Die Welt - 09.09.2019

(C. Jardin) #1

W


ir treffen Dietmar
Bartsch im Berliner
Prenzlauer Berg,
dort, wo das Links-
grüne zum guten
Ton gehört. „Heimlich treu“ heißt das
Restaurant, in dem wir verabredet sind.
„Seltsamer Name“, sagt Bartsch beim
Hineingehen. Unheimlich untreu ge-
genüber seiner Partei sind die Wähler in
Sachsen und Brandenburg gewesen: Die
Linke erlitt in beiden Ländern herbe
Stimmenverluste.

VON SUSANNE GASCHKE
UND DAGMAR ROSENFELD

WELT: Bei den Wahlen in Branden-
burg und Sachsen haben 41 Prozent
der Arbeiter und Arbeitslosen AfD ge-
wählt. Das ist Ihre Kernwählerschaft.
Warum haben sich diese Menschen
von der Linkspartei abgewendet?
DIETMAR BARTSCH:Die Wahlen waren
für uns eine bittere Niederlage. Viele
der Menschen, für die wir Politik ma-
chen, haben ihr Kreuz nicht mehr bei
uns gemacht. Unsere Aufgabe ist es, den
ganz normalen Menschen in diesem
Land ein attraktives Angebot zu ma-
chen. Wir werden gemeinsam in die in-
haltliche und strategische Debatte ge-
hen, um Antworten zu liefern. Denn
klar ist: Wir müssen uns hinterfragen,
nicht die Wählerinnen und Wähler kriti-
sieren.

Heißt das, die Linkspartei weiß nicht,
was ihre Klientel will?
Diese Interpretation ist zu pauschal.
Wir werden weiter als Interessenvertre-
tung Ost und bundesweit als Stimme
für soziale Sicherheit wahrgenommen,
wie die Wahlanalysen zeigen. Aber am
Wahltag reichte vielen Wählerinnen
und Wählern das offensichtlich nicht.
Meine Analyse ist, dass wir im Moment
zu allen Themen etwas sagen und es zu
vielen recht machen wollen. Darunter
leidet dann die Klarheit. Wir können
zum Beispiel 1000 Mal sagen, dass wir
eigentlich das bessere Klimakonzept als
die Grünen haben. Das stimmt auch.
Nur damit stärken wir nicht uns, son-
dern die Grünen, weil das Thema tradi-
tionell ihnen zugeschrieben wird.

Kritiker sagen, Ihre Partei habe sich
zu sehr dem großstädtisch-hippen
Milieu zugewendet, für das Linkssein
eher Attitüde als Existenzfrage ist.
Haben Sie einen Teil Ihrer Wähler da-
mit verschreckt?
Everybody’s Darling sein zu wollen,
führt zu Beliebigkeit, das funktioniert
in der Politik nicht. Als linke Partei
müssen wir die soziale Frage in den Mit-
telpunkt stellen, die Frage von Eigen-
tum und Kapital. In Berlin zeigen wir
gerade, wie das geht, da machen wir bei
den explodierenden Mieten jetzt den
Deckel drauf, sind bei den Menschen,
die wirkliche Sorgen haben. Da bewirkt
unser Handeln, dass bei Unternehmen
wie Deutsche Wohnen oder Vonovia die
Kurse nach unten gehen ...

Sie werten es als Erfolg, wenn Aktien-
kurse sinken?
Für mich als Linken stehen die Men-
schen im Mittelpunkt, die nicht wissen,
wie sie noch die Miete zahlen sollen,
nicht die Renditen der Immobilienkon-
zerne und ihre Börsenkurse. Ich weiß
auch, dass die Mietpreise ein großstäd-

tisches Thema sind, in den ländlichen
Regionen gibt es ganz andere Probleme.
In der Lausitz zum Beispiel werden
Menschen durch den geplanten Kohle-
ausstieg ihren Arbeitsplatz verlieren.
Die Sorgen dieser Menschen müssen
uns genauso wichtig sein.

