Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.09.2019

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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Geisteswissenschaften MITTWOCH, 11. SEPTEMBER 2019·NR. 211·SEITE N 3


D


ie ganze Welt liegt in einer
Teeschale, Trinken und Es-
sen bieten Lektionen über
die Migration von Men-
schen und Aromen. „Der
globalisierte Gaumen: Ost-
asiens Küchen auf Reisen“ ist Thema im
„Jahrbuch für Kulinaristik“ (Bd. 2, 2018 /
Iudicium Verlag). Die Autoren stellen die
Idee von Originalküchen in Frage und
versammeln Kontaktszenarien der Ver-
einnahmung und Assimilation unter
Stichworten wie Fusion Food und
Geschmacksautomatisierung. Seit Mitte
der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahr-
hunderts fasste zunächst die chinesische
Küche in Westdeutschland Fuß. Hong-
kong-Chinesen, die zehn Jahre vorher
schon in England für einen gastronomi-
schen Boom gesorgt hatten, sowie Köche
aus dem ebenfalls nichtkommunistischen
Taiwan gründeten Chinarestaurants. Japa-
nische Restaurants konzentrieren sich in
Hamburg und Düsseldorf. Die vietnamesi-
sche Küche etablierte sich im Zuge der
Aufnahme der Boat People, die heutige
Trendküche kommt aus Korea.
Maren Möhring schildert, wie die Re-
staurantbesitzer sich den Essgewohnhei-
ten der Gäste anpassen (Filets oder Keu-
len statt ganzer Tiere, die Suppe nach
deutscher Sitte als Vorspeise) und Kli-
schees willig erfüllen. Asia-Buffets mini-
mieren Gefahren der Fehlentscheidung.
Die Leipziger Historikerin, die ihre Habili-
tationsschrift über die Geschichte der aus-
ländischen Gastronomie in der Bundes-
republik schrieb, macht deutlich, wie sich
der soziale Status von Migranten auf die


mitgewanderte Küche auswirkte: Die
vom Umfeld der Diplomaten und Inge-
nieure geprägte Küche Japans siedelte
sich anders als die chinesische im Hoch-
preissektor an.
Ein Thema sind Rückkopplungseffek-
te. Im Fall von Chop Suey („Bröckchen-
mischmasch“), einem laut Legenden aus
Essensresten improvisierten Wirtsge-
richt, handelt es sich um eine Schöpfung
von Emigranten für Kundschaft in den
Vereinigten Staaten. Für die nicht essba-
ren Glückskekse, über die Thomas Höll-
mann handelt, gilt dasselbe. Heute ist
Chop Suey in Taishan, einem der Heimat-
orte der chinesischen Diaspora, nicht un-
bekannt, und einige chinesische Firmen
vertreiben Glückskekse mit Gebrauchsan-
weisung. Wo westliche Chinarestaurants
mit Sättigungselementen und atmosphäri-
scher Überladung glänzen, erkundet
James Farrer unter der Überschrift „The
Decline of the Neighborhood Chinese Re-
staurant in Urban Japan“ kulturnähere in-
nerasiatische Geschmacksmigrationen.
Japans erste Chinarestaurants wurden
von ehemaligen japanischen Kolonisato-
ren bei der Heimkehr aus der Mandschu-
rei eröffnet. Farrer vergleicht den von Ja-
panern eher kreativ (Sashimi mit Sichu-
an-Pfeffer) als authentisch bewirtschafte-
ten „Chinesen um die Ecke“ in Japan mit

