Die Welt Kompakt - 09.09.2019

(Ben Green) #1
NNNabil Aubeidy ist Jugend-abil Aubeidy ist Jugend-
Sozialarbeiter in Neukölln

Wir besprechen uns in der Ar-
beitsgruppe Kinder- und Jugend-
kriminalität– das ist ziemlich
einzigartig in Berlin. Wir sind
drei Sozialarbeiter und treffen
uns regelmäßig mit Polizeibeam-
ten, Staatsanwälten, Familien-
richtern und Lehrern oder Schul-
leitern. Das Ganze greift den Ge-
danken der verstorbenen Ju-
gendrichterin Kirsten Heisig auf:
Die Behörden müssen sich besser
vernetzen, um Jugendkriminali-
tät erfolgreich zu bekämpfen. In
dieser Gruppe sprechen wir also
einzelne Fälle von kriminellen
Jugendlichen durch und ent-
scheiden dann, welche Familien
ich aufsuche.


Zum Beispiel?
Ganz jugendtypische Straftaten
interessieren uns nicht, wenn ei-
ner etwa zwei-, dreimal was im
Supermarkt mitgehen lässt. Uns
interessiert der Jugendliche, der
PayPal-Accounts knackt und da-
mit Elektroroller oder
DriveNow-Autos mietet und
Straftaten begeht. Oder der
Zwölfjährige, der mehrere Kilo
Rinderfilet bei Karstadt klaut. Da
ist klar, da läuft im Kopf was
falsch, da steckt was dahinter.
Entweder ein reicher Typ, der
ihm sagt: Geh mal was Gutes zu
essen für uns holen, und der Jun-
ge behält das Geld lieber und
klaut die Sachen – oder auch or-
ganisierte Kriminalität.


Wie erfolgreich sind Sie damit,
die Jugendlichen von ihrer kri-
minellen Karriere abzubrin-
gen?
Die Kriminalität sinkt schnell,


sobald ich klarmache, hey, wir
haben dich im Blick! Wenn du
noch mal so ein Ding drehst,
kommst du vor Gericht nicht
mehr einfach durch. Ich bekom-
me meist auch sehr schnell die
Unterstützung der Familien.
Aber die Jugendlichen dann dazu
zu bringen, nicht mehr abzuhän-
gen, sondern wieder zur Schule
zu gehen oder eine Ausbildung
anzufangen – das ist eine sehr
viel größere Baustelle. Wenn die
dann plötzlich um acht Uhr auf-
stehen sollen ... das ist eine Zeit,
zu der sie normalerweise erst ins
Bett gehen.

Was war Ihr letzter großer Ein-
satz?
Einige Jugendliche haben sich
wie Kranke im Neuköllner Lip-
schitzbad aufgeführt, sind über
Badegäste rübergesprungen, ha-
ben rumgepöbelt und geklaut.
Ich habe direkt den Vater des An-
führers angerufen, und der sagte
zu seinem Sohn: „Komm mal her,
Früchtchen!“ Wenn die Jugendli-
chen merken, oh Gott, die reden
ja alle miteinander, dann hat das
direkt einen heilsamen Effekt.

Wie arbeiten Sie mit den Ju-
gendlichen dann dauerhaft?
Ich bin ja nicht nur Sozialarbei-
ter, sondern auch Anti-Gewalt-
Trainer und stecke in der Ausbil-
dung zum Kinder- und Jugend-
psychotherapeuten. Ich suche
mir die passenden Elemente zu-
sammen. Ich entwickele Ziele
mit den Jugendlichen und erstel-
le einen Zeitplan. Was will er er-
reichen? Ich frage ihn, wie er sich
fühlt und wer ihn bei seinen Vor-

haben unterstützen kann. Meis-
tens kommt da nicht viel. Das ist
schon sehr traurig.

Wie groß sind die Hürden, die
Sie vonseiten der Jugendlichen
oder der Familien überwinden
müssen?
Die sind gar nicht groß. Ich habe
seit Anfang 2017 nun etwa mit 40
Jugendlichen gearbeitet. Kein
Einziger hat gesagt, dass er nicht
mitmachen will – und ich bekom-
me ja nur die harten Fälle, bei de-
nen die Familienhilfe des Jugend-
amtes nicht weiterkommt. Oft
passen die Kollegen und die Ju-
gendlichen einfach nicht richtig
zusammen. Ich weiß, wie ich mit
den Jugendlichen reden muss,
und finde schnell einen Draht.
Ich sage Ihnen: Die freuen sich,
wenn sich endlich jemand für sie
interessiert.