Gerade in der Lausitz hat die Linke
sehr schlecht abgeschnitten. Offen-
bar hat Ihre Partei keine Antwort auf
die Sorgen der Menschen gefunden.
Ja, weil wir uns am Überbietungswett-

die Sorgen der Menschen gefunden.
Ja, weil wir uns am Überbietungswett-

die Sorgen der Menschen gefunden.

bewerb beteiligt haben, wer steigt am
schnellsten aus der Kohle aus. Wissen
Sie, wir hätten auch beschließen kön-
nen, 2015 aus der Kohle auszusteigen,
dann wären wir ganz vorn gewesen und
der Ausstieg schon da. Allerdings nur
auf dem Papier. Das ist absurdes Zeug.
Stattdessen müssen wir als Linke den
Menschen Antworten geben, wie es für
sie nach dem Kohleausstieg weitergeht.
Wir müssen wieder Zukunftspartei wer-
den.

Was meinen Sie damit?
Linke Politik ist Leidenschaft für eine
bessere, gerechte Gesellschaft, also so-
ziale Politik zuerst. Für Arbeiter, Ar-
beitslose, Rentnerinnen und Rentner.
Da dürfen wir aber nicht stehen bleiben.
Wir müssen dorthin gehen, wo Zukunft
gestaltet wird, an Konzepten dafür in-
tensiver arbeiten. Die Lausitz etwa wird
Milliardenhilfen erhalten. Wie die ein-
gesetzt werden, darf nicht allein und
von oben herab von der Landesregie-
rung bestimmt werden. Da eine neue
Forschungseinrichtung, hier ein Tech-
nologie-Entwickler – das reicht nicht.
Als Partei, deren Kernthema soziale Si-
cherheit ist, müssen wir dafür sorgen,
dass tatsächliche Innovationszentren
Ost geschaffen werden, die dauerhaft
Perspektiven für die Regionen bieten.
Das gilt übrigens genauso für das Ruhr-
gebiet oder andere Regionen, die einen
Strukturwandel stemmen müssen.

Zur sozialen Sicherheit gehört ebenso
eine funktionierende Flüchtlingspoli-
tik. Gerade für sozial Schwache ist die
Flüchtlingsfrage auch eine Vertei-
lungsfrage. Sahra Wagenknecht hat
das in der Linkspartei zum Thema ge-
macht. Rächt sich in den schlechten
Wahlergebnissen jetzt, dass die Partei
Wagenknecht abgebügelt hat?
Linke Flüchtlingspolitik bedeutet, die
Menschen in den Mittelpunkt zu stel-
len. Die Würde des Menschen ist unan-
tastbar, der Menschen hier und der
Menschen, die fliehen vor Krieg, Hun-
ger und Elend. Wir müssen ernsthaft
Fluchtursachen bekämpfen. Ein guter
Beginn wäre, endlich deutsche Rüs-
tungsexporte zu verbieten.

Sie haben jetzt auf eine innenpoliti-
sche Herausforderung eine außenpo-
litische Antwort gegeben. Wie aber
gehen Sie mit den Ängsten um, die

litische Antwort gegeben. Wie aber
gehen Sie mit den Ängsten um, die

litische Antwort gegeben. Wie aber

mit der Flüchtlingsfrage und der Mi-
gration gerade bei Ihren Wählern ver-
bunden sind?
In den Jahren der Auseinandersetzung
um Frau Merkels Flüchtlingspolitik ha-
ben die 500 reichsten Familien in
Deutschland jährlich einen Vermögens-
zuwachs von circa zehn Prozent ver-
zeichnet, während die Menschen, die
sich ein wenig zusammengespart haben,
wegen der Nullzinsen und der Inflation
oft weniger auf dem Konto haben. Die

Verteilungsfrage stellt sich in Wahrheit
nicht zwischen Flüchtlingen und Arbei-
tern, sondern zwischen Reich und Arm,
zwischen Konzernen und Arbeitneh-
mern. Das sind die gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen, die wir austra-
gen müssen.

