Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.09.2019

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SEITE 2·MITTWOCH, 11. SEPTEMBER 2019·NR. 211 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


MOSKAU/WASHINGTON, 10. Septem-
ber.Kurz nachdem amerikanische Medien
über einen Agenten berichtet hatten, den
Washington 2017 aus Moskau herausge-
holt haben soll, fiel in russischen Zeitun-
gen ein Name: Oleg Smolenkow. Um ihn
dreht sich eine Spionagegeschichte, über
die in Moskau und Washington unter-
schiedliche Versionen verbreitet werden.
Soviel ist bekannt: Smolenkow, ein russi-
scher Regierungsbeamter, der zuletzt im
Kreml tätig war, versorgte die CIA über
Jahre mit Informationen. 2017 endete sei-
ne Tätigkeit in Moskau. Wie und warum
sie endete – darüber herrscht Uneinigkeit.
Aus Washingtoner Sicht liest sich der
erste Teil der Geschichte – die Anwer-
bung und Führung eines Agenten – wie
ein Kapitel aus dem Lehrbuch. Schon vor
„Jahrzehnten“ war es demnach der CIA
gelungen, einen Regierungsbeamten auf
mittlerer Ebene zu rekrutieren, von dem
man sich versprach, er werde im Moskau-
er Machtapparat Karriere machen. Tat-
sächlich sei man mit ihm auf Gold gesto-
ßen, denn der Agent habe eine einflussrei-
che Position erhalten, die ihm Zugang zur
höchsten Ebene des Kremls ermöglicht
habe.
Als man im amerikanischen Wahlkampf
2016 in Langley/Virginia, am Sitz des Aus-
landsgeheimdienstes, Wind davon bekam,
dass Moskau versuche die Präsidenten-
wahl zu beeinflussen, soll der Agent eine
der wichtigsten Quellen gewesen sein –
und eine der schutzbedürftigsten. Da Wa-
shington seine Vorwürfe gegen Russland
im Herbst 2016 detailreich konkretisierte,
wurde in den Medien über eine CIA-Quel-
le im Kreml spekuliert. In Langley, wo
man sich um die Sicherheit des Agenten
sorgte, traf man die schwierige Entschei-
dung, diesem anzubieten, sich nach Ameri-
ka abzusetzen. Doch der Agent lehnte ab
und machte Sorgen um andere Familien-
mitglieder geltend. Die Weigerung des
Agenten wiederum soll bei der CIA Bestür-
zung hervorgerufen haben – und Zweifel
an der Glaubwürdigkeit der Quelle. Könn-
te es womöglich sein, so fragte man sich in
Langley, dass der Mann eigentlich ein Dop-
pelagent war? Die ganze Zeit über? Oder
wurde er gedreht, nachdem er in Moskau
aufgeflogen war? Die Zweifel verflüchtig-
ten sich, als die CIA insistierte und der
Agent zustimmte, sich abzusetzen.
Bis zu diesem Zeitpunkt handelt es sich
um eine normale Spionageschichte, wie
sie zu Zeiten des Kalten Krieges häufiger


passierten. Ein Agent, der aufzufliegen
droht, soll aus seinem Land herausge-
schleust werden. Vorbereitungen dafür lau-
fen an. Angesichts des Werts der Quelle
ein höchst ärgerlicher, aber notwendiger
Vorgang. Der Schutz einer Quelle ist die
Voraussetzung dafür, dereinst eine neue an-
werben zu können. Ende 2016 nimmt die
Geschichte aber einen untypischen Ver-
lauf. Grund dafür ist der Wahlsieg Donald
Trumps, auf den Wladimir Putin nach In-
formationen der Quelle hingearbeitet hat-
te – nicht nur mit Desinformationskampa-
gnen, sondern auch durch den Hack der
Parteizentrale der Demokraten und der
Veröffentlichung brisanter Emails, die Hil-
lary Clinton schaden sollten.
John Brennan, der CIA-Direktor Barack
Obamas, hatte bei der Unterrichtung sei-
nes Präsidenten über Erkenntnisse dieser
Quelle stets größte Vorsicht walten lassen.
Obama wurde nicht im täglichem Lagebe-
richt über Informationen dieser Quelle un-