Wie viele von den Jugendlichen
werden rückfällig?
Ich schätze mal, rund ein Drittel
wird wieder kriminell. Aber die
meisten bekomme ich auf die
richtige Spur. Ich sage denen,
klar, ich kann dir eine Ausbildung
besorgen, aber du musst auch et-
was dafür tun. Ich will, dass du da
hingehst. Sonst bin ich die längs-
te Zeit dein Freund gewesen. Ei-
ner hat mich neulich gefragt, sind
Sie auf der Straße aufgewachsen?
Da musste ich lachen. Meine Ver-
gangenheit kommentiere ich
nicht. Ich sage nur: Es wäre eben
gut, wenn es mehr von meiner
Sorte geben würde – welche, die
beide Seiten kennen.

Also sind Sie Vorbild für die Ju-
gendlichen?
Klar, auch. Ich lebe in Neukölln,
habe meine Familie, vier Kinder.
Die Jugendlichen merken, dass
ich sie mag und mich für sie ein-
setze. Und dann sehen sie im Ge-
richtsprozess, dass ich neben der
Staatsanwältin sitze und sie sich
nach meiner Meinung erkundigt.
Und wenn ich ihr sage: einen Mo-
nat Dauerarrest, das wäre jetzt
kontraproduktiv, wir sind gerade
auf einem sehr guten Weg, dann
hört sie vermutlich auf mich. Das
flößt den Jugendlichen natürlich
ungeheuren Respekt ein.

Und Ihre Kontakte setzen Sie
auch als Druckmittel ein?
Klar, ich sage den Jugendlichen:
„Ich kann für dich was rausholen
vor Gericht. Die hören im Ge-
richtssaal auf mich. Aber dafür
musst du etwas tun. Bekomme
ich einen Anruf von der Polizei,
dann gehe ich nicht mit vor Ge-
richt.“ Auf Arabisch sagt man:
„Gib mir dein Manneswort! Ich
lass mich nicht von dir auf den
Arm nehmen.“

Die Jugendrichterin Kirsten
Heisighat ja in ihrem Neuköll-
ner Modell vor allem gefordert,
dass der Gerichtsprozess weni-
ge Wochen nach der Straftat ei-
nes Jugendlichen folgen muss.
Das wäre unglaublich wichtig,
aber es vergeht oft immer noch
ein Jahr, bis es zum Gerichtster-
min kommt. Da herrscht hoff-
nungslose Überlastung.

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MONTAG,9.SEPTEMBER2019 PANORAMA 31


auf den Gehweg geraten. Der
Sportgeländewagen knickte ei-
nen Ampelmast und mehrere
Poller um, durchbrach einen
Bauzaun und kam erst auf einem
Baugrundstück zum Stehen.
„Man kann nicht einfach sa-
gen: Ein SUV ist grundsätzlich
gefährlicher als ein Polo oder als
ein Smart“, sagte der Unfall-
forscher der Versicherungswirt-
schaft, Siegfried Brockmann, am
Sonntag. Mehr Einfluss als das
Gewicht habe die Geschwindig-
keit und die Art des Zusammen-
stoßes, erklärte er. Im Berliner
Fall hätte aber der Ampelmast
einen Polo möglicherweise
aufgehalten.
Auf dem Gehweg kam neben
dem Kleinkind eine 64-jährige
Frau ums Leben – nach unbestä-
tigten Informationen die Groß-
mutter des Jungen. Zudem wur-
den zwei Männer im Alter von
28 und 29 Jahren getötet. Der 42
Jahre alte SUV-Fahrer erlitt
Kopfverletzungen und liegt im
Krankenhaus. Um die Unfall-
ursache zu klären, wurde dem
Mann Blut entnommen. Auf ei-
ne vorsätzliche Tat deutet nach
Einschätzung der Polizei nichts
hin. Im Auto saßen auch ein
sechs Jahre altes Mädchen und
eine 67 Jahre alte Frau. Auch sie
erlitten einen Schock.

