Die Welt - 09.09.2019

(C. Jardin) #1
Beim Renteneintritt ist noch Luft nach oben

Quelle: OECD

Effektives Renteneintrittsalter in Jahren, männliche Erwerbstätige

Japan

Norwegen

USA
Schweden

Deutschland
Polen
Frankreich

Finnland

       

  

Wo das Renteneintrittsalter noch steigt

Quelle: OECD

Aktuelles und zukünftiges gesetzliches Renteneintrittsalter für
Erwerbstätige, die mit �� in den Arbeitsmarkt eingetreten sind

Dänemark
Niederlande
Italien
USA
Norwegen
Schweden
Japan
Deutschland

Männer Frauen

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aktuell zukünftig an die Lebenserwartung geknüpft

Mit dem Alter steigt der Lohn

Quelle: OECD

Prognostizierter Einkommenszuwachs von �� auf �� Jahre Betriebs-
zugehörigkeit, für ��- bis ��-Jährige, in Prozent

Japan
Südkorea

USA

Schweden

Deutschland

Frankreich

Niederlande
Italien

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Im Alter sinkt die Weiterbildungsbereitschaft

Quelle: OECD

Anteil junger und älterer Arbeitnehmer, die an Weiterbildungsmaßnahmen
im Beruf teilnehmen, in Prozent

Italien

Dänemark

Norwegen

Schweden

USA

Deutschland

Japan

Frankreich

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D


ie Bevölkerung in
Deutschland altert ra-
sant. Die Fachkräftelücke
wächst bereits bedroh-
lich, während gleichzeitig
der zunehmende Anteil von Ruheständ-
lern die Sozialausgaben immer weiter in
die Höhe treibt. Und der demografische
Wandelwird in wenigen Jahren noch
gewaltig Fahrt aufnehmen, wenn ab
Mitte der 20er Jahre die geburtenstar-
ken Jahrgänge der Babyboomer in Rente
gehen. Ohne eine Verlängerung der Le-
bensarbeitszeit wird Deutschland die
demografische Herausforderung nicht
bewältigen können und infolgedessen
wirtschaftlich absteigen.

VON DOROTHEA SIEMS

Doch es gibt etliche Hindernisse, die
hierzulande das Arbeiten im Alter ge-
waltig erschweren, wie die neue Studie
der Industrieländerorganisation OECD
„Working better with Age“deutlich
macht. Das liegt nicht allein an der Ren-
tenpolitik der großen Koalition, son-
dern auch an den Arbeitgebern, den Ta-
rifparteien und den Beschäftigten
selbst. Viele Staaten wie die skandinavi-
schen Länder, die USA oder Japan sind
auf dem Weg zum Arbeiten im Alter
deshalb ein ganzes Stück weiter. Um die
Bundesregierung bei diesem Thema

endlich auf Trab zu bringen, hatte der
Verband der Jungen Unternehmerim
vergangenen Jahr eine eigene Renten-
kommission eingesetzt, die in der kom-
menden Woche ihre Reformvorschläge
dem Bundesarbeitsministerium überge-
ben wird. Den ausschließlich jungen Ex-
perten aus Wissenschaft, Unternehmen
und Politik geht es erklärtermaßen um
eine langfristige und generationenge-
rechte Stabilisierung der Alterssiche-
rung. Eine weitere Anhebung der Al-
tersgrenze über die 67 Jahre hinaus
steht dabei ganz oben in dem Forde-
rungskatalog, der WELT vorliegt.
Heute beziehen die Senioren im
Durchschnitt zwanzig Jahre lang Rente
und damit doppelt so lange wie in dies
in den 60er Jahren der Fall war. Weil die
Lebenserwartung weiter stetig steigt,
drohe sich die Rentenbezugsdauer bei
einem unveränderten Renteneintritts-
alter bis zum Jahre 2045 um weitere sie-
ben Jahre zu erhöhen, heißt es in dem
Papier. Eine Verlängerung der Lebens-
arbeitszeit sei daher unumgänglich.
„Kurzfristig muss die eingeführte ab-
schlagsfreie Rente mit 63abgeschafft
und die Rente mit 67 konsequent umge-
setzt werden“, fordert die Junge Ren-
tenkommission. „Der nächste Schritt
wäre ein Mechanismus, der den Renten-
eintritt an die Lebenserwartung an-
passt.“