terrichtet, sondern in einem gesonderten,
versiegelten Schreiben. Nach dem Wahl-
sieg Trumps, der als gewählter Präsident
vor seinem Einzug ins Weiße Haus schon
Unterrichtungen der Nachrichtendienste
erhielt, wurde die Frage, wie die Quelle zu
schützen sei, virulenter.
CNN berichtet, die Entscheidung, die
Quelle abzuziehen, sei „in Teilen“ dem Um-
stand geschuldet gewesen, dass Trump
nach Amtsantritt fahrlässig mit Erkenntnis-
sen der Nachrichtendienste umgegangen
sei. Konkret sei die Entscheidung, die Her-
ausschleusung nunmehr zu vollziehen, end-
gültig im Mai 2017 gefallen. Es war unmit-
telbar nach einem Treffen Trumps mit
dem russischen Außenminister Sergej Law-
row und Sergej Kislyak, dem damaligen
russischen Botschafter in Washington, im
Oval Office. Damals soll Trump streng ge-
heime Informationen über die Terrororga-
nisation „Islamischer Staat“ in Syrien, die
Washington von den Israelis erhalten hat-

te, ausgebreitet haben. Ehemalige Mitar-
beiter der Nachrichtendienste bestreiten
hingegen, dass Trump Grund für die Aus-
schleusung gewesen sei. Die CIA selbst
spricht mit Blick auf die Darstellung von ei-
ner „fehlgeleiteten Spekulation“.
In Russland wird freilich eine ganz ande-
re Geschichte erzählt: Die Abwesenheit
Smolenkows in Moskau brachten Zeitun-
gen zunächst mit dem Verschwinden eines
Mitarbeiters der Präsidialverwaltung samt
Familie im Juni 2017 in Montenegro in Ver-
bindung. Eine Nachrichtenseite meldete
zudem im September 2017, Smolenkow sei
mit seiner Frau, die im Regierungsapparat
arbeite, und drei Kindern nicht aus dem Ur-
laub zurückgekehrt.
Die weiteren Enthüllungen übernahm
dann vor allem die Zeitung „Kommer-
sant“. Sie schrieb, eine Quelle „in den staat-
lichen Stellen“ der Vereinigten Staaten
habe ihr bestätigt, dass Smolenkow der ge-
nannte Agent sei. Er war demnach in der

