Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.09.2019

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SEITE 6·MITTWOCH, 11. SEPTEMBER 2019·NR. 211 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Die weiteren Vizepräsidenten Věra Jourová (Tschechische Republik; Werte und Transparenz), Margaritis Schinas (Griechenland; Schutz dessen, „was
Europa ausmacht“), Maroš Šefčovič(Slowakei; interinstitutionelle Beziehungen) und DubravkaŠuica (Kroatien; Demokratie und Demographie). Die
Kommissare Helena Dalli (Malta; Bürgerrechte und Gleichstellung) und Elisa Ferreira (Portugal; Kohäsion und Reformen)

Nach der Wahlschlappe der italienischen
Sozialdemokraten im März 2018 ver-
schwand er in der Versenkung. Jetzt hat
ihm der überraschende Regierungswech-
sel in Rom die Erfüllung seiner politi-
schen Laufbahn beschert. Paolo Gentilo-
ni, 64 Jahre alt, entstammt einem Adels-
geschlecht in den Marken. Von 2014 bis
2016 war er Außenminister, bis Juni 2018
dann Regierungschef. Gentiloni ist der
erste EU-Wirtschaftskommissar aus Ita-
lien – im Parlament gab es schon Kritik
daran, dass ein Politiker aus dem hoch-
verschuldeten Land künftig für Haushalts-
disziplin zuständig sein soll. (rüb.)

Der Ire, bisher in der Kommission für
Landwirtschaft zuständig, bekommt ein
besonders wichtiges und heikles Dossier:
die Handelspolitik. In dieser Funktion
wird er die Verhandlungen mit den Verei-
nigten Staaten führen, um neue Zölle auf
Autos abzuwenden. Auch die Reform der
Welthandelsorganisation gehört zu Phil
Hogans Zuständigkeit. Er soll da eine ei-
gene europäische Initiative ergreifen,
etwa zur Schlichtung von Handelskonflik-
ten. Wenn die Briten wirklich aus der EU
austreten und ein Freihandelsabkommen
wollen, bekämen auch sie es unweigerlich
mit dem robusten Iren zu tun. (T.G.)

Der Niederländer fühlte sich im Juli nah
dran an seinem Traumjob – Kommissi-
onspräsident. Doch fielen ihm die sozial-
demokratischen Parteifreunde aus dem
Süden Europas in den Rücken. Die Spa-
nier griffen sich den Posten des EU-Au-
ßenbeauftragten, ein Italiener rückte an
die Spitze des Europäischen Parlaments.
So blieb für Frans Timmermans trotz ei-
nes fulminanten Europa-Wahlkampfs
nur der Posten übrig, den er schon unter
Juncker hat: Erster Vizepräsident. Als
solcher wird er Kommissionssitzungen
leiten, wenn die Präsidentin nicht da ist.
Das Thema Rechtsstaatlichkeit, mit dem
er sich in Polen und Ungarn Feinde mach-
te, ist er künftig los. Er übernimmt das
Portfolio für Klimapolitik und koordi-
niert sämtliche Anstrengungen, Europa
zum „ersten klimaneutralen Kontinent“
zu machen. In den ersten hundert Tagen
soll er ein Konzept für ehrgeizigere
CO 2 -Einsparziele erarbeiten – ein zentra-
les Versprechen von der Leyens. Dazu ge-
hört auch eine mögliche Besteuerung
von Kerosin, für die Timmermans selbst
im Wahlkampf eingetreten war. (T.G.)

