Die Welt Kompakt - 09.09.2019

(Ben Green) #1

4 THEMA DES TAGES DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MONTAG,9.SEPTEMBER


A


dolf Hitler hasste Dia-
lekte. Seinen österrei-
chischen Ton hatte er
sich so komplett abtrai-
niert, dass der Soziologe Norbert
Elias, der ihn kurz vor der Flucht
ins Exil mehrmals Reden schwin-
gen gehört hatte, noch fast 60
Jahre später – im „Spiegel“-Son-
derheft zu Hitlers 100. Geburts-
tag 1989 – darüber kaum aus dem
Staunen kam. Als er die Macht er-
griffen hatte, untersagte der Dik-
tator jedwede öffentliche Förde-
rung für Dialekttheater und an-
dere Mundart erhaltende Maß-
nahmen.


VON MATTHIAS HEINE

Wenn man das Buch „Wörter,
die es nicht auf Hochdeutsch
gibt“ durchblättert, ahnt man,
wovor Hitler sich fürchtete. Wör-
ter sind ein Weg zur Welterkennt-
nis und zur Weltbeschreibung.
Phänomene, für die es kein Wort
gibt, lassen sich nicht nur nicht
aussprechen, sondern oft noch
nicht mal erkennen. Deswegen ar-
beiten in den USA beispielsweise
Botaniker mit Linguisten zusam-
men; denn in den zahllosen indi-
genen Sprachen gibt es Wörter für
Pflanzen, die die Naturwissen-
schaft bisher oft noch gar nicht als
eigene Spezies erkannt hat.
Totalitäre Systeme müssen des-
halb den Wortschatz minimieren,
um ihn besser kontrollieren zu
können. Dialekte, die die Hoch-
und Literatursprache mit immer
neuen wohlklingenden und tref-
fenden Ausdrücken bereichern,
sind ihnen ein Gräuel. Das Wort
Russenluft, das man ihm Thüringi-


schen und Hessischen für einen
eisigen Ostwind gebraucht, hätte
möglicherweise das „Unterneh-
men Barbarossa“ gefährden kön-
nen, denn es nahm ja sprachlich
schon vorweg, was dann im Win-
ter 1941 vor Moskau den deut-
schen Vormarsch stoppte. Mögli-
cherweise wäre sogar der ganze
Nationalsozialismus mit seinem
angescheuselten Personal (an-
scheuselnheißt in der Oberlausitz
„sich um Karneval besonders
scheußlich anziehen“) als Hunds-
verlocheteerkannt worden – so
nennt man im Berndeutschen ei-
ne wenig lohnende Veranstaltung.
Die Dialekte haben auch einen
differenzierten Wortschatz für ge-
sellschaftliche Phänomene, die im
Analysevokabular von Marx, Elias
und Adorno nicht vorkommen.
AAAuch solche Begriffsschärfe machtuch solche Begriffsschärfe macht
die Mundarten zum natürlichen
Feind jeder totalitären Gedanken-
kontrolle. Die Autorin Sofia Blind
und die wie immer zwischen Idyl-
le und Horror changierenden Il-
lustrationen von Nikolaus Heidel-
bach öffnen dem Leser geradezu


die Augen für manche übersehene
menschliche Wahrheit.
Einige Ausdrücke wie Adabei
für einen Menschen, den man
ständig auf gesellschaftlichen An-
lässen trifft, und Gschaftlhuber für
jemanden, der immerzu geschäf-
tig tut, sind auf dem Umweg über
die Literatur längst in die Stan-
dardsprache gelangt und stehen
im Duden. Sie sind schon fast so
weit verbreitet und bekannt wie
die immer mit der anzüglichen
französischen Aufforderung „Vi-
sitez ma tente!“ erklärten Fisima-
tenten, die es – wie die Autorin in
ihrem Vorwort berichtet – in fast
allen deutschen Gegenden gibt
und von denen Rheinländer, Ba-
denser, Sachsen und viele andere
glauben, das Wort existiere nur
bei ihnen. Wegen dieser Allgegen-
wart hat Sofia Blind den Ausdruck
nun gerade nicht aufgenommen.
Ausgeschieden hat sie auch
Wörter, die in den Mundarten ein-
fach nur unfassbar putzig klingen,
aber sich problemlos durch ein
einziges hochdeutsches Wort er-
setzen lassen wie Plüschmors
(Hummel), Breschdlingssälz(Erd-
beermarmelade), Oachkatzschwoaf
(Eichhörnchenschwanz) und
Chuchischächtli (Küchenschrank).
Sie entschied sich stattdessen für
50 Wörter, die auf Hochdeutsch
nur mehr oder weniger umständ-
lich umschrieben werden müssen.
Manche davon müssen drin-
gend überregional Karriere ma-

Was unser


Deutsch


verliert, wenn


die Dialekte


sterben


Wir brauchen mehr „Geheischnis“ und „Hollerfassli“,


aber weniger „Hundsverlochete“.


Hitler und die DDR wollten die Mundarten ausrotten.


50 besonders schöne Dialektwörter zeigen,


was damit verloren gegangen wäre


©DUMONT BUCHVERLAG, BLIND/ HEIDELBACH

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