, wenn dieser sei-
ne Mitwirkungspflichten verletzt. Diese
strengste Form einer Sanktion hat das
Landessozialgericht Nordrhein-Westfa-
len in einem Eilverfahren bestätigt. Der
in dieser Woche veröffentlichte Be-
schluss vom 17. Juli nimmt auch auf die
Frage der Verfassungsmäßigkeit der
Sanktionsregeln der Paragraphen 31 ff.
im Sozialgesetzbuch II Bezug, über die
das Bundesverfassungsgericht noch in
diesem Jahr entscheiden will (Az.: L 7 AS
987/19).
Solange sich Karlsruhe in dem Grund-
satzstreit nicht zu einer Antwort durchge-
rungen hat, stärken die Landessozialrich-
ter aus Essen den Jobcentern mit ihrer
Argumentation vorläufig den Rücken.
Die maßgebende Sach- und Rechtslage
zum Zeitpunkt der Eilentscheidung habe
„mehr für als gegen“ die Rechtmäßigkeit
des Sanktionsbescheids gesprochen,
heißt es in einer Erklärung des Landesso-
zialgerichts. Das Interesse des Jobcenters
an einer gesetzeskonformen Leistungsge-
währung überwiege das Aufschubsinter-
esse des Hartz-IV-Empfängers.
In dem Ausgangsfall hatte ein Jobcen-
ter im Raum Aachen den Leistungsemp-
fänger verpflichtet, sich monatlich fünf-
mal um eine Arbeitsstelle zu bewerben,
die Bemühungen zu dokumentieren und
dies fristgerecht zu Beginn des Folgemo-
nats nachzuweisen. Der Mann verweiger-
te jedoch die Mitwirkung. Den Aussagen
der Gerichte zufolge ist er der Ansicht,
sich nicht um eine Arbeitsstelle bemühen
zu müssen, da er „das Wirtschaftssystem
der Bundesrepublik Deutschland“ ab-

lehnt. Das Jobcenter minderte daraufhin
die Leistungen zur Sicherung des Lebens-
unterhalts für drei Monate um 100 Pro-
zent. Ein früherer Bewilligungsbescheid
wurde aufgehoben. Dagegen wehrte sich
der Antragsteller erfolglos mit seinem
Widerspruch. Sowohl eine Beschwerde
beim Sozialgericht Aachen und nun auch
das Eilverfahren verfehlten die Wirkung.
Hartz-IV-Empfänger sind verpflichtet,
sich aktiv an ihrer Wiedereingliederung
in den Arbeitsmarkt zu beteiligen. Erfül-
len sie diese Vorgaben ohne Angabe
wichtiger Gründe nicht, hat das Jobcen-
ter das Recht, die Leistungen in mehre-
ren Stufen, gestaffelt um je 30 Prozent, zu
kürzen. Über das Sanktionssystem und
eine mögliche Reform wird zwischen Po-
litik und Sozialverbänden seit Jahren hit-
zig diskutiert. Das höchste deutsche Sozi-
algericht bezog schon im Jahr 2015 Positi-
on. Damals entschied das Bundessozial-
gericht in Kassel, der Gesetzgeber könne
die Gewährung von Sozialleistungen dar-
an knüpfen, dass sich Empfänger koope-
rativ verhalten. Sei dies nicht der Fall,
können sie auch sanktioniert werden.
Ob die Sanktionen gegen das Grundge-
setz verstoßen, muss das Bundesverfas-
sungsgericht klären. In mündlichen Ver-
handlungen im Januar dieses Jahres ver-
teidigte Bundesarbeitsminister Hubertus
Heil (SPD) das Prinzip der Mitwirkung.
Wenn jemand zum wiederholten Mal kei-
nen Termin im Jobcenter wahrnehme,
müsse dies auch Konsequenzen haben,
sagte Heil im Gerichtssaal (F.A.Z. vom


  1. Januar). Auf Nachfrage teilte eine
    Sprecherin des Verfassungsgerichts mit,
    der Erste Senat sei bemüht, das Verfah-
    ren „noch in diesem Jahr abzuschließen“
    (Az.: 1 BvL 7/16).


Unzulässige Gaslieferungen


Erfolg für Polen im Streit um Transport aus Russland


Dauerthema Brexit:Die juristischen Auswirkungen sind vielfältig. Foto AP

Uneinsichtige Hartz-IV-Empfänger


müssen strenge Sanktionen dulden


Beschluss stärkt Jobcenter / Karlsruhe will 2019 urteilen


Noch will der Finanzminister


ohne Kredite auskommen,


und zwar bis ins Jahr 2023.


Doch er warnt schon: In einer


größeren Krise kann sich die


Planung ändern.


2008 2014 20182020 2023

2008 2014 2018 2020 2023

Der Haushalt des Bundes

Einnahmen und Ausgaben in Milliarden Euro1)

Investitionsausgaben in Milliarden Euro1)

De&zit

Bundesfinanzminister Olaf Scholz

Bundesfinanzministerium / Foto Getty / F.A.Z.-Grafik Brocker

Gesamtausgaben: 359,9 Mrd. €(+ 1,0 % zu 2019)

Arbeit und
Soziales

148,
15,

Bildung und
Forschung

Inneres, Bau,
Heimat

15,

Gesundheit

12,
Finanzverwaltung

18,
16,5 Bundesschuld

Verkehr und digitale
Infrastruktur
29,

Sonstiges

59,

Verteidigung

44,

376

348

360

296

39,

225

250

275

300

325

350

375

Ausgaben
Einnahmen

Ausgabenentwurf 2020 in Milliarden Euro

Ausgabenveränderung 2019 bis 2023 in Prozent2)
Arbeit u. Soziales +13,

Verkehr4) +3,

Verteidigung +1,

Familie, Senioren3) +4,

Bildung5) +1,

1) 2019 Soll, 2020 Entwurf, 2021 bis 2023 Finanzplan.
2) Ausgewählte Einzelpläne. 3) Sowie Frauen und Jugend.
4) Und digitale Infrastruktur. 5) Und Forschung.

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