Die Dänin hatte wohl nie eine realisti-
sche Chance auf den Top-Job der Kom-
mission. Sie erklärte sich erst in der
Wahlnacht zur Spitzenkandidatin der Li-
beralen, doch hatte deren wichtigster Po-
litiker in Europa, Emmanuel Macron, da
schon ein Auge auf von der Leyen gewor-
fen. Trotzdem ist Margrethe Vestager im
Machtpoker gut weggekommen. Sie
bleibt weiterhin für Wettbewerb zustän-
dig, eines der wichtigsten Ressorts. Sie
machte sich einen Namen im Kampf ge-
gen Monopolstrukturen, gegen Google
verhängte sie gleich mehrere Milliarden-
strafen. Auch gegen staatliche Steuerver-
günstigungsmodelle ging sie konsequent
vor, was etwa Irland und Apple zu spüren
bekamen. Künftig wird sie neben diesen
Aufgaben als herausgehobene Vizepräsi-
dentin dafür zuständig sein, Europa „für
das digitale Zeitalter fit zu machen“. In
den ersten hundert Tagen soll sie ein
Konzept für die Förderung Künstlicher
Intelligenz vorlegen. Außerdem soll sie
bis Ende 2020 einen Konsens zur Be-
steuerung digitaler Dienstleistungen her-
beiführen – wenn nicht international,
dann in der Europäischen Union. (T.G.)

Der Lette ist der einzige frühere Minister-
präsident in der engeren Kommissions-
führung – auch das ein Novum. Von 2009
bis Ende 2013 regierte der Wirtschafts-
wissenschaftler in Riga und setzte einen
rigiden, von Erfolg gekrönten Sparkurs
durch. Juncker holte ihn 2014 als Vize-
präsidenten für den Euro und den Finanz-
markt in seine Kommission. Valdis Dom-
brovskis sollte für finanzpolitische Stabi-
lität stehen, für die Kultur des „Nordens“


  • musste aber ein ums andere Mal erfah-
    ren, wie Juncker ihn umging. In der neu-
    en Kommission wird er für Finanzdienst-
    leistungen verantwortlich sein. Auf die-
    sem Feld wird sich der Brexit besonders
    auswirken, denn die Europäer müssen
    dann bestimmte Dienstleistungen neu or-
    ganisieren und vom Finanzplatz London
    abziehen. Als dritter „Exekutiver Vize-
    präsident“ ist Dombrovskis zuständig für
    „eine Wirtschaft, die den Leuten dient“.
    Er soll sich um die Vertiefung der Eurozo-
    ne kümmern, wofür künftig eine eigene
    Budgetlinie im EU-Haushalt vorgesehen
    ist. Außerdem soll er die Bankenunion
    vollenden, inklusive einer neuen Siche-
    rung von Spareinlagen. (T.G.)


Erst vor einem Jahr hatte Spaniens Minis-
terpräsident den katalanischen Sozialis-
ten und ehemaligen Präsidenten des Eu-
ropäischen Parlaments reaktiviert. Pedro
Sánchez ernannte Josep Borrell zum Au-
ßenminister. Seine Nominierung als Au-
ßenkommissar war Sánchez besonders
wichtig. Er wollte damit zeigen, dass mit
Spanien in Brüssel und darüber hinaus
wieder zu rechnen ist. Der 72 Jahre alte
Borrell bringt reichlich Erfahrung mit.
Neue Akzente könnte er in der Migrati-
onsdebatte setzen. In Spanien kamen im
vergangenen Jahr die meisten Migranten
in der EU an. (hcr.)


Zu Sylvie Goulards wichtigsten Aufgaben
als Binnenmarkt-Kommissarin wird zäh-
len, die technologische Souveränität der
EU zu stärken und einen gemeinsamen
Ansatz zum Umgang mit Künstlicher In-
telligenz zu entwickeln. Schon als Europa-
abgeordnete hat die 54 Jahre alte Franzö-
sin sich intensiv mit den Herausforderun-
gen beschäftigt, die durch den digitalen
Wandel entstehen. Als Vizegouverneurin
der Banque de France bereitete sie sich
auf ihren neuen Posten vor. Bei der Anhö-
rung im Parlament wird es aber auch um
ihre mutmaßliche Verwicklung in eine
Scheinbeschäftigungsaffäre gehen. (mic.)

