Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.09.2019

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SEITE N 4·MITTWOCH, 11. SEPTEMBER 2019·NR. 211 Forschung und Lehre FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


M

it der Geburt der ersten ge-
nom-editierten Kinder im
chinesischen Shenzhen
wurde Ende letzten Jahres
eine ethische Grenze über-
schritten. Dies führte zwar zu großen Pro-
testen in der Scientific Community. Doch
der russische Molekularbiologe Denis Re-
brikov hat schon weitere Experimente an-
gekündigt, um zukünftige Kinder vor an-
geborener Taubheit zu schützen. Die Er-
finderin der „Crispr“-Technik des Genom-
editierens, Emmanuelle Charpentier, hat
deshalb zu einem weltweiten Moratorium
zur Manipulation der menschlichen Keim-
bahn aufgerufen. Bisher ohne merkliche
Resonanz. Denn längst hat die dynami-
sche Entwicklung der Ingenieurbiologie
ein geopolitisches Rennen um Patente,
Arzneien und Risikokapitale entfesselt.
Die Vereinigten Staaten, China und Euro-
pa kämpfen miteinander um die Pole Posi-
tion. Gewinnen könnte am Ende die Regi-
on mit den laschesten Regulierungen.
Beunruhigend ist das gespenstige
Schweigen der Geisteswissenschaften in
der Causa Crispr. Denn wie ließen sich die
heutigen Ereignisse anders verstehen als
eine Aufforderung zu Kritik und Theorie?
Noch vor zwanzig Jahren hatten philoso-
phische Spekulationen zur Anwendung
von Biotechnologie auf die menschliche
Gattung Stürme der Entrüstung heraufbe-
schworen. Im Sommer 1999 wurde die
deutschsprachige Öffentlichkeit von ei-
nem Denkerkrieg heimgesucht. Ganze
drei Jahre hielt der sogenannte Menschen-
park-Streit zwischen Peter Sloterdijk und
Jürgen Habermas die philosophischen Fa-
kultäten und ganz besonders das Feuille-
ton in Atem. Was war geschehen?
Im Juli des selbigen Jahres hatte Sloter-
dijk vor beschaulicher Alpenkulisse auf
Schloss Elmau über die biotechnische Zu-
kunft der Menschheit spekuliert. In einer
wilden Collage aus Platons Staat, Nietz-
sches Zarathustra und Heideggers ontolo-
gischen Hirtenspielen versuchte der
Karlsruher Philosoph die dunkle Rücksei-
te der okzidentalen Tradition von Erzie-
hung und Bildung zu beleuchten. Dafür
konstruierte er eine Geschichte der Do-
mestikation des Menschen seit der Anti-
ke, die zugleich ins biotechnologische
Zeitalter vorausschauen sollte. Sloterdijk
plädierte in seiner Rede für die Ausarbei-
tung ethischer Regeln: Die Philosophie
müsse sich einen wetterfesten Stand-
punkt für diese noch so ferne Zukunfts-
problematik zulegen. Seine leicht verun-
glückte Rede vom „Menschen als Züchter
des Menschen“, die Bildung und Züch-
tung unzulässig in eins setzte, stand im
Zeichen einer mahnenden Prophetie:
Was, wenn eine Generation ihre Kinder
nicht nur erzieht, sondern wünschens-
werte Charakteristika qua Biotechnolo-
gie direkt in das Erbgut der Nachkom-
men einzuschreiben vermag?
Kurz vor der Jahrtausendwende hatte
das Mahnen und Warnen vor neuen Tech-
nologien Konjunktur. Die sogenannte
Entschlüsselung des menschlichen Ge-
noms war im vollen Gange, das Klon-
schaf Dolly hatte das Licht der Welt er-
blickt, und man fürchtete sich vor einem
seltsamen Tier namens Millennium-Bug,
das in der Silvesternacht sämtliche Com-
puter lahmlegen könnte.
Nördlich der Alpen sollte man Sloter-
dijks Rede jedoch nicht als ethischen Auf-
ruf, sondern vielmehr als unverfrorenen
Angriff auf die „Natur des Menschen“ in-
terpretieren. Schon im August holten Ha-
bermas und Kollegen zu einer wohlorches-
trierten Attacke aus, die den sonst so tele-
souveränen Sloterdijk bis ins Mark traf. Al-
lein in den Herbstmonaten des Jahres
1999 erschienen über dreißig Kritiken.
Glückliche Tage für das Feuilleton. Haber-
mas selbst hielt sich bedeckt. Im Jahr 2001
erschien dann in Buchform sein Plädoyer
für die humanistische Philosophie, in dem
er die Unantastbarkeit der menschlichen