Dennoch: In anderen Ländern sind
linke Parteien dann erfolgreich, wenn
sie hart in der Migration und großzü-
gig im Sozialen sind. Jüngstes Beispiel
sind die dänischen Sozialdemokraten,
die mit diesem Kurs die Wahlen ge-
wonnen haben.
Ich bin nachdrücklich dafür, dass wir
die soziale Sicherheit in den Mittel-
punkt stellen. Ich bin fest davon über-
zeugt, wenn die Löhne und die Rente
stimmen, die Schulen nicht marode
sind und Vermögende ihren Teil dazu
beitragen, dann macht linke Politik ein
Angebot, das attraktiv ist. Ich bin da
deshalb klar bei Karl Marx. Der letzte
Satz seines Manifests lautet: Proletarier
aller Länder vereinigt euch. Niemals das
Ausspielen der Schwachen gegen die
Schwächsten.

Um in der Wortwahl von Karl Marx zu
bleiben: Im Moment vereinigen sich
die Proletarier aller ostdeutschen
Länder hinter der AfD, die wie schon
erwähnt hohe Zustimmung bei Arbei-
tern und Arbeitslosen findet.
Ich will mich nicht auf die AfD konzen-
trieren. Diese Truppe ist von den ande-
ren Parteien, auch von uns, viel zu sehr
zum Bezugspunkt für die eigene Politik
gemacht worden. Die haben nicht ein-
mal ein Rentenkonzept. Wir müssen
nicht darüber reden, was die AfD will,
sondern was wir tun wollen.

Was will die Linkspartei denn tun,
um, wie Sie sagen, eine Zukunftspar-
tei zu sein?
Zum Beispiel die Kinderarmut mittels
einer Kindergrundsicherung bekämpfen


  • sodass das Geld und Leistungen tat-
    sächlich bei den Kindern ankommen.
    Das wäre der dringend nötige System-
    wechsel. Das Gleiche gilt für eine ge-
    setzliche Rentenversicherung, in die al-
    le einzahlen, die den Lebensstandard im
    Alter sichert und Altersarmut beseitigt.
    Oder klimafreundliche Mobilität. Die
    Bahn muss unschlagbar werden. Dafür
    müssen die Tickets der Bahn endlich
    günstig werden. In ländlichen Regionen
    sind die Menschen auf ihr Auto ange-
    wiesen. Angela Merkel hatte angekün-
    digt, dass es bis 2020 eine Million Elek-
    troautos geben soll. Das wird erkennbar
    nicht klappen. Wir als Linke sagen:
    Elektroautos können die Zukunft sein,
    aber bitte in einer Variante, die sich
    dann alle leisten können. Und natürlich
    muss es ausreichend Ladestationen ge-
    ben.


Das macht die Linkspartei?
Wir müssen das vorantreiben! Die Mo-
bilitätsfrage ist entscheidend für viele
Menschen. Vor der Europawahl fanden
es einige Kommunen am wichtigsten,
den Klimanotstand auszurufen, anstatt
zum Beispiel beim Nahverkehr mehr
fürs Klima zu tun. Da fassen sich man-
che Menschen an den Kopf! Ich bin im-
mer wieder da, wo es Menschen wirk-
lich schlecht geht, wo keine Busse fah-
ren, sie Kleider aus der Kleiderkammer
holen müssen oder bei den Tafeln an-
stehen, weil das Geld vorne und hinten

nicht reicht. Die brauchen keine ideolo-
gischen Debatten, sondern konkrete
Hilfe.

Um das umzusetzen, müssen Sie in
die Regierung. Da gibt es aber einige
in Ihrer Partei, die das auf gar keinen
Fall wollen. Und es wird mit der SPD
die alten Streitpunkte geben: Sie wol-
len raus aus der Nato und auf keinen
Fall Auslandseinsätzen der Bundes-
wehr zustimmen.
Ich bin der festen Überzeugung: Wenn
es nach der nächsten Bundestagswahl ei-
ne Mehrheit jenseits der Union gibt,
dann wird sie auch regieren. Das wäre
aaauch 2013 möglich gewesen, da hat dieuch 2013 möglich gewesen, da hat die
SPD die Chance nicht ergriffen. Das wird
nicht noch mal passieren. Es gibt übri-
gens kein Beispiel, in keinem Bundes-
land, wo es an der Linken gelegen hat,
dass eine Regierung nicht zustande kam.