Im Juli musste sie im Schnelldurchlauf
ein Programm zusammenstellen, das jetzt
die nächsten fünf Jahre prägen soll. Nach
ihrer Wahl sprach sie, ebenso glücklich
wie erschöpft, von den „anstrengendsten
zwei Wochen meines Lebens“. Während
sie von den Regierungschefs aller Cou-
leur einhellig unterstützt wurde, musste
sie im Parlament Farbe bekennen. Es ge-
lang von der Leyen mit einer engagierten
Rede, in der sie sich gegen Populisten und
Extremisten von rechts abgrenzte und So-
zialdemokraten, Liberale und Grüne glei-
chermaßen umwarb. Ein europäischer
„Green Deal“ steht auf der Prioritätenlis-
te der künftigen Kommissionspräsidentin
ganz oben; für die Umwelt wird ein 28 Jah-
re alter Litauer zuständig, der erste Grü-
ne in der Kommission. Von der Leyen
will außerdem die digitale Wirtschaft vor-
anbringen, Migration ordnen, Europa in
der Verteidigungspolitik stärken und in
strukturschwache Regionen investieren.
Eine Botschaft ist ihr besonders wichtig:
Viel Ärger über Europa gehe nicht auf De-
mokratiedefizite zurück, sondern auf de-
mographischen Wandel – den die Kom-
mission abfedern soll. (T.G.)


Bis Dienstag haben Ursula von der Leyen
und ihre Mitarbeiter dichtgehalten – das
allein ist in Brüssel schon eine Leistung.
Nichts wurde vorab bekannt über die
Struktur des Kommissarskollegiums und
die Ressortverteilung. Die neue Kommis-
sionspräsidentin, die am 1. November
ihre Arbeit aufnimmt, war acht Wochen
lang abgetaucht. Sie konsultierte sämtli-
che Regierungen, sammelte Namen und
Wünsche ein und ließ sich von Amtsinha-
ber Jean-Claude Juncker beraten. Am


Dienstag nahm sie sich dann zwei Stun-
den Zeit, um das Ergebnis vorzustellen.
Herausgekommen ist eine Struktur, die
es so noch nicht gegeben hat. Von Jun-
cker übernahm von der Leyen den „Clus-
ter“-Ansatz: Jeder Vizepräsident hat eine
übergreifende strategische Aufgabe und
koordiniert alle Kommissare, die damit
zu tun haben. Die Kommissare stehen
den jeweiligen Generaldirektionen vor,
dem großen Beamtenapparat; die Vize-
präsidenten können nur auf das kleinere

Generalsekretariat zurückgreifen. Unter
Juncker waren die Kommissare da meis-
tens im Vorteil. Deshalb nehmen die drei
herausgehobenen „Exekutiven Vizepräsi-
denten“ Valdis Dombrovskis, Frans Tim-
mermans und Margrethe Vestager künf-
tig außerdem die Aufgabe eines Kommis-
sars wahr – ein Experiment.
Von der Leyen musste ihr Team poli-
tisch und regional ausbalancieren. Jede
der drei großen Parteienfamilien stellt ei-
nen herausgehobenen Vizepräsidenten.

Mit dem Letten Dombrovskis rückt so
auch ein Osteuropäer auf diese Ebene,
nachdem die Gruppe der mittel- und ost-
europäischen Staaten bei der Postenverga-
be Mitte Juli leer ausgegangen war. Gelun-
gen ist der Präsidentin ein ausgewogenes
Geschlechterverhältnis. Mit ihr sind es 13
Frauen und 14 Männer – derzeit sind es
nur neun Frauen. Das Europäische Parla-
ment muss der Kommission zustimmen
und wird von Ende des Monats an alle An-
wärter Anhörungen unterziehen. (T.G.)

Fotos AFP (4), dpa (6), EC, EPA (6), Getty, Picture Alliance (5), Reuters (4), Plaven Stoimonov

Die weiteren


Mitglieder


im Team von


der Leyens


Phil Hogan Paolo Gentiloni


Ein ausbalanciertes Kollegium


Frans Timmermans Margrethe Vestager Valdis Dombrovskis


Josep Borrell Sylvie Goulard


Ursula von der Leyen


Politik


Die Kommissare Kadri Simson (Estland; Energie), Virginijus Sinkevičius (Litauen; Umwelt), László Trócsányi (Ungarn; Erweiterung), Jutta Urpilainen (Finnland; internatio-
nale Partnerschaften), Janusz Wojciechowski (Polen; Landwirtschaft) und Ylva Johansson (Schweden; Inneres). Bislang keinen Kommissar nominiert hat Großbritannien.


