Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.09.2019

(ff) #1

SEITE 8·MITTWOCH, 11. SEPTEMBER 2019·NR. 211 Zeitgeschehen FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


E


s scheint sich eine Gesetzmäßig-
keit zu etablieren, nach welcher
rund um Wahlen in Österreich
Bücher über Sebastian Kurz erscheinen.
Und zwar im Doppelpack: eines, das
den Chef der christdemokratischen
ÖVP in einem ungünstigen, und eines,
das ihn in einem günstigen Licht be-
trachtet. So war es 2017/18 mit den
Kurz-Biographien von Barbara Tóth
und Nina Horaczek einerseits und von
Paul Ronzheimer andererseits. So ist es
in diesem Sommer zwischen Ibiza und
Neuwahl mit Helmut Brandstätters
„Kurz & Kickl“ und Judith Grohmanns
„offizieller Biografie“. Vier Bücher über
einen Dreiunddreißigjährigen, das ist
schon was. Messi und Ronaldo, ähnlich
alt, haben jeder nur drei.
Das Offizielle an Grohmanns Buch
besteht darin, dass Kurz, einige seiner
engen Mitarbeiter und auch seine El-
tern für Interviews zur Verfügung stan-
den. Kurz hat auch, wie die Autorin auf
Nachfrage bestätigt, den Text vorab zu
lesen bekommen. Dem Gedanken, dass
es sich um eine Auftragsarbeit handeln
könnte, tritt sie in ihrem Nachwort ent-
gegen: Sie sei es gewesen, die mit dem
Vorschlag auf Kurz zugegangen sei.
Dass sie dem Gegenstand ihrer Darstel-
lung wohlgesonnen ist, daraus macht
sie aber kein Hehl. In einer Einleitung
schildert sie merkwürdig ungelenk eine
erste, wortlose Begegnung mit Kurz, da-
mals Außenminister, wie er versonnen
ins Leere blickend von der Herbstsonne
beschienen wird.

Wegen solcher Passagen in dem
Buch, das jetzt gerade noch rechtzeitig
vor der Wahl Ende September in den
Handel kommt, ist seine Autorin bereits
mit einer Flut an Hohn und Kritik be-
dacht worden. Ihre Distanzlosigkeit be-
sonders auf den ersten Seiten lädt dazu
ein. Doch wird man den Gedanken
nicht los, dass die Kübel, die vor allem
in der schicken Twitteria ausgegossen
werden, eigentlich auf Kurz selbst zie-
len. So war es schon, als der ÖVP-Politi-
ker auf einer Veranstaltung eines evan-
gelikalen Predigers über den grünen
Klee gelobt wurde. Als ob Sozialdemo-
kraten auf Gewerkschaftskongressen
oder Grüne vor Biobauern im Wahl-
kampf ausgebuht würden.
Über weite Strecken ist das Buch eine
mit Fleiß zusammengetragene Chrono-
logie des politischen Handelns von
Kurz, gespeist aus dem Archiv sowie ei-
ner Reihe von Interviews mit (durchaus
auch kritischen) Beobachtern, Beglei-
tern und auch auswärtigen Staatsmän-
nern. Wer wissen möchte, was Kurz auf
der politischen Bühne als Staatssekre-
tär, als Außenminister und als Bundes-
kanzler gesagt und getan hat, wird bei
Grohmann fündig werden.
Im gleichen Maß, in dem das Pendel
dort für Kurz ausschlägt, schwingt es
bei Brandstätter gegen ihn. Der frühere
Herausgeber der Tageszeitung „Kurier“
scheint Kurz tief zu verachten, das trieft
aus fast jeder Seite über ihn. Politiker
wie Kurz hätten „nur wenige Überzeu-
gungen, aber umso mehr Machtbewusst-