Das heißt, Sie wären bei Nato und
Auslandseinsätzen kompromissbe-
reit?
Ich will mich auf diese Kunstdebatte gar
nicht einlassen. Es ist richtig und gut,
dass wir die Partei sind, die in diesen
Fragen Nein sagt. Wir werben für unser
Programm. Es wäre völlig falsch, vor
Wahlen schon Kompromisse zu ma-
chen. Eins ist aber auch klar: Wenn wir
zum Beispiel eine Kindergrundsiche-
rung, eine solidarische Bürgerversiche-
rung und ein Ende der Waffenexporte
durchsetzen, wird ein Regierungsbünd-
nis an unserer Partei nicht scheitern.

Vorher muss die Linke erst mal ihren
eigenen Kurs klären. Eine Diskussion
um die Führung wird dabei unver-
meidlich sein: Sind Katja Kipping und
Bernd Riexinger noch die richtigen
Vorsitzenden?
Wir müssen erst mal eine grundsätzli-
che Strategiedebatte führen. Dann folgt
im nächsten Jahr ein Parteitag, für den
ich vorgeschlagen habe, diesen bereits
nach der Wahl in Hamburg im Februar
und den Kommunalwahlen in Bayern im
März durchzuführen. Auf dem Parteitag
wird ein neuer Parteivorstand gewählt.
Eine Personaldebatte ist deshalb nor-
mal. Wir müssen sie aber solidarisch
führen.

Das kann die Linke super.
Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Aber
ich sage es noch einmal bewusst: Wir
haben Satzungsempfehlungen über die
Länge von Amtszeiten. Da stehen acht
Jahre drin. Ich finde es weiterhin rich-
tig, wenn Aufgaben nur für eine be-
grenzte Zeit übernommen werden.

Sind Sie mitverantwortlich für die
schlechten Wahlergebnisse der letz-
ten Zeit?
Wir gewinnen und verlieren gemein-
sam. Die Parteispitze trägt Verantwor-
tung, auch die Fraktionsführung und die
Landesverbände. Das ist nun einmal so.
Wer aus der Führung sagt, er habe da-
mit nichts zu tun, der liegt wirklich
falsch und duckt sich weg.

Braucht es personelle Konsequenzen?
Entscheidend ist die strategische De-
batte und dann dazu Entscheidungen.
Daraus sollten sich Personalentschei-
dungen ergeben. Unser Ziel muss es
sein, bei den nächsten Bundestagswah-
len unser letztes Ergebnis zu übertref-
fen. Und das ist möglich.

Dietmar Bartsch, Vorsitzender der Linke-Fraktion im Bundestag, erwartet
einen Führungswechsel an der Parteispitze

Sind sinkende


KKKurse ein Erfolg,urse ein Erfolg,


Herr Bartsch?


Der Linke-Fraktionschef über neue


Verteilungsfragen und den Willen zur Macht


MARTIN U. K. LENGEMANN/WELT

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6 POLITIK *DIE WELT MONTAG,9.SEPTEMBER