Die Kommissare Marija Gabriel (Bulgarien; Innovation und Jugend), Johannes Hahn (Österreich; Haushalt), Stella Kyriakides (Zypern; Gesundheit), Janez Lenarčič(Slowe-
nien; Krisenmanagement), Rovana Plumb (Rumänien; Verkehr), Didier Reynders (Belgien; Justiz und Rechtsstaatlichkeit) und Nicolas Schmit (Luxemburg; Beschäftigung)


Zu den Beiträgen über die Abwicklung
von hr2-kultur: Seit den Tagen des legen-
dären Abendstudios unter Alfred An-
dersch und danach Heinz Friedrich und
anderen ist mir das Kulturprogramm des
Hessischen Rundfunks bekannt und seit
ich es als Livestream im Internet empfan-
gen kann, lieb und vertraut geworden. Die
Ausgewogenheit von Wort und Musik, die
Breite und Tiefe der Berichterstattung zur
politischen, sozialen und kulturellen Situa-
tion in Deutschland, Europa und der Welt
ist beispielhaft und maßstabsetzend.
Nun soll dieser Leuchtturm unter den
auditiven Medien zerschlagen werden:
Die Musik soll als Dauerberieselung ähn-
lich wie der seichte kommerzielle Klassik-
sender und BR-Klassik zur Ergötzung ei-
nes noch von Spotify, Amazon Music un-
ter anderen Streamingdiensten zu gewin-

nenden jugendlichen Publikums als hr
weiter verbreitet und die Wortbeiträge in
irgendeine Cloud ausgelagert werden, in
der sie nur wenige Kundige – ganz gewiss
nicht die Älteren – finden, zur Quote un-
wesentlich beitragen und schließlich ganz
entsorgt werden. Wie passt das zusammen
mit dem vom BVerfG geforderten Auftrag
an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
zur Demokratiebildung?
In der F.A.Z. vom 29. August hat Bun-
desminister Peter Altmaier in einem sehr
bedenkenswerten Beitrag zur Bürgerli-
chen Moderne die Re-Institutionalisie-
rung des gedruckten Buches als bürgerli-
ches Leitmedium gefordert. Was tut dage-
gen das Leitungsgremium des Hessischen
Rundfunks? Es wickelt ein zweites Leitme-
dium ab – welch Widersinn!
DIETER KRAFT, WEßLING

Leser Dr. Wolfgang Wagner behauptet in
der F.A.Z. vom 20. August: „Eine Religi-
on zu studieren, um Lehrer zu werden, ist
leicht. Man muss nur alles nachbeten,
ohne es glauben zu müssen.“ Pfarrer,
Priester oder Theologe zu werden sei
schwer, denn man müsse alles glauben,
was man verkünde. Ganz so verhält es
sich nicht. Ein christlicher Religions-
lehrer in unserem Lande besitzt entwe-
der die Mission, den katholischen Lehr-
auftrag oder die Vocatio, die evangeli-
sche Berufung. Beides ist ein Sendungs-
auftrag, den jeweiligen Glauben zu leh-
ren. Der Vergleich mit einem Politiker
liegt nahe, der im Namen und für seine
Partei spricht. Man erwartet von ihm,
dass er das Programm seiner Partei ver-
kündet, erklärt und Nachfragen beant-
wortet. Glaubwürdigkeit ist das Maß al-

ler Dinge. Das „Volk“ spürt schnell, ob
Mann oder Frau hinter dem Gesagten
steht oder nur Phrasen drischt. So spüren
die Schüler auch auf sensible Art ihrer
Wahrnehmung, ob das, was der Religions-
lehrer erzählt, gespeist ist aus seinem ei-
genen Glauben oder ob er nur „nachbe-
tet“. Daher möchte ich als ehemalige
auch Religionslehrerin behaupten, dass
Religion das schwierigste Unterrichts-
fach in der Schule ist, denn: Der/die
Religionslehrer/in muss abwägen, was er/
sie sagt; ob es trägt, oft durch ein ganzes
Leben, weil nicht selten niemand da ist,
der den Kinderglauben zurechtrückt,
weil mitunter Pfarrer oder Priester selbst
ihren nicht nachvollziehbaren immanen-
ten Glauben nicht transzendieren kön-
nen.
SIGRID HORNUNG-GILBERT, BAD SCHWALBACH