sein“, schreibt Brandstätter. Sein bei der
Jungen ÖVP erlerntes Politikverständ-
nis beruhe auf „Organisation, Abhängig-
keiten und natürlich auch Inszenie-
rung“ statt auf Bildung und Prinzipien.
Das Buch ist keine Biographie, son-
dern stellt die gut 500 Tage der „türkis-
blauen“ Regierung als, wie der Titel
sagt, System „Kurz & Kickl“ dar. Her-
bert Kickl war Innenminister im Kabi-
nett Kurz und wird von Brandstätter als
„Mastermind“ dargestellt. Bezogen auf
die FPÖ ist diese Darstellung verbreitet.
Kickl war viele Jahre Generalsekretär
der Partei, er lieferte einst schon Jörg
Haider unappetitliche Parolen und zog
nach Spaltung und Neuaufbau der FPÖ
hinter dem Vorsitzenden Heinz-Christi-
an Strache die Fäden. Im FPÖ-Teil der
Regierung war es nicht von ungefähr
Kickl, der das einflussreiche, aber auch
komplizierte Innenministerium über-
nahm, während Strache sich zwar Vize-
kanzler nennen durfte, aber inhaltlich
nur für Beamte und Sport zuständig
war. Nach Brandstätters Interpretation
war Kickl aber in der ganzen Regierung
der maßgebliche Strippenzieher. Kurz
war es demnach nur um Macht und Pos-
ten zu tun, inhaltlich war Brandstätters
Kurz Wachs in Kickls Händen.
Nun ist Kurz zweifellos ein sehr
machtbewusster Pragmatiker. Ihm aber
Prinzipien und inhaltlichen Gestaltungs-
willen rundweg abzusprechen, ist
schlicht Polemik. Das ist in einer Streit-
schrift wie dieser, die Brandstätter sich
von der Seele geschrieben hat, ein Stil-

mittel. Es würzt, aber führt nicht sehr
weit. Dabei hat der Autor durchaus Wis-
senswertes und so noch nicht Dargestell-
tes zu erzählen. Etwa über Kurz’ An-
wandlung, zusammen mit den Neos
eine Bewegung à la Macron zu bilden,
ehe er dann doch die ÖVP-Spitze über-
nahm und die Partei auf Türkis umfärb-
te. Brandstätter berichtet über subtilen
bis hin zu angeblich „brutalen“ Druck
von Kurz’ Mannen auf Medien; inwie-
weit da eine Wechselwirkung mit seiner
eigenen Ablösung als Chefredakteur im
Jahr 2018 besteht, bleibt dahingestellt.
Wie die Regierung Kurz von der SPÖ-ge-
führten Stadt Wien die Methode der „In-
seratenkorruption“ insbesondere von
Boulevardmedien adaptierte, wird zu
Recht angeklagt – auch wenn es der Au-
tor offensichtlich aus Sorge vor einer
Klage an den entscheidenden Stellen
beim Raunen belässt, statt Klartext zu
schreiben. Auch Brandstätter bedient
sich reichlich aus dem Archiv, aber nur
an seinen eigenen Leitartikeln. Nach
Vorstellung seines Buches hat er sich
den liberalen Neos angeschlossen und
wurde auf die Liste für die Wahl gesetzt.
Was die Kurz-Bücher im Doppelpack
betrifft, so zeigen sie jedenfalls eines:
Der höfliche, immer noch junge Politi-
ker polarisiert, und zwar mit der Zeit im-
mer mehr. STEPHAN LÖWENSTEIN
Judith Grohmann: Sebastian Kurz. Die offizielle
Biografie.Finanzbuchverlag, München 2019.
250 S., 24,99 €.
Helmut Brandstätter: Kurz & Kickl. Ihr Spiel mit
Macht und Angst.Verlag Kremayr & Scheriau,
Wien 2019. 206 S., 22,- €.

