Die Welt Kompakt - 09.09.2019

(Ben Green) #1

DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT MONTAG, 9. SEPTEMBER 2019 THEMA DES TAGES 5


chen. Denn anderswo werden sie
noch dringender benötigt als in
ihrem Ursprungsgebiet: Blomen-
kieker für einen langsam fahren-
den Touristen könnte man im
von Bier-Bikes, Bussen und Fahr-
radkonvois geplagten Berlin viel
besser gebrauchen als im hohen
Norden. Und wenn einem der
Makler eine überteuerte Bruch-
bude andrehen will, die kein Ge-
heischnis(saarländisch: ein Ge-
fühl von Geborgenheit) hervor-
ruft, hätte man in jeder deut-
schen Großstadt wohl gern das in
der halleschen Mundart gängige
Hornske zur Verfügung. Dann
doch lieber boofen, so nennt es
der Sachse, wenn er unter freiem
Himmel schläft.
Besonders auf der Zunge zer-
gehen lässt man sich die präzisen
Wörter für Tisch- und Theken-
Phänomene, die in den Dialekten
schlummern: Ein Tröstelbeer wird
im plattdeutschen Sprachraum
auf Beerdigungen ausgeschenkt,
und man kann nur hoffen, dass
der Gestorbene, als er schondoa-
delte(bayrisch: dem Tode nahe
sein), noch die Chance hatte, ein
Fluchtachterl(wienerisch:. letztes
Glas Wein vor dem Aufbrechen)
zu trinken. Jemanden der ufflädig
ist, also sich beim Essen zu viel
nimmt, hat wohl jeder schon in
Kantine oder am Büffet gesehen.
Das Gegenteil ist einer schneder-
frässigePerson – so nennt man in
der Schweiz Leute, die sehr wäh-


lerisch beim Essen sind. Die
kommen dann auch nicht in die
Verlegenheit, ihre Leiberl(öster-
reichisch: Kleidungsstück, das
auf dem Leib getragen wird) all-
zu spack (rheinisch: sehr eng sit-
zend) zu tragen, wie es nur Gas-
seglänzer(hessisch: Blender, die
sich gern anderen zeigen) tun.
Man sieht schon an dieser klei-
nen Auswahl: In den deutschen
Dialekten, Mundarten, Regional-
und Stadtsprachen sind noch vie-
le Schätze zu heben. Vor allem
macht dieses Buch auf eine char-
mante Weise anschaulich, dass
Mundarten nicht – wie viele
Menschen glauben – „falsches“
Deutsch von Zurückgebliebenen
sind. Dialekte sind eigene Spra-
chen mit eigenen lautlichen und
grammatischen Gesetzmäßigkei-
ten und eigenem Wortschatz. Sie
sind viel älter als unser Hoch-
deutsch, das erst etwa 500 Jahre
lang existiert. Auch wenn man
schon seit 800 n. Chr. von Alt-
hochdeutsch spricht und die
Epoche von 1050 bis 1350 als Mit-
telhochdeutsch bezeichnet, gab
es damals keine überregionale
Standardsprache, sondern nur
Dialekte. Ein in der ganzen Nati-
on halbwegs verbindliches
Deutsch ist erst nach der Erfin-
dung des Buchdrucks entstan-
den. Luthers Bibel war dafür ein
wichtiger Beschleuniger.
Das Neuhochdeutsch ist aus
einem Dialekt entstanden. Lu-

