Die Welt Kompakt - 09.09.2019

(Ben Green) #1

18 ESSAY DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MONTAG,9.SEPTEMBER


G


erade, als die bren-
nenden Regenwälder
Amazoniens aus un-
seren Schlagzeilen
verschwunden waren, erfuhren
wir, dass zwei Tage, nachdem die
Regierung das vorsätzliche Ab-
brennen des Regenwalds verbo-
ten hatte, beinahe 4000 neue
Waldbrände entfacht worden
waren. Diese Zahlen lösen un-
willkürlich Alarm aus: Steuern
wir tatsächlich auf einen kollek-
tiven Selbstmord zu? Mit der
Zerstörung der amazonischen
Regenwälder töten die Brasilia-
ner die Lungen der Erde! Und so
weiter, und so fort.
Doch wenn wir uns ernsthaft
den Bedrohungen unserer Um-
welt stellen wollen, sollten wir
gerade diese schnellen Extrapo-
lationen vermeiden, die unsere
Einbildungskraft in Bann schla-
gen. Vor dreißig Jahren redeten
in Europa alle über das Waldster-
ben, es gab Berechnungen darü-
ber, wie es in einem halben Jahr-
hundert in Europa ohne Wälder
aussehen würde.
Und jetzt? Gibt es in Europa
mehr Wälder als jemals im 20.
Jahrhundert, und uns werden
langsam andere Gefahren be-
wusst, zum Beispiel, was sich in
den Tiefen des Ozeans abspielt.
Obwohl wir ökologische Bedro-
hungen sehr ernst nehmen müs-
sen, sollten wir uns gleichzeitig
darüber im Klaren sein, wie unsi-
cher die Analysen und Projektio-
nen in diesem Bereich sind – wir
werden erst genau wissen, was
los ist, wenn es zu spät sein wird.
Schnelle Schlussfolgerungen ge-

ben nur den Leugnern der Kli-
maerwärmung Feuer, deshalb
sollten wir die Falle einer „Öko-
logie der Angst“ vermeiden: die
morbide Faszination einer he-
rannahenden Katastrophe.
Die Ökologie der Angst hat
die besten Chancen, zur vor-
herrschenden Ideologie des glo-
balen Kapitalismus zu werden,
ein neues Opium für die Mas-
sen, das die schwindende Religi-
on ersetzt: Sie übernimmt die
fffundamentale Funktion der al-undamentale Funktion der al-
ten Religion und installiert eine
unangefochtene Autorität, die
allem Grenzen setzen kann. Die
Lektion, die diese Ökologie uns
unablässig erteilt, ist unsere
Endlichkeit: Wir sind nur eine
Spezies auf dieser Erde und ein-
gebettet in eine Biosphäre, die
unseren Horizont erheblich
überschreitet.
In unserer Ausbeutung natür-
licher Ressourcen machen wir
Anleihen bei der Zukunft, also
sollten wir unsere Erde mit Res-
pekt behandeln, als etwas Heili-
ges, etwas, das nicht vollständig
entschlüsselt werden darf, et-
was, das für immer ein Geheim-
nis bleiben sollte und bleiben
wird, eine Macht, der wir ver-
trauen und die wir nicht beherr-
schen sollten.
Tatsächlich können wir nie-
mals die volle Herrschaft über
unsere Biosphäre erlangen, aber
unglücklicherweise liegt es in
unserer Macht, sie zum Entglei-
sen zu bringen, so dass sie Amok
läuft und uns in diesem Prozess
mit sich fortreißt. Dies ist auch
der Grund dafür, warum sich

hinter den ständigen Appellen
der Umweltschützer, wir sollten
unseren Lebensstil radikal än-
dern, das genaue Gegenteil ver-
birgt, nämlich ein tiefes Miss-
trauen gegenüber dem Wandel,
der Entwicklung, dem Fort-
schritt: Jede radikale Verände-
rung könnte die ungewollte Kon-
sequenz haben, eine Katastrophe
auszulösen.
Und hier wird die Sache noch
komplizierter. Sogar, wenn wir
die Bereitschaft zeigen, Verant-
wortung für ökologische Kata-
strophen zu übernehmen, kann
diese Verantwortung auch eine
List sein, um den wahren Dimen-
sionen der Bedrohung auszuwei-
chen. Es liegt etwas trügerisch
Beruhigendes in der Bereit-
schaft, die Schuld für die Bedro-
hung der Umwelt auf uns zu neh-
men: Wir sind gerne schuldig,
denn wenn wir schuldig sind,
hängt alles von uns ab: Wir zie-
hen die Fäden der Katastrophe,
damit wir uns retten können, in-
dem wir unser Leben ändern.
Was für uns – zumindest für
uns im Westen – wirklich schwer
zu akzeptieren ist: dass wir auf
die rein passive Rolle eines ohn-
mächtigen Beobachters redu-
ziert werden, der nur herumsit-
zen und zusehen kann, was das
Schicksal mit ihm vorhat. Und
um so eine Situation zu vermei-
den, neigen wir dazu, uns frene-
tisch bis obsessiv zu beschäfti-
gen, Altpapier zu recyceln, Bio-
Lebensmittel zu kaufen, was
auch immer, nur, damit wir si-
cher sein können, etwas zu tun,
unseren Teil beizutragen – wie

ein Fußballfan, der seine Mann-
schaft zu Hause vor dem Fernse-
her anfeuert, brüllt und auf sei-
nem Sessel auf und ab springt, in
dem Aberglauben, dass sein Ver-
halten auf irgendeine Art das
Spielergebnis beeinflussen wird.
Im Hinblick auf die Ökologie
geht die typische Form fetischis-
tischer Verleugnung ungefähr so:
„Ich weiß sehr wohl (dass wir al-
le bedroht sind), aber ich glaube
es nicht wirklich (deshalb bin ich
nicht bereit, etwas wirklich
Wichtiges zu tun, etwa mein Le-
ben ändern).“ Doch es gibt auch
die entgegengesetzte Form der
Verleugnung: „Ich weiß sehr
wohl, dass ich den Prozess, der
zu meinem Ruin führen könnte,
nicht wirklich beeinflussen kann
(ähnlich wie bei einem Vulkan-
ausbruch), doch trotzdem ist es
für mich viel zu traumatisch,
dies zu akzeptieren, und deshalb
kann ich dem Drang, irgendwas
zu tun, nicht widerstehen, auch
wenn ich weiß, dass es letztend-
lich bedeutungslos ist.“
Kaufen wir nicht aus genau
diesem Grund Bio-Lebensmittel?
Wer glaubt denn wirklich, dass
diese genauso halbverfaulten wie
teuren „biodynamischen“ Äpfel
tatsächlich gesünder sind? Der
Punkt ist: Indem wir sie kaufen,
kaufen und konsumieren wir
nicht nur ein Produkt. Wir ma-
chen etwas Bedeutsames, zeigen,
dass wir uns um die Welt küm-
mern und werden so Teil eines
großen, kollektiven Projekts.
Die vorherrschende ökologi-
sche Ideologie behandelt uns a
priori als schuldig, Mutter Natur

Der Amazonas


BRENNT


Warum fühlen wir


uns so gerne


schuldig an


Umweltkatastrophen



  • und glauben,


es würde helfen,


wenn wir Altpapier


recyceln und


Bio-Produkte kaufen?


Die Ökologie der


Angst ist das


neue Opium für


die Massen.


Ein Essay von


Slavoj Zitek


– na


und


?

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