E


rinnert sich noch jemand an Leo-
nid Breschnew? Der Parteichef
der Sowjetunion erfand in den sechzi-
ger Jahren eine nach ihm benannte
Doktrin, wonach die Ostblockländer
nur eingeschränkt souverän seien. Die
Volksrepublik China, die den allergröß-
ten Wert auf ihre Souveränität legt, ist
in dieser Hinsicht bei anderen Län-
dern nicht so festgelegt. Peking möch-
te zum Beispiel bestimmen, mit wem
sich der deutsche Außenminister tref-
fen darf. Heiko Maas wird im Befehls-
ton mitgeteilt, dass sein Gespräch mit
dem Hongkonger Bürgerrechtler Jo-
shua Wong ein „Akt der Respektlosig-
keit“ gegenüber China gewesen sei.
Ähnliches hat die Bundeskanzlerin vor
Jahren zu hören bekommen, als sie
den Dalai Lama traf. Man könnte das
alles mit der gebotenen Gelassenheit
zur Kenntnis nehmen, wenn nicht die
Gefahr bestünde, dass das chinesische
Herrschergebaren Wirkung zeigt. An-
gela Merkel hat von weiteren Treffen
mit dem Dalai Lama jedenfalls Ab-
stand genommen. Wird sich das jetzt
im Falle Hongkongs wiederholen? Das
wäre dann wirklich die Wiederbele-
bung der Breschnew-Doktrin. pes.


D


ie Entlassung von John Bolton,
Trumps drittem Sicherheitsbera-
ter, lag lange in der Luft. Zwar pflegen
beide Männer eine harte Sprache und
teilen den Abscheu für alles Multilatera-
le. Doch ansonsten sind sie eher wie
Feuer und Wasser. Ob der Präsident in
letzter Minute einen Militärschlag ge-
gen Iran absagte oder Putin umschmei-
chelte, ob er „spontan“ mit dem Dikta-
tor Kim Jong-un nordkoreanischen Bo-
den betrat oder ob er führende Taliban
nach Camp David einlud – Trumps Im-
pulse liefen Boltons beinhartem Realis-
mus zuwider. Trump hat Bolton oft als
Kriegstreiber verspottet; und der war
mit gutem Grund als solcher gefürchtet.
Viele derjenigen, die bei Boltons Ernen-
nung Schlimmstes ahnten, könnten nun
freilich feststellen, dass sie ihn noch ver-
missen werden – als Korrektiv, wenn
Trump Gefahr läuft, sich in kindischem
Vertrauen auf sein Verhandlungsge-
schick von Amerikas Feinden über den
Tisch ziehen zu lassen. Boltons Ab-
schied bedeutet zunächst einen weite-
ren Machtzuwachs für den ehrgeizigen
Außenminister Pompeo. Der redet dem
Präsidenten viel bereitwilliger nach
dem Munde. anr.


D


ie gewählte Präsidentin der künfti-
gen EU-Kommission, Ursula von
der Leyen, hat viel vor. Nicht zuletzt die
Rolle der EU in der Welt will sie schär-
fen und stärken: Die Union muss ihre
Interessen wahren und gegen andere
Mächte durchsetzen können. Auch die
Bürger wollen das, die laut einer neuen
Umfrage nichts gegen „eine Zentralisie-
rung der Macht in Schlüsselbereichen“
haben, solange diese Macht kompetent
und effizient ausgeübt werde. Ange-
sichts globaler Veränderungen und der
Unberechenbarkeit maßgeblicher Ak-
teure ist das eine vernünftige Haltung.
Allerdings schlagen die allianzpoliti-
schen Kosten von Politik, Stil und Rhe-
torik der Regierung Trump mittlerwei-
le voll durch: In Deutschland trauen
nur drei Prozent der Befragten Donald
Trump. Im Falle eines Konflikts zwi-
schen Washington und Moskau wollen
Mehrheiten in vielen Ländern, dass die
EU neutral bleibt. Neutralität soll sie
auch wahren, falls Washington und Pe-
king aneinandergerieten. Trump treibt
Europa von Amerika weg – und be-
treibt so das Geschäft Russlands und
Chinas. Äquidistanz aber kann es für
die neue Kommission nicht geben. K.F.