Als Vorreiter nennt die Kommission
die Skandinavier. So hat Schweden be-
reits 1999 die Höhe der Rente an die bis
dahin gezahlten Beiträge und durch-
schnittliche Lebenserwartung des Ver-
sicherten gekoppelt. Mit ähnlichen Re-
formen zogen zunächst Norwegen im
Jahr 2011 und dann Finnland 2017 nach.
Die Experten schlagen für Deutsch-
land vor, dass jedes zusätzliche Jahr an
Lebenserwartung zu zwei Drittel zu ei-
ner längeren Arbeitszeit genutzt wird
und zu einem Drittel für eine längere

Rentenbezugsdauer. Wer in körperlich
anstrengenden Berufen arbeitet, sollte
mit Hilfe von Umschulungsprogram-
men für andere Bereiche qualifiziert
werden. Für den Fall der Berufsunfähig-
keit gebe es wiederum die Erwerbsmin-
derungsrente.
Es liege aber auch in der Verantwor-
tung der Arbeitgeber, dafür Sorge zu
tragen, dass die Beschäftigten im Alter
leistungsfähig blieben, wobei die Ge-
sundheitsprävention eine große Bedeu-
tung habe, heißt es in dem Papier. Darü-
ber hinaus sollten flexible Übergänge in
den Ruhestand über das Kombinieren
von Rente und Erwerbsarbeit viel offen-
siver als bisher propagiert werden. Zu-
mal sich immerhin jeder vierte Rentner
laut einer Umfrage im Auftrag der Jun-
gen Unternehmer eine Rückkehr ins Ar-
beitsleben vorstellen könnte.
Dass Deutschland in der Rentenpoli-
tik im internationalen Vergleich mitt-
lerweile sogar als Nachzügler gilt, zeigt
die OECD-Studie. Dabei ist hierzulande
der Handlungsdruck besonders groß,
denn die Alterung der Bevölkerung ist
nur in Japan noch weiter vorangeschrit-
ten. Zwar hat Deutschland in den Auf-
schwungjahren die Erwerbstätigenquo-
te der 55- bis 64-Jährigen auf rund 70
Prozent erhöht. Doch bei den 65- bis 69-
Jährigen liegt man mit 17 Prozent deut-
lich hinter Japan, Südkorea, den USA

oder Island, wo das Arbeiten im Alter
eher die Regel als die Ausnahme ist.
Um Fortschritte auf diesem Feld zu
erreichen, empfehlen die OECD-For-
scher eine ganze Palette von Maßnah-
men. So haben einige Länder wie etwa
die USA die gesetzliche Altersgrenze
komplett abgeschafft. Deshalb endet
nicht, wie dies in Deutschland üblich
ist, mit dem Erreichen des offiziellen
Renteneintrittsalters automatisch der
Arbeitsvertrag. Amerikaner, die das
wollen, können weiterarbeiten, so lange
sie dies möchten.
Alternativ fördert aber auch eine An-
hebung der Altersgrenze oder die Kop-
pelung an die Lebenserwartung das län-
gere Arbeiten. Deutschland hat zwar
den Einstieg in die Rente mit 67 schon
2005 beschlossen. Sukzessive steigt die
Altersgrenze bis 2030 an. Doch auch
dann werden Beschäftigte abschlagsfrei
zwei Jahre früher, also schon mit 65 Jah-
ren, in den Ruhestand gehen können,
wenn sie 45 Beitragsjahre zusammen
haben. Dänemark, die Niederlande und
Italien stimmen ihre jüngere Bevölke-
rung dagegen längst auf die Rente mit
70Plus ein.
Das Arbeiten im Alter gelingt indes
nur, wenn die Beschäftigungsfähigkeit
während des gesamten Berufslebens ge-
zielt gefördert wird. Neben der Gesund-
heitsprävention ist dafür die kontinu-
ierliche Weiterbildung entscheidend. In
Zeiten der digitalen Revolution gilt dies
mehr denn je. Doch vom lebenslangen
Lernen ist hierzulande zwar ständig die
Rede. Die Realität sieht indes ganz an-
ders aus: Nur jeder dritte Erwerbstäti-
ge, der älter als 55 Jahre ist, nimmt noch
an beruflichen Weiterbildungsmaßnah-
men teil. Bei den Jüngeren ist der Anteil
fast doppelt so hoch. Wiederum sind
hier die Skandinavier und die Nieder-
länder unter den Europäern im OECD-
Vergleich am besten platziert.
Die Forscher machen indes nicht nur
die hiesigen Arbeitgeber für die man-
gelnde Weiterbildung der Älteren ver-
antwortlich. Oft fehlt es den Arbeitneh-
mern auch selbst an Motivation. Zumal
die lange praktizierte massenhafte
Frühverrentung sowie die beliebte Ren-
te mit 63 in der Gesellschaft den Ein-
druck verfestigt haben, dass man Mitte
fünfzig kurz vor der Rente steht und
sich Qualifizierungsmaßnahmen des-
halb nicht mehr rentieren – ein Bild, das
dringend der Korrektur bedarf, zumal
die Älteren heute körperlich und geistig
viel länger fit sind, als dies in früheren
Generationen der Fall war.
Der Anreiz, Ältere einzustellen oder
im Job zu halten, ist auch deshalb oft
gering, weil in Deutschland häufiger als
in den meisten anderen Ländern die
Löhne mit dem Alter steigen. Das Se-
nioritätsprinzip gilt auch in vielen Tarif-
verträgen, obwohl laut OECD eine leis-
tungsbezogene Entlohnung weitaus
sinnvoller ist. Der Kündigungsschutz ist
ebenfalls für Ältere oder langjährige
Mitarbeiter oft strikter. Dies begünstigt
zwar diejenigen, die einen Job haben.
Wer jedoch mit über 50 auf Arbeits-
platzsuche geht, hat es hierzulande
trotz der guten Beschäftigungslage
enorm schwer.