„Gruppenidentität“ gegen die „liberale Eu-
genik“ in Stellung brachte.Sloterdijk er-
kannte in der massiven Kritik ein Kom-
plott gegen seine Person und trat die
Flucht nach vorne an. Nach seiner Rede
folgten drei rasante Jahre mit unzähligen
Interviews und TV-Auftritten.
Noch bevor seine Essaysammlung zu
den neuen „Regeln für den Menschen-
park“ als eine wüste Abrechnung mit dem
Humanismus erschien, kam es zu einer
denkwürdigen Begegnung. Im Frühjahr
2001 traf Sloterdijk auf Einladung dieser
Zeitung den Protagonisten des Humange-
nomprojektes Craig Venter zum Lunch
im französischen Lyon. Beim gemeinsa-
men Gesprächstermin verwickelte der
deutsche Philosoph den amerikanischen
Projektemacher in eine Art sokratisches
Kreuzverhör. Unentwegt fragte er den
streitbaren Genomforscher und Bioinge-
nieur nach dessen tieferliegenden Moti-
ven für die Entschlüsselungsarbeit am
menschlichen Genom. Noch vor dem Des-
sert resignierte Venter und gab zu Proto-
koll: Der Wunsch nach einem größeren
Segelboot treibe ihn an.
Leider kam es nie zum unmittelbaren
Aufeinandertreffen der eigentlichen Kon-
trahenten in der Philosophie. Der Streit
blieb unentschieden, und Sloterdijks Pro-
phetie hatte sich schlussendlich in nüchter-
ne Technikabschätzung gewandelt: „Ge-
zielte biotechnische Menschenformung ist

nach allem, was wir wissen, auf sehr lange
Sicht keine realistische Perspektive.“ Es
fehle einfach die Technologie dazu. Nach
dieser vermeintlichen Entwarnung sollte
sich die deutsche Philosophie in ein sehr
langes Urlaubssemester verabschieden.
Nach der überhitzten Debatte hatte sich
eine merkwürdige Theoriemüdigkeit ein-
gestellt, die bis heute andauert.

D

och mit den jüngsten Ereignis-
sen um die Eingriffe in die
menschliche Keimbahn ist
Sloterdijks ferner, biopoliti-
scher Horizont unmittelbar
in unsere Gegenwart eingebrochen.
Stand das Humangenomprojekt noch un-
ter der Ägide des genetischen Codes, den
es zu lesen und zu enträtseln galt, so geht
die synthetische Biologie heute einen be-
deutenden Schritt weiter. Jetzt sollen gan-
ze Genome editiert oder gleich neu ge-
schrieben werden. Crispr gilt als neues
Universalwerkzeug der synthetischen Bio-
logie, denn es ist auf alle Lebewesen an-
wendbar.
Bei Crispr handelt es sich ursprünglich
um einen molekularen Mechanismus, mit
dem Bakterien Angriffe von Bakterienvi-
ren erkennen und abwehren. Also eine
Art Immunsystem, durch das sich eine
Zelle ständig selbst repariert, indem sie
„unerwünschte“ Sequenzen eigenständig
aus dem DNA-Strang schneidet. Im Jahr

2012 ist es unter anderem Emmanuelle
Charpentier und Jennifer Doudna gelun-
gen, diesen molekularen Mechanismus
endgültig in ein biotechnisches Werkzeug
umzuwandeln. Mit Hilfe von Crispr lässt
sich seitdem das Erbgut aller Spezies mit
noch nie dagewesener Präzision bearbei-
ten. Veränderungen in der Keimbahn wer-
den dann automatisch an die nachfolgen-
den Generationen vererbt. Den Lebensin-
genieuren kommt dabei zupass, dass auch
fundamentale Änderungen anschließend
nicht mehr nachvollzogen werden kön-
nen.
Neben klar umrissenen Einzelzielen
wie den umprogrammierten Bakterien,
die nun beispielsweise aus Zuckermolekü-
len Medikamente oder kostbare Materia-
lien herstellen sollen, sowie den beschleu-
nigten Züchtungsverfahren bei Pflanzen
und Tieren hat die synthetische Biologie
ein mythopoetisches Genre gewählt, in
dem sich ein fast uneingeschränktes
Machbarkeitsdenken verkörpert. Har-
vard-Forscher arbeiten längst an der Wie-
derkehr des Wollhaarmammuts. Die
DNA des steinzeitlichen Tieres, die aus ei-
nem in der Arktis eingefrorenen Kadaver
entnommen worden war, soll so aufberei-
tet werden, dass sie nach einer künstli-
chen Befruchtung von einer Elefanten-
kuh ausgetragen werden kann. Die majes-
tätischen Mammuts sollen, sollte dies je-
mals gelingen, aus dem Labor in Land-