Es ist nicht so, dass Cem Özdemir mit
Frauen nicht könnte. Doch die Kämp-
fe, die sich der Grünen-Politiker mit Si-
mone Peter an der Spitze der Partei lie-
ferte, haben ihm den Ruf eingebracht,
es den Frauen an seiner Seite – die bei
den Grünen ja stets die Nummer eins
sind, jedenfalls in der Theorie – nicht
leichtzumachen. Kirsten Kappert-
Gonther hat sich davon nicht abschre-
cken lassen. Die Bundestagsabgeordne-
te aus Bremen will mit Özdemir zusam-
men um die Fraktionsführung im Bun-
destag kämpfen, die am 24. September
gewählt wird. Mit dieser Entscheidung
hat sie auch viele ihrer Parteifreunde
überrascht.
Kappert-Gonther, 52 Jahre alt, sitzt
noch nicht einmal zwei Jahre im Bun-
destag. Sie ist seitdem Sprecherin der
Parteilinken, fiel damit aber nicht son-
derlich auf. Sie konzentrierte sich vor
allem auf ihre Themen: die Gesund-
heits- und Drogenpolitik. Hier hat die
promovierte Fachärztin für Psychiatrie
und Psychotherapie etwas zu sagen.
Sie war ärztliche Leiterin einer Rehabi-
litationsklinik für psychisch Kranke in
Gütersloh, baute eine psychiatrische
Ambulanz in Bremen auf und führte
bis zu ihrem Einzug in den Bundestag
eine eigene Praxis für Psychotherapie.
Kappert-Gonther kann sehr unterhalt-
sam von männlichen Arztkollegen er-
zählen, die versucht hätten, ihr die
Welt zu erklären, und davon, wie sie
sich dagegen zur Wehr gesetzt habe.
Ein selbstbewusster Auftritt wird nö-
tig sein, wenn sie den Verdacht einiger
Parteilinker ausräumen will, lediglich
Steigbügelhalterin für den ambitionier-
ten Özdemir zu sein, einen Oberrealo.
Über Anton Hofreiter, der an der Seite
von Katrin Göring-Eckardt gerne Frak-
tionsvorsitzender bleiben würde, wird
zwar auch unter linken Grünen geläs-
tert, doch man attestiert ihm, dass er
ihre Themen immer wieder nach vor-
ne bringt. Die beiden Parteivorsitzen-
den Annalena Baerbock und Robert
Habeck gehören schon dem Realo-Flü-
gel an. Die Parteilinke fürchtet, weiter
marginalisiert zu werden, wenn der Po-
litpromi Özdemir auch noch die Frakti-
onsspitze dominieren würde.
Zu den Grünen kam Kappert-Gon-
ther im Alter von 35 Jahren, als ihre
zwei Kinder aus dem Gröbsten raus wa-
ren. Nach einigen Jahren im Stadtteil-
parlament wurde die gebürtige Marbur-
gerin Mitglied der Bremischen Bürger-
schaft. Kaum dort angekommen, woll-
te sie eigentlich gern schon weiterzie-
hen, in den Bundestag. Auch damals
schon hatte sie keine Angst vor einer
Kampfkandidatur gegen eine erfahre-
ne Kollegin: Ihre damalige Kontrahen-
tin war Marieluise Beck. 2013 verlor
sie die parteiinterne Abstimmung
knapp, vier Jahre später setzte sie sich
durch. Im Frühjahr verhandelte sie für
die Grünen in Bremen über den rot-
grün-roten Koalitionsvertrag.
Einmal konnte man Kappert-Gon-
ther und Özdemir schon Seite an Seite
sehen. Vor gut einem Monat warben
sie in einem gemeinsamen Video für
die kontrollierte Freigabe von Hanf. Ei-
nig sind sie sich auch darin, dass eine
neue Führung die Fraktion mehr zum
Glänzen bringen könnte. Die Grünen
allerdings glänzen in Wahlen und Um-
fragen erst, seitdem es keinen Streit
mehr gibt. HELENE BUBROWSKI

Wie bei Breschnew?


