Die Welt - 09.09.2019

(C. Jardin) #1
D

ie erste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages im September 1949 war ein his-
torischer Tag für unsere parlamentari-
sche Demokratie. Aus den Trümmern
des Nationalsozialismus und zweier
verheerender Kriege ist Deutschland zu
einer weltweit anerkannten, stabilen
Demokratie aufgestiegen. An diesem Erfolg hat der Deut-
sche Bundestag einen großen Anteil. Doch für Müßiggang
gibt es keinen Anlass. Denn die Demokratie steckt in einer
VVVertrauenskrise. Gerade die etablierten Parteien habenertrauenskrise. Gerade die etablierten Parteien haben
damit zu kämpfen. Nicht immer zu Unrecht wird ihnen
vorgeworfen, Meinungskartelle zu bilden. Der Politikfrust
vieler Bürger wird festgemacht an einem Verlust an Kon-
turen, Kontroversen und Konflikten im Diskurs. Das liegt
auch wesentlich daran, dass echte Debatten und öffentlich
sichtbarer Streit nur noch selten stattfinden. Gerade im
Deutschen Bundestag mangelt es daran, der ja eigentlich
das Herz der Debatte in einer Demokratie sein sollte. Wie
kommt das?
Die Regierung und die Fraktionen bestimmen den Par-
lamentsalltag. Initiativen und Vorschläge müssen durch
einen engen Flaschenhals, bevor sie das parlamentarische
Licht erblicken. Der einzelne Abgeordnete ist dabei nur ein
Rädchen im großen Getriebe. Seine Kreativität und sein
Ideenreichtum werden in der Parlamentsgeschäftsordnung
ertränkt. Der Abgeordnete darf zwar bisweilen eine Frage
im Parlament oder schriftlich an die Regierung stellen. Er
kann auch im Plenum kurz intervenieren. Aber das war es
vielfach auch schon. Ansonsten werden Abgeordnete in
Fraktionsgremien und Ausschüssen vergraben, die sich oft
erschöpfend lange hinziehen und deren Ergiebigkeit oft-
mals zu wünschen übrig lässt. Abgeordnete einer Regie-
rungsfraktion sind meist die Verkünder von Nachrichten,
auf die sie nur einen spärlichen Einfluss haben. Oppositi-
onsabgeordneten geht es nicht viel besser, da sie die meis-
ten aktuellen Fragen auch aus der Zeitung erfahren. Das
Parlament als Ort der öffentlich sichtbaren Debatten gibt
es immer seltener.
WWWer das ändern will, muss eine Gegenmacht zu dener das ändern will, muss eine Gegenmacht zu den
Fraktionen und der Regierung aufbauen. Dazu müssen die

Rechte des einzelnen Abgeordneten gegenüber den Frak-
tionen und der Regierung gestärkt werden. Heute regeln
die Fraktionen, was auf die Tagesordnung des Plenums
kommt, wer wie lange sprechen darf, welche Initiativen
eingebracht und welche Fragen gestellt werden dürfen.
Diese umfassende Aufgabe ist den Fraktionen von der
VVVerfassung eigentlich nicht zugedacht. Das Grundgesetzerfassung eigentlich nicht zugedacht. Das Grundgesetz
kennt die Fraktionen fast gar nicht. Nur im Verteidigungs-
fffall werden sie im Zusammenhang mit dem Notparlamentall werden sie im Zusammenhang mit dem Notparlament
erwähnt. Ansonsten kennt das Grundgesetz nur Abge-
ordnete. Sie haben eine herausragende Rolle: „Die Abge-
ordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemei-
ner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl
gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge
und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen
unterworfen“ (Artikel 38, Abs. 1 GG). Die Abgeordneten
sind in erster Linie also nicht Vertreter ihrer Partei, auch
wenn diese sie aufstellt, sondern „Vertreter des ganzen
VVVolkes“ und „nur ihrem Gewissen unterworfen“. Im Par-olkes“ und „nur ihrem Gewissen unterworfen“. Im Par-
lamentsalltag rückt diese Bestimmung des Grundgesetzes
leider immer stärker in den Hintergrund, weil die Fraktio-
nen und Parteien einen umfassenden Machtanspruch im
Parlament einfordern und ausüben.
Bei den meisten parlamentarischen Fragen kann der
AAAbgeordnete nicht ohne seine Fraktion agieren. Jeder Ab-bgeordnete nicht ohne seine Fraktion agieren. Jeder Ab-
geordnete muss, wenn er Anträge, Gesetzesinitiativen,
Kleine oder Große Anfragen stellen will, diese bei seiner
Fraktion beantragen. Will er reden oder ein Thema auf die
Tagesordnung des Plenums setzen, geht dies nur mit der
Zustimmung der Fraktion und ihrer Spitze. Daher haben
die Fraktionsvorsitzenden, die Fraktionsvorstände und die
fffür die Organisation des Parlaments zuständigen Parla-ür die Organisation des Parlaments zuständigen Parla-
mentarischen Geschäftsführer eine herausgehobene Rolle.
Doch es gibt nicht nur eine Unwucht im Verhältnis des
AAAbgeordneten zur Fraktion. Es gibt auch eine zunehmen-bgeordneten zur Fraktion. Es gibt auch eine zunehmen-
de Machtverschiebung vom Parlament zur Regierung.
Regierungsbeamte schreiben Anträge und Gesetzentwürfe
fffür die Regierungsfraktionen und beantworten Kleine undür die Regierungsfraktionen und beantworten Kleine und
Große Anfragen, deren Fragen sie zuvor selbst formuliert
haben. Egal, wer aktuell regiert – die Praxis ist unabhängig
von den Parteifarben. Gleichzeitig eröffnen Minister lie-

