Blickpunkt Film - 09.09.2019

(coco) #1
TERRA
INCOGNITA
Brad Pitt muss
in »Ad Astra«
buchstäblich ans
Äußerste gehen

ANBIETER
Fox
LAND/JAHR
USA 2019
LAUFZEIT
96 Min.
REGIE
James Gray
DARSTELLER
Brad Pitt, Tommy Lee
Jones, Ruth Negga,
Donald Sutherland,
Liv Tyler
D-START:


  1. September
    US-START:

  2. September
    FESTIVAL:
    Venedig, Wettbewerb


SCIENCE-FICTION


Ad Astra – Zu den Sternen Intelligente


Science-Fiction, in der Brad Pitt eine Reise


an den Rand des Sonnensystems antritt.


Z


um Glück gibt es sie noch, die
Regisseure, die nach den Sternen
greifen, die das Unmögliche
versuchen und Bilder suchen,
die man noch nicht gesehen hat,
damit wir uns als Menschen besser verste-
hen. James Gray, bekannt eher als (Quer-)
Denker des amerikanischen Kinos, aber
durchaus auch versiert in Fragen, wie man
Action und Bewegung atemberaubend in
Szene setzt, streckt sich gewaltig in seinem
bislang aufwändigsten Film, in den er fast
ein Jahr Postproduktion stecken musste,
damit seine Szenen in den endlosen Weiten
des Alls auch wirklich so gut aussehen, wie
es ein Publikum gewohnt ist, das von nicht
minder ambitionierten Filmen wie Gravity
oder Aufbruch zum Mond (beide in ihren
jeweiligen Jahrgängen ebenfalls im Wett-
bewerb von Venedig vertreten) beglückt
wurde. Die Anstrengungen haben sich ge-
lohnt. Natürlich spiegeln sich eher zereb-
rale Meisterwerke des Genres wie 2001 -

Odyssee im Weltraum oder Solaris in diesem
irren Trip an die äußeren Grenzen unserer
Sonnensystems, oder genauer gesagt: über
Zwischenstops auf dem Mond und dem
Mars zum Neptun, wider, aber Gray weiß
auch, dass man die nötigen Schauwerte
braucht, um das Publikum von heute für
sich zu gewinnen. Also gibt es eine Auto-
verfolgungsjagd auf der Oberfläche des
Mondes und einen extrem intensiven Mo-
ment an Bord eines norwegischen Raum-
transporters, dessen SOS-Signale nichts
Gutes versprechen. Und doch erhöht sich
der Pulsschlag des von Brad Pitt großartig
gespielten Roy McBride niemals über 80:
Er ist nicht cool. Er ist kalt, immer analy-
tisch und souverän. Weil er anders nicht
überleben könnte, seitdem die Familie 30
Jahre zuvor von Patriarch Clifford verlassen
wurde, der einer revolutionären Raummis-
sion den Vorzug gab, um intelligentes Le-
ben im Weltall zu finden. Nun scheint es,
als lebe Roys Vater immer noch und habe in

der Nähe des Neptun eine astrale Katastro-
phe ausgelöst, die auch alles Leben auf der
Erde bedroht. Roy soll den Vater, gespielt
von Space Cowboy Tommy Lee Jones, zum
Einlenken bringen. Die Action auf dem Weg
ist kein Selbstzweck, sondern bringt Roy
dazu, seine eigene Haltung zum Leben zu
überdenken und längst verloren geglaubte
Gefühle wieder zu entdecken. Die Reise ist
das Ziel: Je weiter sich Roy von der Erde -
»diese blaue Murmel«, wie Donald Suther-
land sie einmal nennt - entfernt, desto tie-
fer dringt er in sich selbst ein. Die eigene
Seele, sie ist der funkelndste aller Sterne,
die fremdeste aller Welten. Und ihre Erfor-
schung ist alle Strapazen wert: Dass man
auf dem Weg zu dieser einfachen Erkennt-
nis, die Allan C. Clarke einst formulierte
und James Gray überhaupt erst zu diesem
Film inspirierte, eine von umwerfend schö-
nen Bildern geprägte Variante von Apoca-
lypse Now erleben darf, in der General
Kurtz kein Fremder, sondern der Vater des
Mannes ist, der ihn aufstöbern soll, erhöht
die Fallhöhe der Geschichte ungemein. Weil
nichts faszinierender sein könnte, als das
Herz der Finsternis nicht nur zu suchen,
sondern auch zu finden.
THOMAS SCHULTZE
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