die Bundeswehr die Anweisung heraus,
außer Dienst keine Uniform zu tragen.
Der Fall in Berlin lag anders, hier
wurde ein Soldat offenbar von Rassisten
attackiert. Aber auch hier reizte die
Schläger die Uniform. Sie ist ein Kon-
fliktstoff; wer sie trägt, empfindet sie
bisweilen als Risiko. Doch wie unsicher
sind Soldaten in Deutschland tatsäch-
lich? Wie häufig gibt es Angriffe?
Es ist schwierig, eindeutige Antwor-
ten auf diese Fragen zu finden. Das Ver-
teidigungsministerium zählte im vori-
gen Jahr 86 Anschläge und Straftaten
gegen die Bundeswehr. Die meisten
richteten sich gegen Kasernen, Fahrzeu-
ge und Truppenübungsplätze. Unter
den Taten waren aber auch sieben Fälle
von Gewalt gegen Personen in Uniform.
In den Jahren zuvor sah es ähnlich aus:
Von 2013 bis 2017 wurden insgesamt 27
Angriffe auf Soldaten gemeldet. Exper-
ten halten diese Zahlen für nicht sehr
aussagekräftig. Denn zum einen ist wie
immer bei solchen Statistiken mit einer
Dunkelziffer zu rechnen; erfasst wird
nur, was ein betroffener Soldat seinem
Vorgesetzten meldet. Und zum anderen
bleibt unklar, warum und von wem ge-
nau die Soldaten angegriffen wurden.
In der Statistik tauchen nur Angreifer

A


ls der Obergefreite angegriffen
wurde, trug er seine Uniform. Es
war Montagmorgen, er lief durch
die Saalestraße in Berlin-Neukölln, ein
Mann von 25 Jahren, türkischstämmig.
Die Angreifer waren zu zweit. Einer
schlug ihm mit der Faust gegen die
Schulter, der andere trat ihm an das
Schienbein. Ein Rettungswagen kam.

VON SEBASTIAN GUBERNATOR

Bevor die Angreifer flohen, soll einer
von ihnen gerufen haben, nur Deutsche
hätten das Recht, die Uniform zu tra-
gen. Noch laufen die Ermittlungen, aber
offenbar kam die Attacke von rechts.
Verteidigungsministerin Annegret
Kramp-Karrenbauer (CDU) verurteilte
„jeden Übergriff auf Soldatinnen und

Kramp-Karrenbauer (CDU) verurteilte
„jeden Übergriff auf Soldatinnen und

Kramp-Karrenbauer (CDU) verurteilte

Soldaten“ – das Wörtchen „jeden“ war
ein dezenter Hinweis darauf, dass An-
feindungen gegen Soldaten in Uniform
auch von anderer Seite kommen.
Dass sich Soldaten in der Öffentlich-
keit mitunter unsicher fühlen, ist nicht
neu. Viele fürchten vor allem Angriffe
durch Linksextremisten. Sie meiden
Orte, die als gefährlich gelten, oder las-
sen den Flecktarn gleich in der Kaserne.
Vor dem G20-Gipfel in Hamburg gab

auf, die nicht selbst in der Bundeswehr
sind. Ansonsten kann unter „Gewalt ge-
gen Personen“ vieles fallen – der Fähn-
rich, der auf dem Weg zur Kaserne von
Autonomen überfallen wird, aber auch
der Gefreite, der nach dem fünften Bier
in eine Schlägerei gerät. Ob der Angrei-
fer Zivilist war oder Soldat eines Nato-
Partners, ob er aus politischen oder per-
sönlichen Gründen handelte, ob er
schlug, trat oder gar eine Waffe benutz-
te, das alles lässt die Statistik offen. Die
Zahlen bilden also nicht die ganze Wirk-
lichkeit ab. Aber eines lässt sich ablesen:
Angriffe auf Soldaten in Deutschland
sind selten.
Und dennoch, sagen Menschen wie
Nariman Hammouti, ist da diese Unsi-
cherheit. Hammouti, 40, ist Leutnant
zur See, stationiert im niedersächsi-
schen Nordholz. „Die meisten“, sagt sie,
„gehen nicht in Uniform raus. Die zie-
hen sich im Büro um.“ Nicht nur aus
Angst vor körperlichen Angriffen – so-
weit kommt es schließlich selten. Aber
die scheelen Blicke, die Sprüche, der
Naziverdacht, das wollen viele Soldaten
vermeiden. Hammouti erzählt von ei-
nem Kameraden, der seine Kinder im-
mer in Zivil zur Kita brachte, nur einmal
hatte er keine Zeit, sich umzuziehen.