ber Messen und Kongresse, anstatt im Parlament Rede
und Antwort zu stehen. Sie schicken Parlamentarische
Staatssekretäre vor, die vorgefertigte Schriftstücke ver-
lesen. Wie immer gibt es auch Ausnahmen. Doch die Ent-
wicklung fügt dem Ansehen des Parlaments und der par-
lamentarischen Demokratie insgesamt auf Dauer schwe-
ren Schaden zu.
Die Basis demokratischen Handelns ist der Einzelne,
der über demokratische Wahlen die Abgeordneten des
Deutschen Bundestages wählt. Nicht die Regierung steht
daher am Anfang dieses demokratischen Aktes, sondern
das Parlament.
An der Umdeutung des Verfassungsauftrages sind wir als
AAAbgeordnete jedoch selbst schuld. Denn seit vielen Jahrenbgeordnete jedoch selbst schuld. Denn seit vielen Jahren
überlassen die Abgeordneten Veränderungen der Arbeits-
weise im Parlament ihren Fraktionsspitzen und der Re-
gierung. Das war nicht immer so. In den 1980er- und
1 990er-Jahren haben Abgeordnete aller Fraktionen unter
Federführung der Liberalen Hildegard Hamm-Brücher
dafür gesorgt, dass aus der Mitte des Parlaments Reform-
vorschläge kamen und immer wieder Debatten über das
Selbstverständnis des Parlaments und seiner Abgeord-
neten stattfanden. Die „Interfraktionelle Initiative Par-
lamentsreform“, der sich zeitweise 167 Abgeordnete an-
schlossen, hat dabei manches erreicht, was heute zum
Parlamentsalltag gehört. Die Befragung der Bundesregie-
rung am Mittwoch und die Kurzintervention in der Debat-
te sind Rechte, die die Gruppe um Hamm-Brücher durch-
gesetzt hat und die heute selbstverständlich sind.
Es braucht gerade in der heutigen Situation wieder eine
Bewegung aus dem Inneren des Parlaments heraus, die
den einzelnen Abgeordneten in seinen Rechten stärkt. Es
wwwürde die Macht der Parteien und Fraktionen einhegenürde die Macht der Parteien und Fraktionen einhegen
und eine starke Gegenmacht dazu bilden. Unserer Demo-
kratie und unserer Gesellschaft würde diese Neujustie-
rung guttun. Um es mit dem großen Liberalen Ralf Dah-
rendorf zu sagen: Es geht um die „Parlamentarisierung
des Parlaments“.

TDer Autor ist FDP-Abgeordneter im Deutschen
Bundestag und Mitglied des Finanzausschusses.

ESSAY


Nur dem Gewissen


FRANK SCHÄFFLER

Vor 70 Jahren trat der Bundestag in Bonn erstmals


zusammen – der Beginn einer Erfolgsgeschichte. Heute


dominieren Parteien und Fraktionen das Parlament


in einer Weise, die im Grundgesetz nicht vorgesehen ist.


Geben wir dem einzelnen Abgeordneten mehr Freiheiten!


FFFrüher war mehr Nadelstreifen – und weniger Frauen. Konstituierende Sitzung des Deutschen Bundestages am 7. September 1949 in der Turnhalle der einstigen Pädagogischen Akademierüher war mehr Nadelstreifen – und weniger Frauen. Konstituierende Sitzung des Deutschen Bundestages am 7. September 1949 in der Turnhalle der einstigen Pädagogischen Akademie

PICTURE-ALLIANCE / AKG-IMAGES

unterworfen


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4 FORUM DIE WELT MONTAG,9.SEPTEMBER


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IMPRESSUM

Metropolen prägen


unsere Zukunft


NICOLAS BAVEREZ

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er Aufstieg der Industriegesellschaft im 19. Jahr-
hundert war untrennbar verbunden mit der Ur-
banisierung. Im 20. Jahrhundert entwickelten
sich dann die Ballungsräume, die von einem Umschwen-
ken zur Massenproduktion und zum Massenkonsum
begleitet wurden, ebenso wie von der Entstehung breiter
Mittelklassen in den Industrieländern. Der Beginn des 21.
Jahrhunderts war dann von der Globalisierung und der
Metropolisierung geprägt. Der weltweite Kapitalismus
hat sich durch ein ganzes Netzwerk von Weltstädten
strukturiert – in den 30 größten leben fast 15 Prozent der
Weltbevölkerung. Heutzutage jedoch entwickelt sich eine
doppelte Tendenz: hin zur Entglobalisierung und zu einer
Abwendung von den Metropolen.
Die Staaten feiern ein Comeback, setzen ihre Grenzen
wieder in Kraft und verstärken ihre Kontrolle auf Wirt-
schaft und Gesellschaft. Multilaterale Institutionen wer-
den von den USA auseinandergenommen oder zur Un-
tätigkeit gezwungen. Die Welle des Populismus, die die
Industriestaaten überrollt, führt wie schon zu Beginn des