ther legte seiner Bibelüberset-
zung das Ostmitteldeutsche zu-
grunde, nicht nur weil es die
Sprache seines Sachsens war,
sondern weil er dieser Mundart,
die genau an der Grenze zwi-
schen dem südlichen oberdeut-
schen und dem nördlichen nie-
derdeutschen Raum entstanden
war, am ehesten zutraute, überall
verstanden zu werden.
Jedes deutsche Wort war also
ursprünglich ein Dialektwort.
Und unser Hochdeutsch ist ein
Dialektgemisch. Denn sein ost-
mittelhochdeutscher Kern ist im-
mer wieder um Wörter aus ande-
ren Mundarten bereichert wor-
den. Das fängt schon bei Luther
an, der sich entschied, in seiner
Bibelsprache niederdeutschen
Wörtern wie Lippe, Träneoder
Ziegeden Vorzug vor den ober-
deutschen Formen Lefze, Zähre
oder Geißzu geben.
Und es geht immer weiter.
Heute ganz hochsprachliche
Wörter wie Grenze(aus altpol-
nisch granica) oder Horde(aus ta-
tarisch ordo) waren ursprünglich
Mundartwörter in ostdeutschen
Dialekten. Die Schriftsteller ha-
ben immer wieder Mundartwör-
ter literaturfähig gemacht: Das
Schweizerische hat uns den
Putschbeschert, mit tatkräftiger
Hilfe Gottfried Kellers. Fontane
und Tucholsky hievten das berli-
nische blümerantin den überre-
gionalen Standard.

Und erst im 20. Jahrhundert
sind Schlawiner aus der Münch-
ner Stadtsprache und hinterfotzig
aus dem Bayerischen in die allge-
meine Hochsprache eingewan-
dert. Wie schnell ein Wort dann
seinen mundartlichen Beiklang
verlieren kann, zeigt sich deutlich
am heute gesamtdeutsch verbrei-
teten Abschiedsgruß tschüs, der
noch bis 1950 weitgehend auf den
niederdeutschen Sprachraum be-
schränkt war und dort ursprüng-
lich mundartlich atschüslautete.

Bevor die Dialekte verschwin-
den und wir alle sprachlich zurück-
dummen (ostpreußisch: verblöden
im Alter), sollten wir also drin-
gend noch einmal in dieses
Schatzkästlein greifen und so be-
zaubernde Wörter wie Amina-
schlupferle (im Allgäu: kleines
Kind, das gerne kuschelt) oder
Hollerfassli (fränkisch: Kinder-
spiel, bei dem man sich einen
Hang runterrollen lässt) zu retten.
Es wäre nicht nur ein Akt des
Antifaschismus, sondern auch das

Antikommunismus. Denn die
DDR hatte – wenig überraschend –
ein ähnliches Verhältnis zu den
Dialekten wie Hitler. In der „Klei-
nen Enzyklopädie Deutsche Spra-
che“, die 1983 in Ost-Berlin er-
schien, wird die Überwindung der
Mundarten im Arbeiter- und Bau-
ernstaat gefeiert: „Allerdings
scheint der Dialektgebrauch in der
BRD langsamer zurückzugehen als
in der DDR; das hat seine Ursache
vermutlich in der Beibehaltung
der für kapitalistische Verhältnis-
se typischen sozioökonomischen
Struktur sowie im Fehlen eines
einheitlichen und von Beschrän-
kungen freien Bildungssystems.“
Sozialismus und Nationalso-
zialismus waren sich eben einig:
Sie wollten den neuen, hundert-
prozentig in ihrem Sinne funktio-
nierenden Menschen. Keine Wul-
kenschuber(plattdeutsch: Nichts-
tuer, der die Wolken beobachtet)
sollten drömeln(westfälisch: ver-
träumt herumtrödeln) oder gar
tachinieren (österreichisch: sich
vor der Arbeit drücken). Mit den
Wörtern wollten sie auch die Er-
innerung daran auslöschen, dass
solche kleinen Freiheiten über-
haupt möglich sind.

TSofia Blind (Text), Nikolaus
Heidelbach (Bilder): „Wörter, die
es nicht auf Hochdeutsch gibt.
Von Anscheuseln bis Zurück-
dummen“ (Dumont, 112 Seiten,
1 8 Euro)

Böffchen nennt
man in Thürin-
gen kleine in
Karos geschnitte-
ne belegte Brote
(l.)
„Aminaschlup-
ferle” – so nennt
man im Allgäu
ein kleines Kind,
das gerne ku-
schelt (r.)

©

DUMONT BUCHVERLAG, BLIND/ HEIDELBACH

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