schaften jenseits des Polarkreises ge-
bracht werden, wo sie dann zum Schutz
des gefährdeten arktischen Ökosystems
zu Hunderten ihre Kreise ziehen könn-
ten.
Crispr wird nun auch für ein Populati-
onsmanagement von Moskitos benutzt,
die für die Übertragung von Malaria ver-
antwortlich sind. Man plant, mit dem
„Gene Drive“ das Genom einiger Stech-
mücken der Anopheles-Gattung im La-
bor so zu verändern, dass sie den einzelli-
gen Malariaparasiten nicht mehr übertra-
gen kann, sondern dieser ausgerottet
wird (siehe F.A.Z. vom 21. August). Ein-
mal in die Population eingeschleust, wird
die Genveränderung lawinenartig ver-
erbt. Die ersten genomeditierten Moski-
tos wurden vor einem Monat in Burkina
Faso ausgesetzt.
Ende letzten Jahres schließlich kamen
Nana und Lulu auf die Welt. Es war eine
Geburt ohne Komplikationen, trotzdem
hat sich hier eine tiefe Zäsur, ein Ein-
schnitt in die Geschichte der menschli-
chen Gattung ereignet. Die Keimbahn
der Babys wurde von dem Biophysiker
He Jiankui mit Hilfe von Crispr manipu-
liert. He habe noch vor der Fertilisation
einen Rezeptor im Genom ausgeschaltet,
und die Zwillinge so immun gegen HIV
gemacht. Der inzwischen beurlaubte For-
scher der Technischen Universität in
Shenzhen will mit den Zwillingen den
ersten gezielt genetisch veränderten Men-
schenkindern zum Leben verholfen ha-
ben. Die Entrüstung war denkbar groß,
als publik wurde, dass He die Eingriffe
und die Fertilisation ohne Genehmigung
der zuständigen Behörden und entgegen
geltendem chinesischem Recht vorge-
nommen hatte. Noch vor der Veröffentli-
chung der dokumentierten Versuchsda-
ten hatte er die inkognito durchgeführ-
ten Eingriffe auf seinem Kanal bei You-
tube bekanntgemacht.

I

n der Fusion von Biologie und Inge-
nieurtechnologie, die seit fünfzehn
Jahren als eine institutionalisierte,
global agierende Disziplin betrie-
ben wird, lässt sich ein neues Para-
digma der von Michel Foucault beschrie-
benen „vollständigen Durchsetzung des
Lebendigen“ erkennen, bei der die Regie-
rung des Lebendigen durch seine unmit-
telbare Herstellung ergänzt wird. Die le-
bendige Natur – im Spektrum einzelner
Genome, einer Spezies oder eines umfas-
senden ökologischen Zusammenhangs –
ist durch die synthetische Biologie zu ei-
nem technischen Projekt geworden. So
auch das menschliche Genom. Damit
scheint sich der Traum der modernen Bio-
politik vom Lebenmachen in aller Unmit-
telbarkeit zu erfüllen.
Trotz der realen biotechnischen Fort-
schritte ist das anders als vor zwanzig Jah-
ren kaum mehr Gegenstand geisteswis-
senschaftlicher Debatten. Dabei wäre
nicht nur die ethische Frage zu beantwor-
ten, ob, wie weit und mit welchen Neben-
folgen das Leben zum Gegenstand techni-
schen Designs gemacht werden darf, son-
dern auch die machtpolitischen und öko-
nomischen Interessen sowie die Eigendy-
namik der Ziele zu untersuchen, die mit
biologischem Design verbunden sind.
Wenn heute das Leben-„Machen“ dem
Wissen über das Leben vorgezogen wird,
dann sollte eine theoretisch-kritische In-
tervention bereits am Labortisch einset-
zen. Bevor diese Arbeit beginnt, sollten
die hiesigen Geisteswissenschaften dar-
über beratschlagen, ob man sich Emma-
nuelle Charpentiers Aufruf zu einem
Crispr-Moratorium anschließt. Die erste
Regel für den Menschenpark könnte ent-
sprechend lauten: Lasst die menschliche
Keimbahn in Ruhe! In dieser Forderung
würden Sloterdijk und Habermas sicher-
lich übereinstimmen.
Der Autor forscht als Kulturwissenschaftler am Ex-
zellenzcluster „Matters of Activity. Image Space
Material“ der Humboldt-Universität zu Berlin.