chinesischen Migranten, die in den Verei-
nigten Staaten Sushi-Bars eröffneten.
Die Herausgeberin Irmela Hijiya-
Kirschnereit zeigt unter dem Titel „Das
Sushi-Sakrileg“, wie die Entgrenzung der
Globalisierung zur Neuauslotung führt,
wobei die Ursprungsländer angesichts ke-
cker Kreationen wie California Maki die
Definitionsmacht über die ausgewander-
ten Produkte verlieren, die vermeintli-
chen Stilbrüche mitunter aber rückimpor-
tieren und weiterentwickeln. So ist Ja-
pans Küche Schmelztiegel und Ge-
schmacksgedächtnis kultureller Konfron-
tationen. Der wunderbare Schriftsteller
Christoph Peters erklärt in seinem Essay
„Satori im panierten Schnitzel“ die geisti-
gen Hintergründe kleiner Unterschiede
der Anrichtekunst, die auf Form, Farbe,
Textur und Kontext achtet. So unterschei-
de sich Japans Schnitzel-Klassiker „Ton-
katsu“ lediglich in der haptischen Beschaf-
fenheit der Panade vom deutschen Exem-
plar. Das ursprünglich chinesische Nudel-
gericht „Ramen“ ist mit Algen und Boni-
to-Flocken japonisiert worden. Jûzô Ita-
mi speiste es in dem postmodern-ironisch
gewürzten Nudelsuppenladen-Film „Tam-
popo“ in den japanischen Kulturkreis ein.
Yoko Hiramatsu macht sich Gedanken
über „Washoku“, die japanische Küche
im modernen Japan. Sie hebt die lokale
Produktion und das Kleinteilig-Handge-

machte als Korrektive zur Globalisierung
hervor, doch birgt der Retrotrend Gefah-
ren. Kritisch bewertet sie die mit Häpp-
chen gefüllte Bentô-Box für Kinder.
Wenn die Mütter Animefiguren aus Es-
senszutaten basteln, schreibt der Wettbe-
werb um die süßeste Kreation die Norma-
lität unbezahlter Hausarbeit fest.
In der Vormoderne war reiner weißer
Reis höchstens für ein Fünftel der Bevöl-
kerung erschwinglich, und Meeresfische
blieben im Landesinnern unzugänglich.
Eine Nationalküche wurde erst mit der
Abkoppelung der Küche von der Natur
und saisonalen Aspekten möglich. Sie ist
erfundene Tradition des Konsumkapitalis-
mus und Instanz der Vergemeinschaftung
auf dem Weg der Nationsbildung.
Eun-Jeung Lee führt die „Standardisie-
rung, Globalisierung und McDonaldisie-
rung der koreanischen Küche“ vor. Die
Kimchi-Herstellung war einmal eine so-
ziale Nachbarschaftspraktik, wie die Lage-
rung in Tontöpfen. Im Zuge des Korea-
Krieges und der Kasernierung des Heeres
auch in der Zeit des Waffenstillstands
kam es zur industriellen Produktion von
Kimchi, Sojasauce und Chilipaste und zur
Ausbreitung von Konserven und Tiefkühl-
kost. Ein Anteil der Singlehaushalte von
25 Prozent garantiert die Nachfrage.
Lee stellt die Vermarktung durch Regie-
rung und Konzerne dar. So bewirbt der

Konzern CJ Bibimbap und anderes
K-Food mit dem Markennamen „Bibigo“
(Bibimbap to go) in den Sparten Gastro-
nomie, Fertigessen und Tiefkühlkost.
Laut der Website des Konzerns werden
fünftausend Jahre Essensgeschichte unse-
rem Alltag angepasst. Auch wenn die
„Philosophie des Bibim“ als holistische
Kunst des Vermischens verschiedener
Grundelemente und Übung in Harmonie
und Frieden erklärt wird, geht das Vermi-
schen von Essen laut Lee auf die alte hier-
archische Kultur zurück, in der man für
am Ende der Essensleiter Stehende Es-
sensreste der Stufen über ihnen in einer
Schale vereinte. Die industrielle Inszenie-
rung sei Romantisierung und Entleerung
ethnischen Essens, schnelles Pseudo-
Slow-Food und standardisierte Vielfalt.
You Kyung Byun begibt sich auf Feld-
forschung in ein koreanisches Grillrestau-
rant in Berlin. Die dort als authentisch an-
gepriesene Verzehrform von Grillfleisch
mittels Einwickeln in Blätter ist in Korea
nur eine von vielen Konsumweisen. Da-
mit entpuppt sich die am elektrischen
Tischgrill vom Bedienpersonal interaktiv
explizierte Nationalküche als von Betrei-
berseite strategisch eingesetzte soziale
Konstruktion. Hiesige Restaurants, in de-
nen Bulgogi, Bibimbap und Eintöpfe par-
allel auf der Menükarte stehen, bieten an-
ders als spezialisierte Restaurants in Ko-
rea kulinarische Reisepakete durch das ge-
samte „exotische“ Land. So kommt es in
den Lifestyle-Szenarien des globalen gas-
tronomischen Kapitalismus zu Fusionen
und Dekonstruktionen, zu flottierenden
orientalischen Assemblagen und letztlich
zur lokalen Neuerfindung „Asiens“ aus
Elementen. STEFFEN GNAM