In der Rede, die Bundespräsident Stein-
meier aus Anlass des 80. Jahrestags des
Kriegsausbruchs gehalten hat („Bundes-
präsident Frank-Walter Steinmeier bei der
Gedenkfeier der Republik Polen zum


  1. Jahrestag des Kriegsbeginns ,Euer
    Geist der Versöhnung hat uns den Neube-
    ginn geschenkt‘, F.A.Z. vom 2. Septem-
    ber), kommt das Wort „Vertreibung“ nicht
    vor.
    Diejenigen, die nach den Gefallenen
    und den Bombenopfern mit der entschädi-
    gungslosen Enteignung ihres Vermögens,
    der Vertreibung aus ihrer Heimat und
    auch mit ihrem Leben den höchsten Preis
    für den von Adolf Hitler angezettelten
    Krieg bezahlt haben, sind dem Bundesprä-
    sidenten aus diesem Anlass nicht einmal
    eine Erwähnung wert, von der Verantwor-
    tung Polens für die Vertreibung ganz zu
    schweigen. Es mag politisch korrekt sein,
    die deutschen Opfer von Flucht und Ver-
    treibung von einem solchen Gedenken
    auszuschließen, echte Versöhnung kann


dadurch aber nicht entstehen. Denn gera-
de für die sehr nationalbewussten Polen
wäre es unvorstellbar, dass ein polnischer
Staatspräsident in einer vergleichbaren
Lage die Opfer seines Volkes verschweigt.
Ich befürchte deswegen, dass sie für
ein solches selektives Gedenken nicht
nur kein Verständnis haben werden, son-
dern nur Verachtung empfinden. Vor die-
sem Hintergrund müssen ihnen die in ih-
rer Zerknirschung kaum steigerungsfähi-
gen Beteuerungen des Bundespräsiden-
ten unaufrichtig und damit auch unglaub-
würdig erscheinen. Die noch lebenden
Vertriebenen mussten sich in der Vergan-
genheit mit dem Verlust ihrer Heimat ab-
finden, sie werden es auch in Zukunft bei
Veranstaltungen mit Polen hinnehmen
müssen, dass jeder Hinweis auf ihr
Schicksal verboten bleibt, aus der Angst,
die Kriegsschuld würde relativiert und
der Versöhnungsprozess dadurch gefähr-
det werden.
HANS GEORG BACHMANN, BONN

Briefe an die Herausgeber


Zum Artikel „Das Volk soll selbst nach
Gewalt schreien“ von Daniel Brewing
(F.A.Z. vom 2. September). Daniel Bre-
wing ist sehr zu danken, dass er anders
als viele einschlägige Beiträge nicht ver-
schweigt, dass es in den Tagen nach
Kriegsbeginn massive Ausschreitungen
gegen die deutsche Minderheit in Polen
gab. Die von ihm genannte Zahl von
rund 4500 ermordeten Volksdeutschen
wird auch in anderen Publikationen ge-
nannt. Dazu gehörte der einzige Bruder
meines Vaters, ein Posener Friedhofsgärt-
ner, der auf einen Verschleppungs-
marsch gezwungen wurde, in dessen Ver-

lauf er und viele andere den Tod fanden.
Ebenso zwei Brüder meiner Mutter, die
vom elterlichen Bauernhof abgeholt und
im nächsten Wald ermordet wurden.
Diese Männer waren loyale Bürger der
Republik Polen, sie hatten ihre staatsbür-
gerlichen Pflichten erfüllt, vor allem in
der polnischen Armee ihren Wehrdienst
geleistet. Die von Brewing erwähnte
Stadt Bromberg spielt in unserer Familie
eine besondere Rolle, weil meine Eltern
die Massaker an Hunderten Deutschen
in einem Luftschutzbunker versteckt
überlebt haben.
KLAUS PFEIFFER, BERLIN