N


ach Nordrhein-Westfalen und
Sachsen-Anhalt hat in der vergan-
genen Woche auch das bayerische Ka-
binett eine Landarztquote für das Me-
dizinstudium beschlossen. 5,8 Prozent
der Studienplätze im Freistaat sollen
für Bewerber reserviert sein, die sich
darauf festlegen, nach Studienende
zehn Jahre lang in unterversorgten Re-
gionen tätig zu sein. Routinemäßig
sind Maßnahmen gegen Landarztman-
gel von dem Hinweis auf eine generel-
le medizinische Versorgungslücke und
der Forderung nach mehr Medizinstu-
dienplätzen begleitet. So verlangte der
Vorstandsvorsitzende der Kassenärzt-
lichen Bundesvereinigung schon ein-
mal ganz unbescheiden bis 2035 jedes
Jahr sechstausend neue Studienplätze.
Dazu gibt es allerdings eine kosten-
günstigere Alternative. Eine im Ärzte-
blatt Baden-Württemberg (Juni 2019)
veröffentlichte Statistik macht auf
eine andere Ursache des Ärzteman-
gels aufmerksam: das wachsende Des-
interesse von Medizinern an ihrem Be-
ruf. Die durchschnittliche Arbeitszeit
von angestellten Praxis-Ärzten betrug
2017 nur noch 23 Wochenstunden,
nicht einmal halb so viel wie bei den
selbständigen Ärzten, von denen es im-
mer weniger gibt. Statistisch gesehen,
gibt es also keinen Ärztemangel, son-
dern einen Mangel an der Bereit-
schaft, den Arztberuf selbständig und
mehr als dreißig Stunden pro Woche
auszuüben. Über Anreize für Bewer-
ber, die sich nach dem Studium zur
38,5-Stunden-Woche oder zu selbstän-
diger Arbeit verpflichten, wäre nach-
zudenken. tth

Private Betriebe mit bis zu 250 Beschäftig-
ten werden in Deutschland als „Kleine
und Mittlere Unternehmen“ (KMU) be-
zeichnet. Ihre wirtschaftliche Bedeutung
ist enorm: 99 Prozent aller deutschen Un-
ternehmen werden als KMU geführt. Die
„Expertenkommission Forschung und In-
novation“ (EFI), die regelmäßig für die
Bundesregierung Gutachten zur technolo-
gischen Leistungsfähigkeit des Landes
schreibt, stellte den KMU vor drei Jahren
allerdings ein mäßiges Zeugnis aus. Der
quantitative Beitrag der kleinen und mitt-
leren Betriebe zu Forschung und Innova-
tionen in Deutschland sei, auch im inter-
nationalen Vergleich, sehr gering. Die
„insgesamt eher schwache Innovations-
performance“ der KMU zeigt sich laut
Gutachten auch beim bescheidenen Be-
schäftigungsbeitrag, der von ihren Innova-
tionen ausgehe.
Die privatwirtschaftliche Forschung
wird nach der Erhebung der Gutachter
von den Großunternehmen dominiert. Al-
lein das Forschungsbudget von Volkswa-
gen war 2014 mit 13,1 Milliarden Euro
doppelt so hoch wie die gesamten For-
schungs- und Entwicklungsausgaben
(FuE) der KMU, die sich auf 5,2 Milliar-
den beliefen. Ist der Klein- und Mittel-
stand also eine vernachlässigbare Größe
im deutschen Forschungssystem?
Die Bundesregierung jedenfalls hält
auf ihn große Stücke. Im Mai hat das Kabi-
nett eine steuerliche Forschungsförde-
rung beschlossen, die 2020 anlaufen soll