VVViele Hürden für längeres Arbeiten iele Hürden für längeres Arbeiten


Ohne eine erhöhte


Lebensarbeitszeit


kann Deutschland


den demografischen


Wandel nicht


bewältigen. Doch


bei dem Thema


mauert nicht nur


die Regierung, auch


die Arbeitgeber


tun viel zu wenig


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DIE WELT MONTAG,9.SEPTEMBER2019 SEITE 11

WIRTSCHAFT


Huawei stellt Markteinführung


seiner Geräte infrage Seite 14


Ohne Google


BER

Verzögerungen beim
Zusatzterminal

Beim Bau des Terminals 2 am künf-
tigen Hauptstadtflughafen BER gibt
es Verzögerungen. In den vergange-
nen Wochen seien „bauliche An-
passungen“ notwendig geworden,
die inzwischen weitgehend abge-
schlossen seien, sagte ein Flughafen-
sprecher. So seien teilweise Aus-
lassungen für technische Anlagen im
Beton nicht an der richtigen Stelle
gewesen. Die „Bild am Sonntag“
hatte berichtet, wegen gravierender
Planungsfehler sei es unwahrschein-
lich, dass das Terminal wie geplant
zum Oktober 2020 fertig wird. Dann
soll der BER mit neun Jahren Ver-
spätung in Betrieb gehen. Anders als
im seit Jahren problembehafteten
Terminal 1 leitet die Flughafengesell-
schaft den Bau des Terminals 2 nicht
selbst. Es wird von der Firma Zech
Bau schlüsselfertig erstellt.

INDIEN

Landesonde auf


Mond lokalisiert


Nach Problemen bei der ersten
indischen Mondlandung ist die
Sonde „Vikram“ auf dem Erdtraban-
ten entdeckt worden. Allerdings sei
unklar, in welchem Zustand sich der
Lander befinde, sagte ein Sprecher
der indischen Raumfahrtagentur
Isro. Es gebe noch immer keinen
Kontakt zu „Vikram“. Am späten
Freitagabend war die Verbindung zu
der Sonde abgerissen, Minuten
bevor sie auf der Mondoberfläche in
der Nähe des Südpols aufsetzen
sollte. Indien hatte versucht, das
vierte Land zu werden, dem eine
kontrollierte Landung auf dem
Mond gelingt – nach den USA, der
Sowjetunion und China. „Vikram“
ist Teil der „Chandrayaan-2“-Mis-
sion. Dazu gehört auch ein Orbiter,
der um den Mond kreist.