Abteilung für Außenpolitik der Präsidial-
verwaltung tätig.
Er sei 1969 in Iwanowo rund 300 Kilo-
meter nordöstlich von Moskau geboren
worden, habe im Außenministerium gear-
beitet und sei Mitte des vorigen Jahrzehnts
bis 2008 in Russlands Botschaft in Wa-
shington tätig gewesen, und zwar unter
Botschafter Jurij Uschakow. Der ist mittler-
weile Putins außenpolitischer Berater.
Smolenkow, hieß es weiter, habe Uscha-
kow nach seiner Rückkehr aus Washington
nach Moskau weiter zugearbeitet. Wie der
„Kommersant“ zudem berichtet, sei 2017
ein Ermittlungsverfahren zum Verschwin-
den der Familie in Montenegro eröffnet
worden. Letztlich habe der Geheimdienst
FSB aber festgestellt, die vermeintlichen
Opfer seien „lebendig und befinden sich in
einem anderen Land“. So schwang in den
Berichten schon eine leise Drohung mit:
Wir wissen wer ihr seid – und wo ihr
wohnt. Diese Drohung erhält zusätzliches
Gewicht durch den Umstand, dass laut Pu-
tin Verräter „Vieh“ und „Schweine“ sind
und „immer schlecht enden“.
Der „Kommersant“ berichtete unter Be-
rufung auf eine Immobiliendatenbank der
Zeitung „Washington Post“, Smolenkow
und dessen 1984 in Moskau geborene Frau
Antonina hätten am 5. Juni vorigen Jahres
ein Haus in Stafford in Virginia für 925000
Dollar gekauft. Die Zeitung zeigte ein Bild
des angeblichen 760-Quadratmeter-Hau-
ses „mit sechs Schlafzimmern und sechs
Badezimmern“. Demnach gibt es wider-
sprüchliche Meinungen zur Bedeutung von
Smolenkows Spionagetätigkeit. Die einen
sind laut der Zeitung der Meinung, er habe
eher technische Arbeit verrichtet, wie Ein-
käufe und die Organisation von Reisen. Er
habe Aufträge seiner Chefs erledigt und
den Amerikanern nichts mitteilen können
außer „kursierenden Gerüchten“. Andere
hätten hingegen gesagt, Smolenkow sei ein
Vertrauter Uschakows, der direkten Zu-
gang zu Putin habe, daher sei es „ernst“.
Offiziell gab es nur die übliche Häme:
Putins Sprecher, Dmitrij Peskow, bestätig-
te, dass Smolenkow in der Präsidialverwal-
tung gearbeitet habe, wiewohl auf einer Tä-
tigkeit, die keine näheren Kontakte mit
dem Präsidenten vorsehe. Smolenkow sei
vor einigen Jahren entlassen worden und
die amerikanischen Berichte seien, so Pes-
kow mit dem englischen Ausdruck, „Pulp
Fiction“, schlechte Kriminalliteratur.