„Meine Beine haben das Königtum nicht
überlebt“, schrieb Heinrich Heine am 16.
Juni 1848 an Pariser Freunde aus Passy.
Dorthin, in ein Gartenhaus, hatte er sich
zurückgezogen, nachdem ihm die fort-
schreitende Lähmung das Gehen unmög-
lich gemacht hatte. Einen Monat später,
am 22. Juli, schrieb er einen Brief an den
alten Freund Hector Berlioz. Diesen Brief,
dessen vollständiger Wortlaut bisher unbe-
kannt war, konnte im vergangenen Jahr
das Düsseldorfer Heine-Institut erwerben.
Der Adressat von Heines Brief sei ein
furioser Antirepublikaner gewesen: Mit
diesem Argument ist 2003 der vom Präsi-
denten der Französischen Republik schon
bewilligte Einzug des Komponisten ins
Pantheon verhindert worden. Jetzt, im
hundertfünfzigsten Todesjahr von Ber-
lioz, steht seine „Pantheonisierung“ er-
neut zur Debatte. Ein Blick auf die kom-
plexe Lage von 1848, wie Heines Brief
ihn mit wenigen Worten eröffnet, mag
hier hilfreich sein.
Berlioz war um den 12. Juli aus London
nach Paris zurückgekehrt: Mit „Me voilà
de retour“ springt er im vierten Kapitel
seiner gerade entstehenden „Mémoires“
aus der erzählten Kindheit in der Dauphi-
né in die erschreckende Gegenwart. „Pa-
ris bestattet seine letzten Toten. Welch
entsetzliche Verwüstung“, notierte er un-
ter dem 16. Juli. Kurz darauf muss er auf
der Straße Alexandre Weill getroffen, von
Heines drastisch verschlimmertem Zu-
stand erfahren und nach dem Aufenthalts-
ort des Freundes gefragt haben. Darauf


reagierte Heine sofort: „Mon cher Berlioz-
zo, le citoyen Weill m’a dit que vous avez
demandé mon adresse“. Er gibt der Hoff-
nung Ausdruck, dass Berlioz einen gegen-
über Weill angekündigten Besuch wahr-
machen möge („J’espère que la menace
sera suivie d’effet“), berichtet vom wider-
wärtigen Geschäft, das Sterben zu betrei-
ben („degoûtant métier de moribond“),
und schließt: „– Adieu – Liberté, égalité
et fraternité sans musique; – Henri Heine,
64 grande rue, Passy.“
Der in der jüdischen Gemeinde des el-
sässischen Dorfes Schirrhofen aufgewach-
sene Publizist Weill hatte für radikal-sozia-
listische Zeitschriften wie die „Démocra-
tie Pacifique“ des Fourieristen Victor Con-
siderant geschrieben. Zu seinem Buch mit
elsässischen Dorfgeschichten steuerte Hei-
ne 1847 ein Vorwort bei. Von Weills „sehr
interessanten, sehr pikanten und sehr tu-
multuarischen Aufsätzen“ schrieb Heine
dort, „wo er für die große Sache unserer
Gegenwart auf’s löblich Tollste Partei er-
greift“. Man sehe ihn „in seiner vollen agi-
tatorischen Pracht und Lückenhaftigkeit“.
Schockhaft erfuhr Weill, der auf eine
friedliche Evolution des Sozialismus un-
ter dem Mantel einer liberalen Republik
gehofft hatte, die unmittelbaren Folgen
der Februarrevolution. Schon am 13.
März griff er in „La Presse“ unter dem Ti-
tel „Une Question de Vie et de Mort“ die
demagogischen Erlasse des Innenminis-
ters Ledru-Rollin und den Opportunis-
mus der Presse, auch seines eigenen Blat-
tes, an. „Sie erklären jeden zum Vater-

