Blickpunkt Film - 09.09.2019

(coco) #1

EDITORIAL


THOMAS SCHULTZE Chefredakteur


EDITORIAL


Die aus der Geschichte


nicht gelernt haben...


A


ls im Jahr 2005 bei der
Pressevorführung von
David Cronenbergs A
History of Violence in
Cannes ein paar Zu-
schauer ihrer Unbe-
holfenheit aufgrund der extremen Na-
tur der Bilder mit nervösem Gelächter
Luft machten, platzte einem Kollegen
der Kragen. Er sprang auf und brüllte:
»Stop laughing, this is a serious work of
art.« Bei der Presse konferenz am nächs-
ten Tag wurde Cronenberg gefragt, wie er
dazu stünde, wenn Menschen in seinem
Film lachten. Er schmunzelte und sag-
te, er habe damit kein Problem, er sehe
A History of Violence als Komödie. Man
wünschte sich, Cronenberg wäre auch
jetzt da, wo die Debatte, was ein Film zei-
gen darf, wieder loszubrechen scheint,
viele Jahre, nachdem man geglaubt hat-
te, diesen Streit endlich beigelegt zu ha-
ben (mit der künstlerischen Freiheit als
klaren Gewinner). Nach der Premiere
von Joker, sicherlich einer der extreme-
ren und ungewöhnlicheren Filme eines
Studios in den letzten Jahren, hört man
sie aber wieder, die Rufe: Der Film glo-
rifiziere den Bösewicht, er könnte denen
ein Vorbild sein, die dazu neigten, Amo-
kläufe oder Gewalttaten zu begehen.
Kurioserweise warf man das schon den
Filmen vor, auf die Todd Phillips’ Film
sich eindeutig bezieht: Taxi Driver und
King of Comedy. Tatsächlich behauptete
Reagan-Attentäter Hinckley 1981, er habe
sich mit Taxifahrer Travis Bickle identifi-
ziert, der einen Anschlag auf einen Poli-
tiker plant, nachdem ihn die Frau seiner
Träume abblitzen lässt, und mit seiner
Tat die Aufmerksamkeit von Taxi Driver-
Kostar Jodie Foster wecken wollen.
Inspiriert nun die Realität Filmema-
cher – oder ist es umgekehrt? »Filme er-
schaffen keine Psychos«, ließ Wes Craven
eine seiner Figuren in Scream sagen. »Sie

machen Psychos allenfalls kreativer.«
Wenn ein Mensch nicht mehr zwischen
Film und Realität unterscheiden kann,
muss davor schon etwas passiert sein,
das sein Urteilsvermögen getrübt hat. Na-
türlich erscheint es in diesen Tagen wie-
der einmal einfacher, mit dem Finger auf
Games und Filme zu deuten und sie zu
einfachen Schuldenböcken zu machen,
als sich mit komplexen Zusammenhän-
gen zu befassen. Was aktuell irritiert, ist
das Ausmaß der Hysterie, mit denen die
Diskussion geführt wird. Das mag speziell
in den USA mit der wachsenden Sorge um
immer häufiger stattfindende Amokläufe
und andere Gewaltakte zusammenhän-
gen. Aber wenn die letzte Hoffnung darin
besteht, potenzielle Massenmörder da-
mit besänftigen zu können, dass man ih-
nen einen Film wie Joker nicht zeigt,
dann können wir diese letzte Hoffnung
fahren lassen. Vielleicht trifft der Film ja
einfach nur einen Nerv, weil er so präzise
aufzeigt, wie sich Vigilantentum und des-
sen Verehrung hochschaukeln und einan-
der bedingen - gerade weil er uns tief
blicken lässt in einen zutiefst gestörten
Verstand und dabei immer noch einen
Menschen und kein Monster entdeckt.
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