BERLIN, 10. September.Im Versen-
ken eigener Führungsleute und im Aus-
lassen von Chancen, in einer Regie-
rung dabei zu sein, ist die CDU Bran-
denburg bislang von rekordverdächti-
ger Zuverlässigkeit gewesen. Nachdem
in der vorigen Woche sechs von 15 Ab-
geordneten der neugewählten CDU-
Fraktion ihrem Spitzenmann Ingo
Senftleben die Gefolgschaft nach dem
historisch schlechten Wahlergebnis
von 15,6 Prozent verweigert hatten,
schien sich diese Tradition fortzuset-
zen. Nach dem daraufhin erfolgten
Rücktritt Senftlebens sandte die CDU-
Fraktion am Dienstag jedoch ein Signal
der Geschlossenheit aus, das die Chan-
ce auf eine Regierungsbeteiligung in ei-
nem Bündnis mit der SPD und den Grü-
nen wahrt. Sie wählte den 39 Jahre al-
ten Jan Redmann einstimmig zum neu-
en Fraktionsvorsitzenden.
Der Jurist, bisher Parlamentarischer
Geschäftsführer der Fraktion, gilt als
Vertrauter Senftlebens, der wie der bis-
herige Fraktionschef die Brandenbur-
ger CDU als moderne und liberale Par-
tei positioniert und auf „Merkel-Kurs“
gehalten hatte. Redmann selbst war
auch vor ungewöhnlichen Schritten
nicht zurückgeschreckt. In seiner Hei-
mat im Norden Brandenburgs hatte er
als Kreisvorsitzender der CDU Ostpri-
gnitz-Ruppin vor einem Jahr im Kreis-
tag ein Bündnis mit der Linken, den
Freien Wählern und Bauerngruppen
geschmiedet, das einen SPD-Landrat
verhindern sollte.
Für die neue Einigkeit musste Red-
mann nun allerdings einen hohen
Preis zahlen. Die konservativen Geg-
ner Senftlebens werden in der zukünf-
tigen Fraktionsführung beinahe paritä-
tisch vertreten sein. So soll der Abge-
ordnete Frank Bommert, der ursprüng-
lich gegen Redmann antreten wollte, ei-
ner von vier Stellvertretern werden.
„Wir haben uns auf einen gemeinsa-
men Weg geeinigt“, nannte Bommert
vor der Wahl als Grund dafür, warum
er nicht für den Posten des Fraktions-
chefs kandidierte. Auch der Abgeord-
nete Björn Lakenmacher, der Senftle-
ben seine Stimme verweigert hatte,
soll Stellvertreter werden. Den neuge-
schaffenen Posten des Justitiars der
Fraktion soll der Abgeordnete André
Schaller übernehmen, der sich eben-
falls gegen Senftleben gestellt hatte.
Auf dem Kurs von Redmann liegt
hingegen der Parlamentarische Ge-
schäftsführer Rainer Genilke, der bis-
her schon im Fraktionsvorstand vertre-
ten war. Er wurde am Dienstag eben-
falls einstimmig gewählt. Zum Frakti-
onsvorstand gehören sollen zudem der
Generalsekretär der brandenburgi-
schen CDU, Steeven Bretz, und die Ab-
geordnete Kristy Augustin, beide bis-
her Unterstützer von Senftleben. Die
Stellvertreter sollen in der kommen-
den Woche gewählt werden. Für den
Landesvorsitz der CDU will der Bun-
destagsabgeordnete Michael Stübgen
kandidieren, der derzeit Parlamentari-
scher Staatssekretär im Bundesland-
wirtschaftsministerium ist.
Nach der Wahl vom 1. September ist
in Brandenburg eine „Kenia“-Koaliti-
on von SPD, CDU und Grünen mög-
lich, die über eine Mehrheit von fünf
Sitzen verfügen würde. Aber auch Rot-
Grün-Rot hätte eine Mehrheit, aller-
dings nur mit einem Sitz. Die Branden-
burger SPD neigte zu dem stabileren
Bündnis mit CDU und Grünen, zeigte
sich aber über den Führungsstreit in
der märkischen Union irritiert. Am
Dienstag äußerte sie sich erleichtert.
Die Wahl Redmanns sei „ein starkes Si-
gnal“, sagte SPD-Generalsekretär Erik
Stohn. Die CDU stelle „interne Mei-
nungsunterschiede im Interesse von
Berechenbarkeit, Stabilität und Hand-
lungsfähigkeit zurück“, lobte auch die
stellvertretende SPD-Landesvorsitzen-
de Katrin Lange die Union. Das sei
eine gute Grundlage, um die Sondie-
rungen fortzusetzen, die natürlich wei-
ter „völlig ergebnisoffen“ geführt wür-
den. Die Grünen, mit denen Senftle-
ben in engem Austausch stand, zeigten
sich angesichts des gewachsenen Ge-
wichts des konservativen Flügels weit-
aus skeptischer. Zwar erkenne man
„nach dem offenen Machtkampf ein
Bemühen, für den Moment neue Ge-
schlossenheit zu zeigen“, teilten die
Spitzenkandidaten Ursula Nonnema-
cher und Benjamin Raschke mit. Doch
werde sich erst zeigen, ob das nur ein
Formelkompromiss sei. Ob damit eine
neue inhaltliche Ausrichtung der Bran-
denburger CDU verbunden sei, „steht
in den Sternen“, zeigten sich die Grü-
nen besorgt.
Die Linke in Brandenburg machte
klar, dass sie weiter mit der SPD und
den Grünen über eine mögliche Regie-
rung sondieren wolle. „Das machen
wir nicht von der CDU abhängig“,
sagte der Linken-Spitzenkandidat Se-
bastian Walter am Dienstag. Die Lin-
ke hatte bei der Wahl nur 10,7 Prozent
der Stimmen bekommen und damit
noch stärker verloren als die CDU.
Walter und seine Ko-Spitzenkandi-
datin Kathrin Dannenberg waren in
der vorigen Woche einstimmig zu Frak-
tionsvorsitzenden gewählt worden.
Während ein Teil der Linken-Basis für
den Gang in die Opposition ist,
scheint in der Fraktion der Wille aus-
geprägt, eine rot-grün-rote Koalition
einzugehen.