landsverräter, der nicht Republikaner ist.
Da haben wir die Freiheit, die diese Her-
ren, meine Freunde von gestern, uns ver-
sprechen; da haben wir den Fortschritt,
den sie gepredigt haben. Die Wahrheit ist,
dass der Schrecken wieder beginnt. Nicht
der Schrecken der Guillotine, sondern
der Verdächtigung und der Denunziati-
on.“ Unter Louis-Philippe sei es leichter
gewesen, Republikaner zu sein.
Im Laufe der ersten Jahreshälfte wurde
Weill immer stärker zum Propagandisten
einer Rückkehr zur konstitutionellen Mo-
narchie, und sein nach dem Juni-Auf-
stand erschienenes Pamphlet „Questions
brûlantes. République et Monarchie“
nahm die Perversion der höchsten Revolu-
tionsideale, der Freiheit und der Gleich-
heit, aufs Korn: Gleichheit vor dem Ge-
setz habe sich unter der Herrschaft der
Mediokrität zu aggressiver Gleichmache-
rei gewandelt. Eine solche Egalität sei die
Vernichterin von Individualität und Frei-
heit. Fouriers Theorie klingt hier nach.
Das alles könnte der von Heine in sei-
nem Brief mit beißender Ironie immer
noch als „citoyen“ titulierte Weill seinem
Gesprächspartner Berlioz entwickelt ha-
ben, der seinerseits schon in der von einer
Kugel durchbohrten Freiheitsstatue auf
der Bastillesäule ein auf Unheil deuten-
des Emblem erkannt hatte. Aber auch die
Umwertung emphatischer Begriffe war
Berlioz nicht entgangen: „Wenn man in-
mitten dieser furchtbaren Verdrehung
von Recht und Unrecht, von Gut und
Böse, von Wahrheit und Lüge diese Spra-

che hört, in der die meisten Wörter ihre
ursprüngliche Bedeutung verloren haben,
wie soll man da nicht gänzlich den Ver-
stand verlieren!!!“
Es ist der freiheitsdurstige, freibeuteri-
sche italienische Bravo, den Heine mit
„Mon cher Berliozzo“ anredet – den
Künstler, der einen emphatischen Auto-
nomie-Begriff hat und der nun unter der
Perversion von Freiheit und Gleichheit
an seiner Aufgabe verzweifeln muss,
denn sie ist nicht nur der Tod eines frei-
heitlichen Gemeinwesens, sondern auch
der Tod der Kunst. „Die Leute, die so tun,
als regierten sie uns, haben die Erniedri-
gung und den Ruin der Musik beschlos-
sen“, schrieb Berlioz an Liszt. Dieselbe
Diagnose liefert die Schlusspointe von
Heines kurzem Brief an Berlioz.
Dass die Künstler während des bluti-
gen Juni-Aufstands nicht auf den Barrika-
den standen, sondern im Gegenteil gegen
die Aufständischen antraten, war die
Überzeugung von Berlioz, gewonnen aus
den Berichten der Freunde, die diese
Tage erlebt hatten. Das steht, auch wenn
es polemisch zugespitzt ist und sicher der
Differenzierung bedürfte, in bemerkens-
wertem Gegensatz zu den altlinken Träu-
men vom Künstler, der per se auf der rich-
tigen, nämlich der revolutionären Seite
steht. T. J. Clark hat das für Delacroix be-
hauptet, Dolf Oehler für die Literaten.
Alte Benjaminsche Träume dieser Art hat
zuletzt noch Antoine Compagnon in sei-
nem Buch über die staatstreue Zunft der
Pariser Lumpensammler (F.A.Z. vom 12.

Januar 2018) korrigiert. Ein Heilssucher
(Weill) stellte im Juli 1848 die Verbin-
dung zwischen zwei alten Bonapartisten
(Heine, Berlioz) wieder her. Der Ruin der
Musik war der Undank der Regierung,
welche die Waffenhilfe der Künstler nicht
honorierte. In dieser Situation erscheint
der Bravo Berlioz in Heines Apostrophe
als Konservativer neuer Art, als Revolutio-
när aus eigener Ermächtigung.
Wie sehr Heine, der lange zwischen
den Rollen des progressiven „Stimmfüh-
rers“ und des Dichters voltigiert hatte, sei-
ne eigene Position überdenken musste,
zeigen seine späten Texte: 1851 das epi-
sche Gedicht „Jehuda ben Halevy“ im
„Romanzero“, das von der Autonomie
von Kunst und Künstler handelt, die „Ge-
ständnisse“ von 1855 und am Ende die
Vorrede zur französischen Ausgabe der
„Lutezia“ mit ihrer Prophezeiung eines
Sieges des Kommunismus. „Fortgerissen
von der Strömung großmütigster Gesin-
nung mögen wir immerhin die Interessen
der Kunst und Wissenschaft dem Gesamt-
interesse des leidenden und unterdrück-
ten Volkes aufopfern: aber wir können
uns nimmermehr verhehlen, wessen wir
uns zu gewärtigen haben, sobald die gro-
ße rohe Masse, welche die einen das Volk,
die anderen den Pöbel nennen, zur wirkli-
chen Herrschaft käme.“ Im Schlusssatz
seines Briefes an Berlioz eröffnete Heine
dem Freund schlaglichtartig diese erst
später voll ausgearbeitete Perspektive:
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ohne
Musik. KLAUS HEINRICH KOHRS

