Die Welt Kompakt - 09.09.2019

(Ben Green) #1

verschuldet, unter dem ständi-
gen Druck der ökologischen
Über-Ich-Agentur, die uns in un-
serer Individualität anspricht:
„Was hast du heute getan, um
deine Schulden bei der Natur zu-
rück zu zahlen? Hast du alle Zei-
tungen in den richtigen Recyc-
ling-Abfalleimer entsorgt? Und
die ganzen Bierflaschen und Co-
la-Dosen? Bist du mit dem Auto
irgendwo hingefahren, wohin du
auch mit dem Fahrrad oder mit
öffentlichen Verkehrsmitteln
hättest fahren können? Hast du
die Klimaanlage eingeschaltet,
statt einfach die Fenster zu öff-
nen?“
Die ideologischen Einsätze
solch einer Individualisierung
sind einfach zu erkennen: Ich
verliere mich in meiner eigenen
Selbstbetrachtung, anstatt viel
drängendere globale Fragen über
unsere gesamte industrielle Zivi-
lisation aufzuwerfen. Daher eig-
net sich die Ökologie prima für
ideologische Täuschungen: als
Vorwand für New-Age-Verdunk-
lungen (die Verherrlichung der
vormodernen „Paradigmen“
etc.), für einen Neokolonialismus
(wie zum Beispiel die Beschwer-
den der ersten Welt darüber, wie
die schnelle Entwicklung von
Drittweltländern wie Brasilien
oder China uns alle bedroht)
oder aber als Honoris Causa


„grüner Kapitalisten“ (grüner
Konsum, Recycling – als ob Öko-

„grüner Kapitalisten“ (grüner
Konsum, Recycling – als ob Öko-

„grüner Kapitalisten“ (grüner

logie die kapitalistische Ausbeu-
tung irgendwie rechtfertigen
würde).
All diese Spannungen explo-
dierten in den Reaktionen auf
die letzten Feuer im Amazonas-
Gebiet. Es gibt fünf Hauptstrate-
gien, um die wahren Ausmaße
der ökologischen Bedrohung zu
verschleiern: (1) die einfache Un-
wissenheit: Es ist eine Rander-
scheinung und gar nicht wert,
dass wir uns mit ihr beschäfti-
gen, das Leben geht weiter, die
Natur wird es schon selbst rich-
ten; (2) Wissenschaft und Tech-
nik können uns retten; (3) Man
sollte die Lösung dem Markt
überlassen (höhere Besteuerung
der Umweltsünder etc.); (4)
Druck des Über-Ichs auf persön-

der Umweltsünder etc.); (4)
Druck des Über-Ichs auf persön-

der Umweltsünder etc.); (4)

liche Verantwortung anstelle
groß angelegter systemischer
Maßnahmen: Jeder von uns soll-
te tun, was er/sie kann – Recyc-
ling, reduzierter Konsum etc.; (5)
das vielleicht Schlimmste von al-
lem ist das Verfechten einer
Rückkehr zum natürlichen
Gleichgewicht, zu einem an-
spruchsloseren, traditionelleren
Leben, in dem wir die menschli-
che Hybris aufgeben und wieder
zu respektvollen Kindern unse-
rer Mutter Natur werden — die-
ses ganze Bild einer Mutter Na-