LONDON,10. September


E


s war gegen zwei Uhr nachts, als
„Black Rod“, eine Art oberster Saal-
diener, das Unterhaus betrat, um
die traditionelle Zeremonie vor einer Par-
lamentspause zu beginnen. Auf diesen
Moment hatten viele Abgeordnete gewar-
tet. Sie führten auf, was Kritiker am
nächsten Morgen eine „Pantomime“
nannten, also ein mehr oder weniger amü-
santes Bühnenstück. Der Parlamentspräsi-
dent, der Stunden zuvor seinen Rücktritt
angekündigt hatte, wurde von Labour-Ab-
geordneten dramatisch im Sessel festge-
halten. Andere hielten Papierschilder
hoch, auf denen „Silenced“ stand – zum
Schweigen gebracht. Dann riefen sie in
Sprechchören den Regierungsabgeordne-
ten „Shame on you!“ entgegen und stimm-
ten schließlich Lieder an: Schotten und
Waliser sangen ihre „Nationalhymnen“,
Labour-Abgeordnete das kommunisti-
sche Revolutionslied „The Red Flag“.
Dass es bei diesem mehr symbolischen
Widerstand blieb, lag wohl auch an der
Rechtsprechung des High Court. Das Ge-
richt hatte erst ein paar Tage zuvor ent-
schieden, dass die Beurlaubung im Ein-
klang mit der Verfassung steht. Abgeordne-
te, die Premierminister Boris Johnson eine
Missachtung des Rechts unterstellen, woll-
ten sich offenbar nicht dem gleichen Vor-
wurf aussetzen. Der Ankündigung, sich
von der Polizei aus dem Saal heraustragen
zu lassen, folgten jedenfalls keine Taten.
Aber die Oppositionsabgeordneten,
unter ihnen eine Reihe ehemaliger
Konservativer, hatten auch so eine Men-
ge erreicht. In nur fünf Plenartagen bis
zur Pause war es der „Rebellen-Allianz“
gelungen, dem Premierminister sechs Ab-
stimmungsniederlagen zuzufügen – ein
Novum in der langen britischen Par-
lamentsgeschichte. Johnson verlor seine
Regierungsmehrheit, teils durch freiwilli-
ge Übertritte, teils durch Ausschlüsse –
und seine Brexit-Strategie liegt in
Trümmern. Mehr kann sich eine Opposi-
tion kaum wünschen. Empörung dar-
über, dass das Parlament inmitten einer
schweren politischen Krise geschlossen
wird, herrscht auch außerhalb des Parla-
ments.Johnson ist nun in einer ausweglos