MÜNCHENER RÜCK

Versicherer erwartet
steigende Prämien

Der weltgrößte Rückversicherer
Münchener Rück rechnet nach den
Preisanstiegen für Versicherungs-
schutz mit weiter steigenden Prä-
mien. Er erwarte eine weitere Stabi-
lisierung und Preiserhöhungen,
sagte der zuständige Vorstand Tors-
ten Jeworrek auf einer Pressekon-
ferenz in Monte Carlo. Insgesamt
dürften die Rückversicherungs-
prämien um zwei Prozent steigen.
Der Hurrikan „Dorian“, der vor
allem auf den Bahamas gewütet
hatte, werde die Branche einen
mittleren einstelligen Milliarden-
betrag kosten, sagte Jeworrek. Die
Nummer zwei der Branche Swiss Re
ist bei den Aussichten für die Bran-
che etwas vorsichtiger. In den von
Großschäden betroffenen Geschäf-
ten werde es zu Preiserhöhungen
kommen, in anderen Bereichen
dürften die Preisestabil bleiben.

MEISTERPFLICHT

Koalition plant


Wiedereinführung


Die große Koalition will einem Me-
dienbericht zufolge die Rückkehr
zur Meisterpflicht in einigen Hand-
werksberufen auf den Weg bringen.
Wirtschaftsminister Peter Altmaier
(CDU) wolle mit den zuständigen
Vizechefs der Koalitionsfraktionen,
Carsten Linnemann (CDU) und
Sören Bartol (SPD), über die Berufe
sprechen, in denen künftig wieder
nur nach Meisterprüfung ein Be-
trieb gegründet werden kann, so die
Zeitungen der Funke-Mediengrup-
pe. Altmaier sagte, „der Koalitions-
vertrag sieht vor, dass wir die Rück-
kehr zur Meisterpflicht in bestimm-
ten Berufen prüfen. Die Koalitions-
fraktionen und das Bundeswirt-
schaftsministerium arbeiten dabei
eng zusammen.“ Für bestehende
Betriebe ohne Meisterbrief sei Be-
standsschutz geplant.

KOMPAKT


W


enn das Unternehmen Valeo
Siemens eAutomotive neue
Mitarbeiter sucht, heißt es
plakativ: „Lassen Sie sich elektrisieren!
Modernste Antriebstechnik für eine
nachhaltige Zukunft der Mobilität – das
ist unser Ziel als erfolgreiches Joint
Venture.“ Hinter dem sperrigen Fir-
mennamen verbirgt sich einer der künf-
tig weltgrößten Zulieferer für Elektro-
fahrzeuge. Fast vier Jahre nach dessen
Gründung wird jedoch deutlich, dass
bei dem Senkrechtstarter im E-Auto-
Geschäft nicht alles nach Plan läuft.

VON GERHARD HEGMANN

Der französische Autozulieferer Va-
leo sowie Siemens gründeten ein 50:50-
Gemeinschaftsunternehmen, dem auf
dem Zukunftsmarkt Elektromobilität
viel zugetraut wird. Immerhin wurden
seit dem Start der Firma Ende 2016 be-
reits Aufträge für gut zehn Milliarden
Euro eingesammelt. Bislang hat das jun-
ge Unternehmen aber erst wenige Hun-
dert Millionen Euro Umsatz erzielt, da-
für aber immense Anlaufverluste und
Unruhe verursacht. Valeo will Siemens
ab Ende 2021 aus dem deutsch-französi-

schen Unternehmen drängen. Ab die-
sem Zeitpunkt allerdings zeichnen sich
erst Gewinne ab.
Am Siemens-Ausstieg bei dem Her-
steller von E-Motoren, Getrieben und
Steuertechnik wird in der Branche und
bei Analysten nicht gezweifelt. Zudem
hatte der frühere Valeo-Deutschland-
Chef Derrick Zechmair diesen auch an-
gekündigt. Das sei vertraglich festge-
legt, sagt er. Doch der Manager wurde
im Frühjahr 2019 ausgewechselt, Andre-
as Heinrich übernahm. Nach WELT-Re-
cherche kam es zudem jüngst in aller
Stille zu einem Wechsel an der Spitze
der Gemeinschaftsfirma. An den Plänen
der Franzosen, die Firma künftig kom-
plett zu beherrschen, wird aber wohl
dennoch festgehalten. Wie das Unter-
nehmen auf Anfrage erklärte, könnte
Valeo auch nach dem Wechsel an der
Spitze von Valeo Deutschland den 50-
prozentigen Anteil von Siemens an dem
Joint Venture übernehmen. „Wir haben
eine Call-Option, und sie, Siemens, ha-
ben eine Put-Option – ab Dezember
2021“, heißt es.
Von Siemens ist wenig zu hören, will
man wissen, wie es mit dem Engage-
ment des Münchner Technologiekon-