  1. Jahrhunderts zu einer heftigen Fragmentierung des
    globalen Raums und einer Umstrukturierung von Politik
    und Wirtschaft. Gleichzeitig gibt es in den Metropolen,
    die die triumphale Globalisierung vorrangig getragen
    hatten, immer mehr Warnzeichen. Sie fressen buchstäb-
    lich die Stadtzentren, die ihre Anwohner verlieren: seit
    2010 rund 12.000 pro Jahr in Paris, 40.000 in New York,
    100.000 pro Jahr im Großraum London. Von San Francis-
    co bis Hongkong, aber auch in New York, London oder
    Berlin, mobilisiert sich die Bevölkerung, vor allem aber
    die Jugend, gegen die steigenden Mietpreise und ihre
    Enteignung durch die internationalen Eliten und die
    Technologieunternehmen.
    Aufgrund ihrer Umweltprobleme erweisen sich die
    Metropolen als besonders verletzlich, was klimatische
    Veränderungen betrifft oder auch beim Wassermangel,
    wie im Fall von Kapstadt, Mexiko, Sao Paulo, Melbourne
    oder der großen indischen Städte, die von Naturkatastro-
    phen getroffen werden. Was zum Beispiel in Indonesien
    dazu führte, dass man die Hauptstadt nach Borneo ver-
    legte, weil Jakarta und seine 30 Millionen Menschen im-
    mer mehr im Wasser versinken und gleichzeitig schutzlos
    den Erdbeben ausgeliefert sind.
    Die großen Städte werden auch weiterhin attraktiv
    bleiben. Doch die Spannungen, die durch ihrer Expansion
    ausgelöst werden, sind strukturell und könnten ihre Zu-
    kunft gefährden. Der Gigantismus geht einher mit urba-
    ner Zersiedlung und sorgt so für unlösbare Probleme in
    der Stadtplanung. Die Metropolisierung ist untrennbar
    mit einer Polarisierung des Lebensraums verbunden,
    zwischen den reichen Vierteln, in denen die Mietpreise
    explodieren, und den Elendsvierteln, in denen heute eine
    Milliarde Menschen zusammengepfercht leben. Bis 2050
    werden es zwei Milliarden sein.
    Die Herzen der großen Städte sind immer mehr für
    ältere Menschen, Reiche und Touristen reserviert, wäh-
    rend in den Vororten junge Leute, die aktive Bevölkerung
    und die Armen leben. Die Sterblichkeitsrate in den Städ-
    ten steigt auf Grund der unerträglich hohen Luftver-
    schmutzung, vor allem in den chinesischen und indischen
    Metropolen. Gleichzeitig werden die Metropolen immer
    unsicherer: Ganze Stadtteile gewisser Metropolen, wenn
    nicht sogar ihr gesamtes Gebiet wie in Caracas, Mexiko
    City oder Rio, werden für die Sicherheitskräfte unkon-
    trollierbar. Letztlich werden auch die Beziehungen der
    Großstädte immer konfliktreicher, sei es zu ihrem Hin-
    terland, wo sie die menschlichen und natürlichen Res-
    sourcen monopolisieren, oder gegenüber den Staaten,
    von denen sie sich unabhängig machen wollen – wie im
    Falle Barcelonas und Spaniens.
    Wer die Metropolen regiert, muss sich sowohl den
    Bürgern gegenüber öffnen, zum Beispiel durch eine par-
    tizipative Demokratie, als auch gegenüber den umliegen-
    den Gebieten. Priorität sollte ein integriertes Wachstum
    haben, das durch verfügbaren Wohnraum, Transport,
    Bildung und Gesundheitsversorgung entsteht. Es bedeu-
    tet auch einen Wandel hin zu einer dauerhaften und sau-
    beren Entwicklung, da sich in den Städten 80 Prozent der
    Treibhausgasemissionen auf zwei Prozent der Erdober-
    fläche konzentrieren. Auch zugunsten eines verbesserten
    Risikoschutzes muss massiv investiert werden, also gegen
    Kriminalität, Terrorismus und extreme klimatische Ereig-
    nisse. Kurz gesagt: Die Großstadt an sich sollte zu einer
    Art Labor für die Kohärenz von Wirtschaftskapital, Hum-
    ankapital und Naturkapital werden.
    Das 21. Jahrhundert wird sicherlich das der Metropolen
    sein. Ihre Fähigkeit, sich zu modernisieren und zu re-
    generieren, wird dabei die Hierarchie der Nationen und
    der Kontinente bestimmen.


TDer Autor ist Kolumnist der französischen
Tageszeitung „Le Figaro“.

LETTER FROM EUROPE


In Kooperation mit „Lena“. Aus dem
Französischen von Bettina Schneider.

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