„Die anderen Eltern sind fast vom Glau-
ben abgefallen.“ Viele, sagt sie, hätten
sich noch immer nicht daran gewöhnt,
„dass es die Bundeswehr gibt, dass wir
eine Parlamentsarmee sind – und nichts
mit Nazis zu tun haben“.
Sie erzählt auch von Schaffnern, die
uniformierten Soldaten im Zug nach
Hamburg rieten, nicht am Hauptbahn-
hof auszusteigen, sondern eine Station
weiterzufahren, Hamburg-Dammtor.
Das sei sicherer. Wie passt das zu den
niedrigen Angriffszahlen?
Bundeswehrkenner sagen hinter vor-
gehaltener Hand, dass wohl auch Hö-
rensagen eine Rolle spiele: Soldaten, die
womöglich nie schlechte Erfahrungen
gemacht haben, fühlen sich beim Ausge-
hen in Uniform unsicher – einfach nur,
weil sie von Kameraden gewarnt wur-
den. Neu ist dieses Gefühl nicht. Schon
Helmuth von Grolman, der erste Wehr-
beauftragte des Deutschen Bundesta-
ges, sagte 1960 in einem „Spiegel“-In-
terview, dass „sich der Soldat in den
Großstädten manchmal leider noch un-
angenehmen Situationen ausgesetzt
sieht“ oder sich „zumindest nicht
freundlich beobachtet fühlt“.
Nariman Hammouti kennt Soldaten-
feindlichkeit. Und sie kennt den Rassis-

zum Supermarkt. Habe in Flecktarn an
der Kasse gestanden. Plötzlich habe ein
anderer Kunde sie angespuckt und ge-
rufen: „Auch dort klauen sie uns schon
die Arbeitsplätze.“ Hammouti sagt, am
liebsten hätte sie zurückgespuckt. Aber
sie trug ja die Uniform. Seit 14 Jahren ist
Hammouti bei der Bundeswehr, hat
zwei Einsätze in Afghanistan hinter sich
und ein Buch geschrieben („Ich diene
Deutschland“). Und doch sei da dieses
Gefühl, nicht ganz dazuzugehören.
Rund 15 Prozent der Soldaten haben ei-
nen Migrationshintergrund, im einfa-
chen Dienst sind es mehr als 25 Prozent.
Aber viele Deutsche ohne Migrations-
hintergrund glaubten, nur sie hätten
das Recht, Uniform zu tragen, sagt sie.
Auch innerhalb der Bundeswehr gibt
es Fälle von Rassismus. Leutnant Ham-
mouti sieht es so: Die Truppe muss prä-
sent sein. Soldaten – mit oder ohne Mi-
grationshintergrund – sollen sich in der
Öffentlichkeit zeigen, in Uniform. Sie
findet es gut, dass Kramp-Karrenbauer
kostenloses Bahnfahren für Soldaten er-
möglichen will. Die Leute, hofft die Sol-
datin, würden sehen, dass die Bundes-
wehr ein Spiegel der Gesellschaft ist,
„eine bunte, vielfältige Truppe“.
MITARBEIT: TIM RÖHN, CHRISTIAN SCHWEPPE

Uniform als Konfliktstoff


Obergefreiter der Bundeswehr wird in Berlin auf der Straße angegriffen. In der Truppe warnt man sich vor gefährlichen Orten. Gibt es eine tiefere Soldatenfeindlichkeit?


DIE MEISTEN GEHEN


NICHT IN UNIFORM


RAUS. DIE ZIEHEN


SICH IM BÜRO UM


NARIMAN HAMMOUTI,
Leutnant zur See

,,


mus, den Soldaten mit Migrationshin-
tergrund erleben. Hammouti wurde als
Tochter marokkanischer Eltern in
Deutschland geboren, und wenn man
sie fragt, ob sie Rassismus erfahren ha-
be, erzählt sie von Neubrandenburg.
2010 sei das gewesen, sie habe mehrere
Wochen in einer nahegelegenen Kaser-
ne verbracht, um ihren Lkw-Führer-
schein zu machen. Einmal sei sie in der
Mittagspause in die Stadt gefahren,

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