wirkenden Lage. Sein abermaliger Ver-
such, noch kurz vor der Parlamentspause
eine Neuwahl auf den Weg zu bringen,
scheiterte in der Nacht zu Dienstag zum
zweiten Mal. Das No-Deal-Verhinderungs-
gesetz, das die neue Parlamentsmehrheit
gegen seinen Willen durchgesetzt hat, lässt
ihm jetzt nur noch Zeit bis zum 19. Okto-
ber, dem Tag nach dem nächsten EU-Gip-
fel, um sein Versprechen wahrzumachen:
Großbritannien Ende kommenden Mo-
nats aus der Europäischen Union zu füh-
ren. Gelingt es ihm bis zu diesem Datum
nicht, das Parlament von einem Deal oder
aber einem ungeregelten Brexit zu überzeu-
gen, ist er gezwungen, in Brüssel eine Ver-
längerung der Austrittsfrist um drei Mona-
te zu beantragen. Das aber will Johnson
um keinen Preis; lieber läge er „tot in ei-
nem Graben“, sagte er unlängst.
Damit sind seine Optionen begrenzt. Sie
bewegen sich zwischen Sabotage, Rücktritt
oder – was die Diskussion am Dienstag be-
herrschte – einem Überraschungsdeal.
Das Verlängerungsgesetz nicht anzuwen-
den, kommt kaum in Frage; damit würde
er wohl vor Gericht landen. Aber Johnson
könnte versuchen, die Europäische Union
zu ermutigen, einen weiteren Aufschub ab-
zulehnen. Erwogen wurde angeblich
schon, den Antrag an die EU mit einem
Brief zu versehen, in dem Johnson sein
Missfallen ausdrückt und möglicherweise
andeutet, den europäischen Prozess zu be-
hindern. Die Regierung in Paris ist schon
jetzt skeptisch, ob eine Verlängerung der
britischen Mitgliedschaft im europäischen
Interesse liegt. Johnson könnte den Franzo-
sen weiter Futter geben.
Denkbar wäre auch ein Rücktritt. Dann
würde ein Nachfolger – Labour-Chef Jere-
my Corbyn oder ein anderer Übergangspre-
mierminister – den Antrag in Brüssel stel-
len müssen. In den Unterhauswahlen, die
über kurz oder lang kommen werden, könn-
te sich Johnson so als Märtyrer stilisieren:
Er hätte sein Amt aufgegeben, um sich
nicht „schuldig“ an einer weiteren Verlän-
gerung der EU-Mitgliedschaft zu machen.
Schon jetzt verzeichnen die Konservativen
unter seiner Führung hohe Zugewinne in
den Umfragen. Sollte es ihm gelingen, wei-
tere Wähler von der Brexit Party zurückzu-
gewinnen, wird den Tories von Meinungs-
forschern eine absolute Mehrheit zuge-
traut.
Ein Überraschungscoup wäre die Präsen-
tation eines „neuen“ Deals, wenn das Parla-
ment am 14. Oktober wieder zusammen-
tritt, spätestens aber am Tag nach dem EU-
Gipfel. Noch in der Nacht sagte Johnson
im Unterhaus: „Ganz gleich, wie viele Mit-
tel dieses Parlament erfindet, um mir die
Hände zu binden – ich werde im nationa-
len Interesse versuchen, eine Vereinba-
rung (mit der EU) zu finden.“ In der Kabi-
nettssitzung am Dienstag betonte er, dass
sich seine Regierung in der politischen Mit-
te befinde. Laut dem Magazin „The Specta-
tor“ bezeichnete er sich als „der liberalste
konservative Premierminister seit Jahr-
zehnten“.

In Anbetracht der kurzen Zeit müsste
Johnson Veränderungen aushandeln, die
von der EU rasch akzeptiert werden könn-
ten. Deswegen wird gerade so viel über
den „Northern Ireland only Backstop“ ge-
redet. Demnach würde, falls sich die EU

und Britannien nach der Übergangszeit
nicht auf ein umfassendes Handelsabkom-
men geeinigt haben, das innerirische
Grenzkontrollen überflüssig machen wür-
de, nur Nordirland bis auf weiteres in der
Europäischen Zollunion bleiben. Dem