tur, die durch unsere Hybris aus
dem Gleichgewicht gebracht
wurde, ist falsch. Die Tatsache,
dass unsere Hauptenergiequel-
len (Öl, Kohle) Überbleibsel ver-
gangener Katastrophen sind, die
sich vor dem Aufkommen des
Menschen ereigneten, ist eine
schöne Erinnerung daran, dass
diese Mutter Natur eine kalte,
grausame Schlampe ist.
Dies soll aber natürlich nicht
heißen, dass wir uns zurückleh-
nen und auf unsere Zukunft ver-
trauen können: Der Umstand,
dass nicht klar ist, was gerade
passiert, macht die Situation so-
gar noch gefährlicher. Wie zu-
dem schnell ersichtlich wird,
werden sich Migrationsbewegun-
gen (und die Mauern, die sie ver-
hindern sollen) immer stärker
mit ökologischen Störungen wie
der Erderwärmung verzahnen, so
dass die „ökologische Apokalyp-
se“ und die „Flüchtlings-Apoka-
lypse“ sich mehr und mehr über-
schneiden und zu dem werden,
was UN-Sonderberichterstatter
Philip Alston einmal treffend als
„Klima-Apartheid“ bezeichnet
hat: „Wir riskieren ein Klima-
Apartheid-Szenario, in dem die
Reichen dafür bezahlen, Überhit-
zung, Hunger und politischen
Konflikten zu entkommen, wäh-
rend man den Rest der Welt lei-
den lässt.“ Diejenigen, die am

wenigsten für die Erd-Emissio-
nen können, haben gleichzeitig
die geringsten Möglichkeiten,
sich zu schützen.
Also lautet die leninistische
Frage: Was ist zu tun? Wir sitzen
ganz tief in der Patsche: Es gibt
hier keine einfache „demokrati-
sche“ Lösung. Die Idee, dass die
Menschen selbst (nicht nur Re-
gierungen und Unternehmen)
entscheiden sollten, hört sich
tiefsinnig an, weicht aber einer
wichtigen Frage aus: Selbst wenn
ihre Wahrnehmung nicht von un-
ternehmerischen Interessen ver-
zerrt sein sollte, was befähigt die
Menschen dazu, in solch einer
heiklen Angelegenheit ein Urteil
zu fällen?
Die radikalen Maßnahmen, die
von einigen Ökologen vorge-
schlagen werden, können zudem
neue Katastrophen auslösen. Se-
hen wir uns einmal die Idee von
SRM (Solar Radiation Manage-
ment) an, also die ständige mas-
sive Streuung von Aerosolen in
unsere Atmosphäre, um Sonnen-
licht aufzunehmen und zu reflek-
tieren, also die Sonne zu verdun-
keln und so den Planeten abzu-
kühlen. SRM ist extrem riskant,
es könnte die Ernteerträge dras-
tisch verringern und den Wasser-
kreislauf unwiderruflich verän-
dern, um nicht noch viele weitere
„Unbekannte“ zu erwähnen. Wir

können uns nicht einmal vorstel-
len, wie die zerbrechliche Balan-
ce unserer Erde funktioniert und
auf welche unvorhersehbare
Weise dieses Geo-Engineering
sie zerstören könnte.
Was wir aber zumindest tun
können, ist, die Prioritäten rich-
tig zu setzen und die Absurdität
unserer geopolitischen Kriegs-
spielchen zu erkennen – wenn
genau der Planet, um den Kriege
ausgetragen werden, selbst be-
droht ist. Das alberne Spiel, dass
Europa Brasilien beschuldigt und
Brasilien Europa beschuldigt,
muss einfach aufhören. Ökologi-
sche Bedrohungen machen vor
allem eines klar, nämlich, dass
die Ära souveräner Nationalstaa-
ten auf ihr Ende zusteuert –
stattdessen wird starke globale
Handlungsfähigkeit gebraucht,
gepaart mit der Macht, die not-
wendigen Maßnahmen zu koor-
dinieren. Und zeigt das Bedürfnis
nach solch einer Handlungsfähig-
keit vielleicht auch in Richtung
desjenigen, was wir einmal
„Kommunismus“ nannten?

TSlavoj Zizek, geboren 1949 in
LLLjubljana, ist Philosoph. Zuletzt jubljana, ist Philosoph. Zuletzt
erschien von ihm „Wie ein Dieb
bei Tageslicht. Macht im Zeit-
alter des posthumanen Ka-
pitalismus“. Aus d. Engl. von
Christina Borkenhagen

DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT MONTAG, 9. SEPTEMBER 2019 ESSAY 19


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