KirstenKAPPERT-GONTHER
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D


ie „schwarze Null“ ist nichts Magi-
sches – sondern erst einmal grund-
sätzlich Pflicht. Es steht nicht im
Belieben der Politik, neue Schulden zu
machen. Da ist das Grundgesetz vor: Die
Haushalte von Bund und Ländern sind
grundsätzlich ohne Einnahmen aus Kredi-
ten auszugleichen. Und gemeinsam müs-
sen Bund und Länder die europäischen
Verpflichtungen Deutschlands erfüllen.
Die deutsche Verfassung nennt nach dem
Grundsatz die Ausnahme – sie bestimmt,
dass Bund und Länder „Regelungen zur
im Auf- und Abschwung symmetrischen
Berücksichtigung der Auswirkungen ei-
ner von der Normallage abweichenden
konjunkturellen Entwicklung sowie eine
Ausnahmeregelung für Naturkatastro-
phen oder außergewöhnliche Notsituatio-
nen, die sich der Kontrolle des Staates ent-
ziehen und die staatliche Finanzlage er-
heblich beeinträchtigen, vorsehen“ kön-
nen. Die Einnahmen aus Krediten dürfen
„0,35 vom Hundert im Verhältnis zum no-
minalen Bruttoinlandsprodukt nicht über-
schreiten“.
Auch wenn „schwarze Null“ und
„Schuldenbremse“ keine Synonyme sind,
so hat doch die 2009 beschlossene Rege-
lung dazu beigetragen, dass seit 2014 im
Bund ausgeglichene Haushalte vorgelegt
wurden. Das war zur Zeit der davor gelten-
den Schuldenbremse noch anders – auch
wenn schon damals die Intention des Ver-
fassungsgebers klar war. Die alte Rege-
lung lautete: „Die Einnahmen aus Kredi-
ten dürfen die Summe der im Haushalts-
plan veranschlagten Ausgaben für Investi-
tionen nicht überschreiten; Ausnahmen
sind nur zulässig zur Abwehr einer Stö-
rung des gesamtwirtschaftlichen Gleich-
gewichts.“ Dazu entschied das Bundesver-
fassungsgericht 2007, dies habe sich „in
der Realität nicht als wirksam erwiesen“.
Es ging damals um den rot-grünen Haus-
halt des Jahres 2004: Die Mehrheit der
Richter sprach von einer nachvollziehba-
ren und vertretbaren Entscheidung des
damaligen rot-grünen Haushaltsgesetzge-
bers, die Richter Udo Di Fabio und Ru-
dolf Mellinghoff dagegen sahen das Ge-
richt in der Pflicht, Maßgaben aufzustel-
len, wie der Bund wieder zu einer ausge-
glichenen Haushaltswirtschaft zurückkeh-
ren könne. Die Verfassungsreform von
1969 sei keineswegs eine gesetzgeberi-
sche Fehlleistung gewesen, vielmehr müs-

se diese Norm auch mit Blick auf den Wil-
len des damaligen Verfassungsgesetzge-
bers ausgelegt werden. „Eine unkontrol-
lierte Talfahrt öffentlicher Finanz- und
Haushaltswirtschaft kann nicht so sehr
durch rechtspolitische Forderungen nach
besseren Bremsen verlangsamt werden,
sondern zuallererst durch die Betätigung
der vorhandenen Bremsen.“
Und wann, so kann man auch heute
wieder fragen, soll man die Bremsen betä-
tigen, wenn nicht zu einem Zeitpunkt, da
die staatlichen Einnahmen fließen?
Schließlich hatte die staatliche Verschul-
dungspolitik seit der Finanzreform 1967/
1969 praktisch durchgehend zu neuen
Schulden geführt. Die Große Koalition
hatte die Verfassung 1967 geändert, weil
es zuvor eine Deckungslücke im Haushalt
von nur vier Milliarden Mark gegeben hat-
te. Schon damals wurde vor Weimarer
Verhältnissen gewarnt. Deshalb sollte es