Rest des Königreichs würde es freistehen,
eigenständig Handelsabkommen mit ande-
ren Ländern abzuschließen. Diese Rege-
lung, die von der EU ursprünglich favori-
siert worden war, erscheint plötzlich in
neuem Licht, weil sich die Mehrheitsver-
hältnisse im Unterhaus geändert haben.
Die nordirische DUP, die bis heute vehe-
ment gegen eine Lösung eintritt, die eine
Handelsgrenze zwischen Nordirland und
Großbritannien schaffen würde, hat an
Macht eingebüßt, seit Johnson auch mit ih-
ren zehn Abgeordneten keine Mehrheit
mehr hält. Zugleich wächst die Zahl der La-
bour-Abgeordneten, die die Ablehnung
des „May-Deals“ bereuen. Viele von ihnen
vertreten Wahlkreise, die mehrheitlich für
den Brexit gestimmt haben; sie stehen un-
ter dem Druck ihrer Wähler, die Umset-
zung des Referendumsergebnisses nicht
länger zu behindern.
Mehrere von ihnen haben sich am Diens-
tag mit moderaten Tories zusammengetan
und die Gruppe „Abgeordnete für einen
Deal“ gegründet. Die Bürger seien wütend
über die Blockade im Parlament und „die
extremen Standpunkte sowohl auf der
Leave- als auch auf der Remain-Seite“ leid,
sagte die Labour-Abgeordnete Caroline
Flint, Mitbegründerin der Gruppe, am
Dienstag. Viele fragen sich gleichwohl, ob
Johnson mit einem nur unwesentlich ver-
änderten Austrittsabkommen den Erz-Bre-
xiteers in seiner Partei den Kampf ansagen
will; diese haben ihn schließlich mit aufs
Schild gehoben. Aber die Aussicht, einen
Deal durchs Parlament zu bekommen und
damit den Brexit endlich „erledigt“ zu ha-
ben, könnte schwerer für ihn wiegen. Die
Tory-Abgeordnete Victoria Prentis – auch
sie ein Mitglied der Initiative – zeigte sich
am Dienstag überzeugt, dass ein Deal mit
Veränderungen am Backstop sogar von
mehr als den 92 Prozent Tories unterstützt
werden würde, die im dritten Anlauf für
Mays Deal gestimmt hatten. Dass Jonsons
Bemühungen ernst sein könnten, doku-
mentierte auch sein unerwartetes Treffen
mit der DUP-Chefin Arlene Foster am
Dienstag.
Eine offene Frage bliebe allerdings, ob
Parlamentspräsident John Bercow eine Ab-
stimmung zulassen würde, sollte der Deal
sich nur unwesentlich von Mays Austritts-
abkommen abheben. Bercow will noch bis
zum 31. Oktober im Amt bleiben und gilt
in der Regierung mittlerweile als politi-
scher Gegner. Ob sein Nachfolger oder sei-
ne Nachfolgerin den Tories besser gefällt,
ist fraglich. Mit seinem Rücktrittstermin
stellte Bercow sicher, dass die Nachfolge-
entscheidung noch von diesem Parlament
getroffen wird, von Abgeordneten also, die
2016 mit großer Mehrheit gegen den Brexit
gestimmt hatten. Zu den aussichtsreichsten
der mittlerweile sechs Kandidaten gehört
die Labour-Abgeordnete Harriet Harman.
Sie vermied am Dienstag jede Distanzie-
rung von Bercow, versprach aber, ihre bis-
herige Kritik am Brexit-Lager mit dem
Amtsantritt „beiseitezulegen“ und danach
„bedingungslos neutral“ zu sein.

Chance auf


„Kenia“ bleibt


CDU wählt Redmann zum


Fraktionschefin Potsdam


Von Markus Wehner


Eine Pantomime der besonderen Art


Erhobenen Hauptes:Parlamentssprecher John Bercow und seine Frau Sally am Diens-
tag in London auf dem Weg zu einem Gedenkgottesdienst für Lord Ashdown. Foto EPA

Donald Trump und der Spion im Kreml


Washington hatte wohl jahrelang einen Agenten in Moskau – musste die CIA ihn wegen Trump abziehen? / Von Majid Sattar und Friedrich Schmidt


Vor der Parlamentspause


nimmt das Schauspiel


im britischen Unterhaus


ungewöhnliche Formen


an. Nutzt Boris Johnson


die Suspendierung für


einen neuen Deal


mit der EU?


Von Jochen Buchsteiner


Foto Picture Alliance

Verstehen sich blen-
dend:Der russische
Außenminister Sergej
Lawrow, der amerika-
nische Präsident Do-
nald Trump und der
damalige russische
Botschafter in den
Vereinigten Staaten,
Sergej Kisljak, wäh-
rend eines Treffens
im Weißen Haus vor
zwei Jahren
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