Die Welt Kompakt - 09.09.2019

(Ben Green) #1

KULTUR DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MONTAG,9.SEPTEMBER2019 SEITE 20


D


ie beiden wichtig-
sten Preise der
Filmfestspiele in Ve-
nedig gingen an die
beiden Filme, bei denen man
das nicht für möglich gehalten
hätte: der Goldene Löwe an
Todd Phillips’ „Joker“ mit Joa-
quin Phoenix (deutscher Kino-
start: 10. Oktober) und der Gro-
ße Preis der Jury an Roman
Polanskis „J’accuse ...“.

VON HANNS-GEORG RODEK

„Joker“ war zwar gefeiert
worden, aber die wichtigsten
Festivalpreise landen sonst
nicht bei Hollywood-Großpro-
duktionen. Auch „J’accuse ...“
wurde mit Lob überhäuft, aber
die Jurypräsidentin Lucrecia
Martel hatte schon vor dem Fe-
stival wissen lassen, dass sie
wegen der Vergewaltigungsaf-
färe keinerlei Kontakt mit dem
Regisseur zu haben wünsche;
den Preis für seinen Film ver-
kündete sie mit steinernem Ge-
sicht, und im Publikum gab es
Missfallenskundgebungen.
Wahrscheinlich hat die Jury aus
einfachen praktischen Gründen
gehandelt: Bessere Filme waren
bei der 76. Ausgabe der Bienna-
le schlicht nicht vorhanden.
Den ewigen Wettbewerb mit
Cannes um das beste Festival
des Jahres (den Venedig voriges
Jahr gewann) hat es diesmal
haushoch verloren. Das zeigte
sich am deutlichsten bei dem
drittwichtigsten Preis für die
Regie, der an den Schweden

Roy Andersson für „Om det
oämdliga“ (Über die Unend-

Roy Andersson für „Om det
oämdliga“ (Über die Unend-

Roy Andersson für „Om det

lichkeit) ging. Andersson, in-
zwischen 76, ist ein in seinem
Stil einzigartiger Filmemacher,
und sein „Eine Taube sitzt auf
einem Zweig und denkt über
das Leben nach“ hat vor fünf
Jahren zurecht den Goldenen
Löwen gewonnen. Seine „Un-
endlichkeit“ ist damit vergli-
chen ein schwacher Abklatsch.
Der Preis für das beste Dreh-
buch ging an den chinesischen
Regisseur Yonfan und seinen
Animationsfilm „No.7 Cherry
Lane“. Der Film lebt von einer
bonbonbunten Nostalgie und
spielt im Hongkong des Jahres


  1. Dies ist ein besonderes
    Jahr in der Geschichte der
    Kronkolonie, tauchten doch da-
    mals Horden kulturrevolutio-
    närer Aktivisten vom Festland
    auf und demonstrierten gegen
    die britische Kolonialmacht. Sie
    legten Bomben, die Stadtregie-
    rung rief den Notstand aus, die
    Polizei ging brutal vor, 51 Men-
    schen starben. Die Erinnerung
    an 1967 ist ein Menetekel für
    das, was Hongkongs Bürger
    heute erneut befürchten.
    Der Film von Yonfan, dem
    Prinzen des queeren chinesi-
    schen Kinos, der in Venedig un-
    weigerlich einen weißen Stroh-
    hut mit schwarzem Band, ein
    rot gepünkteltes Halstuch und
    weiße Turnschuhe trug, verbin-
    det eine Liebesgeschichte mit
    den dramatischen Ereignissen
    und ist vor allem ein ästheti-
    sches Erlebnis, nicht primär ein


Drehbuchkunstwerk. Yonfan
dankte Hongkong dafür, „dass
es mir alle Freiheit für diesen
Film gelassen hat“. Für alle, die
es vielleicht nicht begriffen,
setzte er hinzu: „Schon als ich
von Taiwan nach Hongkong
übersiedelte, habe ich auf See
den Geruch von Freiheit ge-
spürt.“ Überhaupt, die Dankes-
reden. Der Italiener Luca Mar-
tinelli, der in der Jack-London-
Verfilmung „Martin Eden“
einen Proletarier spielt, der es
durch Selbststudium nach oben
schaffen will, gewann den be-
sten Schauspieler: „Diesen
Preis widme ich all den Men-
schen, die auf hoher See Men-
schen retten.“
Die Marseillerin Ariane Asca-
ride – seit 30 Jahren und 20 Rol-
len Star der Filme ihres Ehe-
manns Robert Guédiguian –
wurde zur besten Schauspiele-
rin gekürt; in „Gloria Mundi“
versucht sie verzweifelt, ihre
Familie zu retten, und muss
feststellen, dass die neoliberale
Raffideologie inzwischen auch
die letzte Bastion geschliffen
hat, den Zusammenhalt der Fa-
milie. „Ich bin als Tochter ita-
lienischer Emigranten mit dem
Schiff nach Marseille gekom-
men“, erzählte sie. „Dieser
Preis ist für alle, die auf dem
Grunde des Mittelmeeres
schlafen.“ Im Publikum müssen
dem Kulturminister Bonisoli
aus dem Kabinett des Hafen-
sperrers Salvini die Ohren ge-
klungen haben. Der kurioseste
Dank – noch nie bei solch einer