  • allerdings für alle Unternehmen und
    nicht nur für die KMU, wie vielfach gefor-
    dert. Die Zahlen sind beeindruckend: Das


Leibniz-Zentrum für Europäische Wirt-
schaftsforschung schätzte in einer ersten
Bewertung des Gesetzes die gesamten
Forschungsaufwendungen der Unterneh-
men pro Jahr auf 87 Milliarden Euro, wo-
von rund 32 Milliarden in Zukunft förder-
fähig wären. Die Förderung wird bei den
Personal- und Auftragskosten der For-
schung ansetzen, die bisherige Projektför-
derung der betrieblichen Forschung
bleibt von dem neuen Gesetz unbenom-
men. Die Steuerermäßigungen von bis zu
25 Prozent auf Personalkosten in For-
schung und Entwicklung können außer-
dem nicht parallel zu direkten Zuschüs-
sen gegeben werden. Das wirft nicht nur
die Frage auf, ob die beiden Förderfor-
men einander eher behindern als ergän-
zen. Viel grundsätzlicher geht es darum,
ob Steuererleichterungen überhaupt ein
wirksames Mittel sind, Unternehmen
zum Forschen zu animieren, die bisher
keine besondere Neigung dazu erkennen
ließen. Immerhin wird die Steuerförde-
rung der Forschung jährlich rund 1,3 Mil-
liarden Euro kosten, die in der Finanzie-
rung der Grundlagenforschung vielleicht
sinnvoller angelegt wären.
Der Bundesverband der Deutschen In-
dustrie jedenfalls ist sich sicher, dass die
Innovationsleistung in Deutschland seit
Jahren zurückgeht. In seiner Stellungnah-
me zum Gesetzentwurf nannte er das in
Aussicht gestellte Fördervolumen von
1,25 Milliarden Euro pro Jahr erwartungs-
gemäß zu niedrig. Die grundsätzlichere
Kritik an der Steuerförderung, wie sie
vom Bundesrat, der Fraunhofer-Gesell-
schaft oder der „Arbeitsgemeinschaft der

industriellen Forschungseinrichtungen“
(AiF) geäußert wurde, warf der Bundesre-
gierung insbesondere vor, dass man mit
der steuerlichen Teilentlastung der Perso-
nalausgaben an der Realität der forschen-
den Unternehmen völlig vorbei gehe. Die
meisten kleinen und mittelständischen
Betriebe unterhielten nämlich gar keine
eigenen Forschungsabteilungen, sondern
forschten extern und anlassbezogen. Des-
halb suchten sie bei ihren Projekten die
Kooperation mit den Hochschulen und
außeruniversitären Forschungseinrich-
tungen. Diese könnten ihre Personalkos-
ten wiederum steuerlich gar nicht geltend
machen. Die AiF hält es deshalb für un-
realistisch, dass die klein- und mittelstän-
dischen Betriebe das neue Gesetz zum An-
lass nehmen könnten, zusätzlich eigenes
Forschungspersonal einzustellen. Statt-
dessen würden sie auch weiterhin die Zu-
sammenarbeit mit der öffentlichen For-
schung suchen, weshalb Formate der Pro-
jektförderung wie der Industriellen Ge-
meinschaftsforschung oder des Zentralen
Innovationsprogramms Mittelstand zu
stärken seien.
Außerdem kritisierte die AiF, dass man
die Forschungszulage nicht auf die klei-
nen und mittelständischen Unternehmen
beschränkt hat. Für die Großen sei die
steuerliche Förderung mit ihrer Begren-
zung auf maximal 500 000 Euro pro Jahr
zu gering, und die Kleinen, die viel stär-
ker von ihr profitieren würden, kämen
nicht in ihren Genuss. Wird die an sich
gute Idee in der gesetzlichen Ausführung
also zur Blamage? Heike Belitz vom Deut-
schen Institut für Wirtschaftsforschung