nur im Fall einer echten Rezession eine
Ausnahme von der Kreditbegrenzung
durch echte Investitionen geben; wäh-
rend konjunktureller Erholung – so die
Vorstellung – sollten die Schulden dann
zurückgeführt werden. Das wurde Ende
der sechziger Jahre auch noch eingehal-
ten. Doch dann finanzierte der Staat im-
mer neue Leistungen über eine größere
Verschuldung.
Und das Dilemma auch noch im Jahr
2004 war eben der enorme Schulden-
stand des Bundes – eine Folge der jahr-
zehntelangen Missachtung der Verfas-
sung. Der Gesetzgeber, so folgerte die Se-
natsminderheit, sei seiner Aufgabe, mit
der Verschuldensgrenze „verantwortlich
und verfassungsgemäß umzugehen, nicht
gerecht geworden“. Werde in einer sol-
chen Lage das Bundesverfassungsgericht
angerufen, so müsse es sicherstellen, dass
die zentralen Vorschriften für eine solide

Haushaltswirtschaft befolgt würden,
„auch mit Maßgaben, Übergangsregelun-
gen und Fristsetzungen“.
Heute gibt es eine neue Regelung. Aber
auch sie muss verteidigt werden. Das gilt
auch mit Blick auf die Europäische Uni-
on. Was hilft eine deutsche Schulden-
bremse, wenn europäische Schulden ver-
gemeinschaftet werden? Das Bundesver-
fassungsgericht hatte im September 2012
im Verfahren zum Ankauf von Staatsan-
leihen durch die Europäische Zentral-
bank zur Euro-Rettung an das demokrati-
sche Prinzip erinnert: Das Grundgesetz
fordere, dass die Entscheidung über Ein-
nahmen und Ausgaben der öffentlichen
Hand als grundlegender Teil der demokra-
tischen Selbstgestaltungsfähigkeit in der
Hand des Bundestages verbleibe. Auch in
einem System intergouvernementalen Re-
gierens müssen demnach die Abgeordne-
ten die Kontrolle über fundamentale haus-
haltspolitische Entscheidungen behalten.
Deshalb darf das Parlament nicht „finanz-
wirksame Mechanismen“ begründen, die
zu „nicht überschaubaren haushaltsbe-
deutsamen Belastungen ohne erneute
konstitutive Zustimmung des Bundesta-
ges führen können“. Der Bundestag darf
auch nicht Mechanismen etablieren, die
auf eine unkalkulierbare Haftungsüber-
nahme für Willensentscheidungen ande-
rer Staaten hinauslaufen. Auch jede soli-
darische Hilfsmaßnahme größeren Um-
fangs muss vom Bundestag bewilligt wer-
den.
Natürlich sollen die Vorgaben des
Grundgesetzes nicht den Fortschritt und
Investitionen verhindern. Die Politik
muss flexibel bleiben. Die darf auch nicht
aus Karlsruhe kommen. Aber gerade des-
halb lässt die Verfassung ja Ausnahmen
zu – die freilich auch solche bleiben müs-
sen.
In der Schuldenbremse, in der deut-
schen Finanzverfassung ist das Nachhal-
tigkeitsprinzip gleichsam schon veran-
kert. Auch wer den Klimaschutz als Staats-
ziel in die Verfassung aufnimmt, wird
sich Gedanken über dessen Finanzierung
machen müssen. Natürlich könnte ein ver-
fassungsändernder Gesetzgeber auch die
Schuldenbremse lockern. Wenn man aber
bedenkt, dass sie in Deutschland und Eu-
ropa ihre Wirkung durchaus nicht ver-
fehlt hat, so wäre das jedenfalls kein Bei-
trag zur Nachhaltigkeit.

Trump ohne Bolton


Eine Hagiographie und ein Verriss


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Stark – und neutral?


Die Pflicht zur schwarzen Null


Schuldenmachen steht nicht im Belieben der Politik, sondern ist auch eine Verfassungsfrage / Von Reinhard Müller


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