Leser Professor Enno Bünz erinnert in
seinem Leserbrief „Wie im Freistaat Bay-
ern“ (F.A.Z. vom 4. September) daran,
„dass sich der neubegründete Freistaat
Sachsen in vielerlei Hinsicht an den
Verhältnissen im Freistaat Bayern orien-
tiert hat“. Im Frühsommer 1990 suchte
mich Erich Iltgen in seiner Position als
Vorsitzender des sogenannten Runden
Tisches in Dresden, begleitet von einer
von ihm als Protokolldame vorgestellten
Mitarbeiterin und selbst locker gekleidet
im Rollkragenpullover, im Bayerischen
Landtag auf. Ihm ging es darum, sich bei
mir als Direktor des Landtags kundig zu
machen über die gesetzlichen Grund-
lagen, die Funktionsweise und die
mannigfachen Probleme, die sich vor al-
lem in der ersten Phase nach der Konsti-
tuierung des neuen Landtags ergeben
könnten.
Es war ein langes und sehr freund-
schaftlich geführtes Gespräch. Er bat
mich dann noch um die einschlägigen Ge-
setze und Vorschriften, ich gab ihm Baye-
rische Verfassung, Abgeordnetengesetz,
Geschäftsordnung und weitere Vorschrif-
ten mit, um die er gebeten hatte, und er-

läuterte ihm auf seinen Wunsch hin die
Praxis im Ausschusswesen. Danach führ-
te ich ihn und die Protokolldame durch
Münchens Innenstadt, den Besuch des
Viktualienmarkts hat er sich ausdrück-
lich erbeten. In Erinnerung ist mir, dass
ihn das große und vielfältige Angebot an
Obst und Gemüse besonders beeindruck-
te, was ihn zu der Bemerkung veranlass-
te, so viel sei doch gar nicht nötig, weni-
ger wäre auch ausreichend.
Erich Iltgen kam nach der Sommerpau-
se abermals zu mir in den Landtag. Da
waren seine Fragen schon sehr konkret,
und es war zu spüren, dass er eine Spit-
zenposition im neuen Landtag in Be-
tracht gezogen hatte. Ich bin dann für
den 27. Oktober 1990 zur konstituieren-
den Sitzung eingeladen worden, in dieser
wurde er zum Präsidenten des Landtags
gewählt. Es war eine Sitzung, die Emotio-
nen auslöste. Nicht zuletzt, als Kurt Bie-
denkopf zum Ministerpräsidenten ge-
wählt wurde, der nach der Sitzung zu sei-
nem vor mir in der ersten Reihe sitzen-
den alten Vater zuging, der aufstand, ihn
liebevoll umarmte und gratulierte: „Bub,
wir haben’s geschafft.“
HARRY ANDREAS KREMER, PULLACH

Leitmedium Buch und Rundfunk


Zum Beitrag „Ist das Kulturfunk, oder
kann – Sie wissen schon! Stimmen von
Kulturschaffenden haben wir gehört, wei-
tere werden folgen, doch was sagt die Poli-
tik zur geplanten ,Reform‘ von hr2?“
(F.A.Z. vom 22. August): Danke, liebe
F.A.Z., für diese Berichte! Ich hoffe von
ganzem Herzen, dass sie dazu beitragen,
hr2 in der von mir (von vielen) geschätz-

ten Form zu erhalten. Hoffentlich beein-
flussen Petition und Beiträge wie diese die
MitgliederInnen des Rundfunkrats. Ma-
chen Sie, liebe F.A.Z., denen doch bitte
„die Hölle heiß“. Mein langjähriges
F.A.Z.-Abonnement ist gut angelegt, über
Rundfunkgebühren würde ich (wenn ich
denn könnte) gerne nachdenken.
STEPHANIE TYSZAK, LANGEN

Das verschwiegene Schicksal der Vertriebenen


Ausschreitungen gegen die deutsche Minderheit


Wir haben’s geschafft


Machen Sie denen die Hölle heiß!


Religion ist das schwierigste Fach

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