Berlins Regierender Bürger-
meister Michael Müller (SPD)
sprach von einem schrecklichen
Unfall. „Meine Gedanken sind
bei den Opfern, ihren Angehöri-
gen und Freunden.“ Zu der
Mahnwache am Unfallort hatten
die Vereine Verkehrsclub
Deutschland (VCD), FUSS und
Changing Cities aufgerufen. Zur
Ursachenforschung wollte die
Polizei den Unfall gegebenenfalls
im 3-D-Modell nachstellen. „Ent-
scheidend ist die Geschwindig-
keit“, erklärte der Unfallforscher
Brockmann. „Alles was jenseits
von 50 Stundenkilometern ist,
ist für einen menschlichen Kör-
per mindestens lebensgefährlich,
meistens aber auch tödlich, egal
mit welchem Fahrzeug.“

N


ach dem für vier Men-
schen tödlichen Unfall
in Berlin begleitet Kritik
an schweren Sportgelände-
wagen (SUV) die Suche nach der
Unglücksursache. Ein solches
hochmotorisiertes Auto war am
Freitagabend im Zentrum von
der Straße abgekommen und
hatte vier Fußgänger tödlich
verletzt, darunter einen dreijäh-
rigen Jungen. Nun wird disku-
tiert, ob SUV-Fahrzeuge beson-
ders gefährlich sind. Die Polizei
machte noch keine näheren An-
gaben, wie es zu dem Unfall
kommen konnte, und verwies
auf die nächsten Tage. In Be-
tracht gezogen wird unter ande-
rem ein medizinischer Notfall
beim Fahrer.
SUV (Sport Utility Vehicle)
sind bei Autokäufern in
Deutschland zunehmend be-
liebt, obwohl sie von Kritikern
als besonders umweltschädlich
bezeichnet werden. Im August
fiel mehr als jeder fünfte Neu-
wagen in diese Kategorie. Hinzu
kommen in der Statistik des
Kraftfahrt-Bundesamtes noch
zehn Prozent herkömmliche
Geländewagen.
Anwohner und Passanten
suchten auch am Sonntag den
Unfallort in Berlin auf. Blumen
lagen auf dem Weg, außerdem
Kerzen, Kuscheltiere und Bilder.
Am Samstagabend hatten etwa
500 Menschen mit einer Mahn-
wache auf der Kreuzung Invali-
denstraße/Ackerstraße der Op-
fer gedacht. Vier Minuten lang
schwiegen sie am Unfallort – je
eine Minute für jedes Todesop-
fer. Auf Transparenten verlang-
ten Teilnehmer „Motorisierte
Gewalt stoppen“, sie kritisierten
„Motorisierte Mordwerkzeuge“.
Der Bezirksbürgermeister
von Berlin-Mitte, Stephan von
Dassel (Grüne), sagte: „Solche
panzerähnlichen Autos gehören
nicht in die Stadt. SUVs haben in
unseren Städten nichts zu su-
chen!“ Jeder Fahrfehler bedeute
Lebensgefahr für Unschuldige.
Verkehrssenatorin Regine Gün-
ther (Grüne) reagierte zurück-
haltender: „Wir müssen analy-
sieren, wie es zu diesem
schrecklichen Unfall kommen
konnte, bevor wir Konsequen-
zen ziehen können.“
Die Deutsche Umwelthilfe
hatte die Debatte eröffnet, in-
dem sie auf Twitter schrieb,
SUVs hätten in den Städten
nichts zu suchen. Sie erntete da-
für auch Kritik: So warf der Ber-
liner CDU-Bundestagsabgeord-
nete Jan-Marco Luczak dem
Verein und anderen vor, den Un-
fall zu instrumentalisieren.
Nach Anwohnerangaben hat-
te der Porsche Macan mit hoher
Geschwindigkeit auf der Gegen-
fahrspur den stehenden Verkehr
an der Ampel überholt und war

SUV-Debatte nach


tödlichem Unfall in Berlin


Bürgermeister: „Panzerähnliche Fahrzeuge“.


Experte: Nicht gefährlicher als andere Modelle


,,


Meine


Gedanken


sind bei den


Opfern, ihren


Angehörigen


und Freunden


Michael Müller, Berlins
Regierender Bürgermeister
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