äußerte kürzlich grundsätzliche Zweifel
sowohl an der Notwendigkeit einer steuer-
lichen Forschungsförderung als auch ih-
rer Eignung für die kleinen und mittleren
Unternehmen. Die Forschungsausgaben
der deutschen Unternehmen seien von
2016 auf 2017 um „sagenhafte 9,5 Pro-
zent“ gestiegen, die privaten Forschungs-
ausgaben seien in Relation zum BIP in
Deutschland sogar höher als in den Verei-
nigten Staaten. Eine zusätzliche breite
steuerliche Forschungsförderung erschei-
ne angesichts dieser Zahlen daher nicht
notwendig. Belitz hält es für sinnvoller,
die staatliche Förderung der Forschungs-
kooperationen von Unternehmen und
Hochschulen zu stärken. Das wisse der
Bund zwar seit langem, dennoch stagnier-
ten die Mittel für das Innovationspro-
gramm Mittelstand seit 2013 bei rund 500
bis 560 Millionen Euro pro Jahr.
Der Zusammenhang von Forschung
und Innovationen bleibt bei alldem um-
stritten. Schließlich ist Forschung, die
nicht zu Innovationen wie Kosteneinspa-
rungen oder Patenten führt, privatwirt-
schaftlich gesehen Geldverschwendung.
Laut Friederike Welter, Präsidentin des
Instituts für Mittelstandsforschung, bele-
ge die Berichterstattung zu Forschung
und Innovation immer wieder die gerin-
gen Forschungs- und Entwicklungsausga-
ben und die zunehmende Innovationslü-
cke bei den kleinen und mittleren Betrie-
ben. Der „Zusammenhang von FuE-Aus-
gaben und Innovationsgeschehen“ dage-
gen bleibe weitgehend unklar. Forschung
sei „weder eine notwendige noch hinrei-
chende Voraussetzung für Innovationen“,

so Welter. Es gebe sogar viele innovative
Unternehmen ganz ohne eigene Anstren-
gungen in der Forschung.
Das Zentrale Innovationsprogramm
Mittelstand ist zuletzt im Juni im Auftrag
des Bundeswirtschaftsministeriums zu-
rückhaltend positiv evaluiert worden. Die
Evaluation „deute auf einen positiven Ef-
fekt des ZIM auf die FuE-Umsatzintensi-
tät während der Projektlaufzeit hin“.
Zwar richte sich das Programm „überwie-
gend an Unternehmen mit weniger ausge-
prägter Forschungsneigung“, führe aber
primär zu „zusätzlicher Forschung in be-
reits forschungsaktiven Unternehmen.“
Den Einstieg in solche Aktivitäten moti-
viere das Programm hingegen nur bei ei-
nem verschwindend geringen Anteil von
Unternehmen. Das Gutachten bestätigte
das starke Wachstum der privaten For-
schung, die aber zu über neunzig Prozent
von größeren Unternehmen geleistet wer-
de. Die gleichzeitig rückläufige Innovati-
onsquote gehe daher vor allem auf die
kleinen und mittleren Betriebe zurück,
die keine oder nur gelegentliche For-
schung betreiben.
Angesichts der Stagnation der Mittel
dürfte man also der AiF recht geben: Als
ein Instrument der Forschungsförderung
ist die steuerliche Entlastung für die klei-
nen und mittleren Unternehmen un-
brauchbar, und als arbeitsmarktpoliti-
sches Instrument ist sie überflüssig.
Schließlich mangelt es nicht an offenen
Stellen in der betrieblichen Forschung,
sondern an geeigneten Bewerben. Und
wo die ausgebildet werden müssten, dürf-
te bekannt sein. GERALD WAGNER

Ärztemangel?


Neues aus dem

Menschenpark

Faszinationsobjekt des biotechnischen
Forschergeists: Die Turritopsis nennt man auch die
unsterbliche Qualle, weil sie aus Zellen am
Schirmrand echte Kopien der Qualle mit identi-
scher Geninformation absondern kann. Bild Mauritius

Wie weckt man den Erfindergeist des Mittelstands?


Das Gesetz zur Forschungförderung geht an den kleinen und mittleren Unternehmen vorbei. Für die Großindustrie ist der Anreiz gering.


Die synthetische


Biologie verlässt die


Labore. Die neue


Gentechnik verspricht


das Re-Design ganzer


Gattungen. Die


biopolitische Utopie


vom Leben-Machen


könnte sich erfüllen.


Doch in den Geistes-


wissenschaften ist es


gespenstisch ruhig.


Von Martin Müller

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