Ingeborg Loh (1926 bis 2019) aus Gold-
bach ist viel herumgekommen in ihrem Le-
ben. Sie hat die Welt und die Region be-
reist, Familienfeiern und Freunde be-
sucht, stets begleitet von ihrer Kamera.
Auch Blumen mochte „Tante Inge“, wie
der Twitter-Account heißt, auf dem man
nun einem Teil der 16 000 Privatfotos be-
gegnen kann, die sie ihrem Neffen Kars-
ten Loh hinterließ.
Eine Zeitkapsel des privaten Lebens in
der alten Bundesrepublik sind diese Fotos;
zu sehen bekommt man den visuellen
Nachlass einer Frau, über die man nicht
mehr erfährt, als die von ihr selbst verfass-
ten kurzen Legenden preisgeben. Ob man
Tante Inge jemals selbst auf den Bildern
sieht, kann man nur vermuten. Ist sie es,
wenn eine Frau neben einer Palme auf der
Insel Mainau namentlich nicht bezeichnet
wird? Ihr Profilbild auf Twitter zeigt sie in
karierter Bluse, in der Hand ihre Kamera.
1981 begegnet sie uns fotografierend, die
Kamera vor das Gesicht haltend.
Der „Ausgangspunkt allen Histori-
schen“, notierte der Düsseldorfer Frühneu-
zeithistoriker Achim Landwehr in seinem
2016 von Fischer gedruckten Essay „Die
anwesende Abwesenheit der Vergangen-
heit“, ist „das, was übrig bleibt“. Vermut-
lich ist von Ingeborg Loh mehr „übrig“ als
ihr fotografisches Archiv, aber öffentlich
sichtbar wird sie außerhalb von Familie
und Freundeskreis in diesen Bildern. Sie
ist zugleich anwesend und abwesend,
denn trotz aller privaten Einblicke in die-
ses Leben wissen nur Eingeweihte, wer
der Mann namens Wally sein könnte, der
im September 1979 in Kanada ein Gleis-
arbeitsfahrzeug fotografiert. Wer aufmerk-
sam mitliest, weiß immerhin: Wally war
schon ein Jahr zuvor in Schloss Mespel-
brunn, bekannt aus dem Film „Das Wirts-
haus im Spessart“ mit Liselotte Pulver,
und gehört wohl zu dem in Kanada leben-
den Teil der Familie.
Der Twitter-Account @ingeborgloh
(und sein Äquivalent auf Instagram)
macht die Betrachter zu Historikerinnen,
konfrontiert sie mit jener vierfachen Zeit-
lichkeit des historischen Materials, die
Landwehr auffächert: Da sind der Zeit-
punkt des Entstehens, der Zeitraum der
Überlieferung mit unterschiedlicher Nut-
zung und Wahrnehmung, die Gegenwart,
von der aus man auf die Bilder blickt, und
die Wahrnehmung künftiger Betrachter,
deren Standpunkt und Zeitkonzept wir heu-
te nicht kennen. Den Entstehungszeit-
punkt der Bilder und damit die erste Zeit-
ebene liefert „Tante Inge“ meistens mit –
ihr Erinnerungsvermögen hat sich ihrem
Neffen als Wille zur genauen Dokumentati-
on vererbt. „Katze auf Mercedes,
9.10.1981“ heißt es da, oder „Irmgard und
Hans im Wald bei Michelstadt, 1.1.73“. Ein-
gefroren scheinen die Momente aus den
Wohlstandsdekaden der Bundesrepublik:
die Art zu feiern, Besuche von Familie wie
Freunden und immer wieder Reisen.
Jedes einzelne Foto hat seinen eigenen
Überlieferungszeitraum. Was bisher ein
Familienalbum war und vielleicht zu be-
sonderen Gelegenheiten hervorgeholt
und möglicherweise auch vergessen wur-
de, ist nun als visueller Nachlass öffent-
lich. Mit „Tante Inge“ gerät der subjektive