zerns bei dem E-Auto-Zulieferer weiter-
geht. „Zu Fragen der Performance oder
unserem weiteren Engagement möch-
ten wir uns nicht äußern“, erklärt das
Unternehmen. Wie es bei Insidern
heißt, können die Franzosen die Deut-
schen zumindest nicht einfach vor die
Tür setzen. Es gebe gewisse Bedingun-
gen. Vor allem dürfte es darum gehen,
in welcher Verfassung das Unterneh-
men Ende 2021 ist.
Analysten der Schweizer Großbank
UBS gehen davon aus, dass Valeo und
Siemens bis dahin insgesamt 1,4 Milliar-
den Euro in den Aufbau der Firma ste-
cken müssen. In der Branche ist von ge-
waltigen Aufträgen von Daimler, Volks-
wagen, Volvo mit ihrer E-Marke Pole-
star sowie chinesischen Marken die Re-
de. Allein 2018 kamen Bestellungen über
4,4 Milliarden Euro zusammen, der Auf-
tragsbestand summiert sich auf inzwi-
schen 10,5 Milliarden Euro.
Der Umsatz der Firma mit inzwi-
schen weltweit gut 2600 Beschäftigten
erinnert jedoch eher an einen Mittel-
ständler. 2017 waren es laut Bundesan-
zeiger knapp 112 Millionen Euro – bei
146 Millionen Euro Verlust. Das Minus
war höher als geplant. Neuere offizielle

Zahlen gibt es nicht. Die UBS-Analysten
gehen in einer Studie von 325 Millionen
Euro Umsatz und gewaltigen 492 Mil-
lionen Euro Verlust in diesem Jahr aus.
Dann sei der Verlusthöhepunkt er-
reicht. Im Jahr 2022, also dem ersten
möglichen Jahr ohne Siemens als Ge-
sellschafter, wären dann schon 1,7 Milli-
arden Euro Umsatz und ein kleiner Ge-
winn möglich.
Kenner des Unternehmens sprechen
davon, dass Großaufträge mit hohen
Versprechungen angenommen wurden,
deren praktische Umsetzung sich ver-
zögere. Dies habe zu den Neubesetzun-
gen an der Firmenspitze beigetragen.
„Die Valeo- und die Siemens-Prozesse
sind noch nicht abgestimmt“, und es
„werden händeringend Spezialisten ge-
sucht“, sagt ein Insider, der anonym
bleiben möchte. Es gebe praktisch ein
Personalkarussell für die E-Auto-Spe-
zialisten, die in der Zulieferbranche
zwischen Valeo Siemens, ZF Friedrichs-
hafen und Schaeffler hin und her pen-
delten.
Doch auch wenn in der Anfangsphase
des deutsch-französischen Zulieferers
noch nicht alles rund läuft, gehen die
UBS-Analysten für das Jahr 2030 von 5,

Milliarden Euro Umsatz aus. Siemens
dürfte dann allerdings schon lange
nicht mehr dabei sein. Die Bankanalys-
ten rechnen mit einem Ausstieg der
Deutschen im Frühjahr 2022.
Zieht Siemens-Chef Joe Kaeser bei
dem E-Auto-Zulieferer tatsächlich die
Reißleine, wäre es ein weiterer Abschied
des deutschen Technologiekonzerns
aus einem Geschäftsfeld, das mit einem
Partner betrieben wurde. 2015 erfolgte
der Ausstieg aus dem Hausgerätebe-
reich im Ex-Gemeinschaftsunterneh-
men BSH mit Bosch, 2013 aus dem Ex-
Gemeinschaftsunternehmen Nokia Sie-
mens Networks für Telekommunikati-
on und Netzwerktechnik.
Kaeser hat auch schon einmal Auto-
mobiltechnik bei Siemens verkauft, in
ganz anderen Dimensionen allerdings:
2007 veräußerte er die damalige 100-
Prozent-Tochter Siemens VDO Auto-
motive für 11,4 Milliarden Euro an Con-
tinental. Vor gut einem Jahrzehnt war
noch nicht absehbar, das sich auch mit
Zulieferungen für E-Autos eines Tages
Milliardenumsätze erzielen lassen. Sie-
mens jedoch ist dann wahrscheinlich
nicht mehr an Bord, wenn mit dem Ge-
schäft richtig Geld verdient wird.

Franzosen wollen Siemens beim E-Auto herausdrängen


Noch macht das Gemeinschaftsunternehmen Verluste. Wenn es Gewinn abliefert, dürfte der Münchner Konzern nicht mehr dabei sein


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