Zeremonie vernommen – kam
von dem Filipino Raymond Ri-
bay Gutierrez, dessen „Verdict“
einen Spezialpreis in der Orri-
zonti-Sektion bekam: „Ich will
Gott danken, der mir die Ener-
gie gegeben hat, all die verrück-
ten Dinge für diesen Film zu
tun.“ Ein Preisträger von den
Philippinen, dessen Mentor
sein Landsmann Brillante Men-
doza ist, ehrt eines der Länder,
die bislang selten bei einem
A-Festival gewannen. Wenn
man die Gewinner der Nach-
wuchskategorien in Venedig –
Virtuelle Realität, Orizzonti,
Erstlinge – Revue passieren
lässt, kommen sie alle aus den
Randregionen der Kinemato-
grafie: der Nigerianer Joel
Kachi Benson („Ich stehe hier
als Repräsentant meines Lan-
des und Kontinents“), die Bra-
silianer Ricardo Laganaro und
Bárbara Paz, der Sudanese Am-
jad Abu Alala (dessen Schau-
spieler kein Visum für Venedig
erhielten), der Pakistani Saim
Sadiq (dessen Visum im ersten
Anlauf auch abgelehnt wurde),
der tunesischstämmige franzö-
sische Schauspieler Sami Boua-
jila, der Chilene Théo Court
(Regisseur), die Spanierin Mar-
ta Nieto (Schauspielerin), der
ukrainische Regisseur Valentyn
Vasyanovich. Nun sind Festival-
selektionen und -ehren immer
Ermessenssache, aber Venedig
2019 ist eine Erinnerung daran,
dass sich die Ränder der Kine-
matografie rapide auf dessen
Zentrum zubewegen.

Intensive Darstellung: Der 44-jährige Joaquin Phoenix verkörpert in „Joker“ auf grandiose Weise den Erzfeind von Batman

DPA

/NIKO TAVERNISE

Canneswar dieses Jahr besser


Die beiden wichtigsten Preise der Filmfestspiele in Venedig gehen an


an Todd Phillips’ „Joker“ mit Joaquin Phoenix und an Roman Polanskis „J’accuse ...“


DESSAU

Bauhaus-Museum
festlich eröffnet

Nach zweieinhalb Jahren
Bauzeit ist das neue Bauhaus-
Museum Dessau am Sonntag
mit einem Festakt eröffnet
worden. Bundeskanzlerin
Angela Merkel würdigte das
Bauwerk als neuen Ort der
Erinnerung an ein „gutes
Stück deutscher Geschichte“.
Die weltweit zweitgrößte
Bauhaus-Sammlung habe
damit 100 Jahre nach der
Gründung der Architektur-
und Designschule ein „würdi-
ges Zuhause“ bekommen,
sagte Merkel bei dem Festakt.

AUSZEICHNUNG

Elsner-Preis an
Barbara Auer

Die Schauspielerin Barbara
Auer hat in Starnberg den
ersten Hannelore-Elsner-
Preis für bedeutende Schau-
spielkunst erhalten. Das Fünf
Seen Filmfestival habe den
mit 5000 Euro dotierten
Preis verliehen, um die im
April verstorbene Hannelore
Elsner zu ehren, wie es hieß.

KOMPAKT


D


ie Bundesregierung
hat ein Agrarpaket ge-
packt. Darin enthal-
ten sind Absichtserklärungen,
Vorschläge und, wo es sich ab-
solut nicht vermeiden ließ,
auch ein paar Regelungen. Be-
schlossene Sache ist das frei-
willige Tierwohllabel. Darauf
kann der Verbraucher ablesen,
wie das Schwein gelebt hat,
bevor es tot war. Die höchste
Stufe des Tierwohllabels be-
kommen nur Schweine, die
sich überwiegend draußen, in
Sichtweite eines humanisti-
schen Gymnasiums oder einer
Waldorfschule aufgehalten
und sich freiwillig für den Tod
in einer Sterbehilfe-Einrich-
tung entschieden haben.
Ebenfalls beschlossen wurde
ein Verbot von Glyphosat bis


  1. Schon ab 2020 darf es
    nicht mehr als Zusatz in Baby-
    nahrung und Longdrinks Ver-
    wendung finden. Landwirte
    müssen außerdem Rückzugs-
    flächen für Insekten schaffen,
    auf denen sie sich vom Kon-
    takt mit Pflanzenschutz- und
    Düngemitteln erholen kön-
    nen. Die Rückzugsflächen
    dürfen sich auch im Haus des
    Landwirts befinden, müssen
    aber gut zugänglich sein, zu-
    mindest sollten die Insekten
    wissen, wo der Schlüssel liegt.


Zippert


zappt

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