Blick einer Frau, die zu Beginn der Bun-
desrepublik 23 Jahre alt war und ange-
sichts ihrer vielen Reisen vermutlich in
mindestens bescheidenem Wohlstand ge-
lebt hat, an eine nun allen zugängliche
Oberfläche. Mit der Kamera hielt sie fest,
was ihr erinnernswert oder komisch er-
schien, was ihr außeralltäglich war wie
Wüstenblumen und isländische Gletscher.
Und wir schauen uns 2019 diese kleinen
Zeitreisen an.
Nicht nur die Patina der Bilder – sie
sind schwarz-weiß wie bunt, zuweilen rot-
stichig oder entsättigt, zu sehen sind ver-
gangene Moden und unbekannte Fahr-
zeugmodelle – bringt die Gegenwart unse-
rer Betrachtung mit anderen, vergange-
nen Zeitkonzepten in Berührung. Was ma-
chen die denn da? fragt man sich zuwei-
len, oder: Wie geht es weiter? Manchmal
deckt sich die eigene Erinnerung auch mit
Tante Inges Bildern, wie bei ihrer Aufnah-
me des schottischen Küstenstädtchens Ul-
lapool aus dem Jahr 1984. Dort sah es An-
fang der neunziger Jahre noch genauso
aus – oder ist es doch das ikonische Ulla-
pool-Bild der Reiseführer, das man mit
Tante Inges Aufnahme übereinanderlegt?
Auf Twitter reagieren Nutzer mit eige-
nen Bildern der gleichen Szene, sie ergän-
zen Informationen, erkennen Personen
oder halten die Bedeutung des Bild-
datums für ihr eigenes Leben fest. Wegen
der allmählichen Veröffentlichung der
Fotos und Bildunterschriften ist der Feed
wie ein Puzzlespiel, denn vielleicht erfah-
ren wir schon übermorgen, wer Wally
denn nun ist.
„Unter zeittheoretischer Perspektive
bleibt sich das Material also nie gleich,
auch wenn es seine äußere Gestalt beibe-
hält.“ Was Landwehr schreibt, lässt sich
auf „Tante Inge“ übertragen: Die Leerstel-
len der Bilder füllt jede Rezipientin an-
ders, jeder Betrachter setzt die eigene Zeit-
wahrnehmung mit ihnen in Bezug, und so
setzen Ingeborg Lohs Aufnahmen Myria-
den von kleinen Erzählungen in Gang.
Künftige Betrachter werden diese Leerstel-
len anders füllen als jene des Jahres 2019,
sie werden die Geschichte, die „Tante
Inge“ uns in einzelnen Teilen liefert, an-
ders lesen, kombinieren und erzählen.
Ingeborg Loh wollte ihr Tun wohl auch
weitergeben: Am 7. Mai 1972 knipst die
vielleicht sechsjährige Susanne im Garten
einen Dackel, wie man auf dem ersten
Foto auf @ingeborgloh vom 19. Mai 2019
sehen kann. BIRTE FÖRSTER

Wie in Japan isst der Tenno, weiß in Frankfurt Brezel-Benno – seit es Sushi-Restaurants am Main gibt. Ist die Zigarette bei der Arbeit höfliches Signal der Anpassung an hiesige Imbissbudenbesitzersitten? Foto Barbara Klemm


Im chinesischen Restaurant gibt’s manchmal auch zu raffinierte


Sachen, jedenfalls für den Geschmack der Stammgäste: Das „Jahrbuch für


Kulinaristik“ studiert die Assimilationsrezepte wandernder Köche.


Generalpause im Revolutionsjahr


Zwei alte Bonapartisten erleben den Ruin der Musik: Ein für Düsseldorf erworbener Brief Heinrich Heines an Hector Berlioz


Ein Bildarchiv auf Twitter


Tante Inge


war hier


Kennen doch die Kundschaft

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