Die Welt Kompakt - 09.09.2019

(Ben Green) #1

POLITIK DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MONTAG,9.SEPTEMBER2019 SEITE 6


Merkel (CDU). Doch eine starke
Position nahm er da parteiintern
schon nicht mehr ein.
An der Parteispitze waren ihm
und seiner damaligen Ko-Vorsit-
zenden Simone Peters im Januar
2018 Robert Habeck und Annale-
na Baerbock gefolgt. Für Özde-
mir blieb nur der im Bundestags-
gefüge wichtige, aber in der Au-
ßenwirksamkeit begrenzt wahr-
genommene Vorsitz des Aus-
schusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur. Obwohl er in ful-

minanten Parlamentsreden die
AfD ebenso attackierte wie den
türkischen Ministerpräsidenten
Recep Tayyip Erdogan, drohte
ihm das Vergessenwerden auf
dem Elefantenfriedhof steil ge-
starteter und dann ins Hinter-
treffen geratener Oppositionspo-
litiker.
Derzeit würden ihm ja alle
möglichen Positionen anempfoh-
len, scherzte Özdemir dieser Ta-
ge mit Parteifreunden. Er solle
doch den Vorsitz bei „seinem“

VfB Stuttgart anstreben, dessen
Präsident Wolfgang Dietrich
neulich seinen Rücktritt erklärt
hatte. Das wäre, so hätten sie ar-
gumentiert, doch ideal für die
Grünen im Ländle – der VfB-Fan
Özdemir gewissermaßen als grü-
nes Pendant zum CDU-Land-
tagsabgeordneten Gerhard May-
er-Vorfelder, der den derzeitigen
Zweitligisten ein Vierteljahrhun-
dert lang bis ins Millennium
führte und danach Präsident des
DFB wurde.

W


er bei Cem Özde-
mir vergangene
Woche genau hin-
hörte, der wusste,
dass der grüne Bundestagsabge-
ordnete die Tür noch einen
Spaltbreit offen sah. Wenn er am


  1. September für den Vorsitz
    der Bundestagsfraktion und da-
    mit gegen Katrin Göring-Eckardt
    oder Anton Hofreiter kandidie-
    ren wolle, müsse er dann nicht
    unverzüglich seinen Hut in den
    Ring werfen?


VON ANSGAR GRAW

Nun ja, wiegelte der 53-jährige
Schwabe ab, theoretisch könne
man bis zum Beginn der besagten
Fraktionssitzung seinen Finger
heben. Am Samstag war der
Machtkampf dann doch etwas
früher und offiziell eröffnet.
Özdemir hat die noch nicht
ganz geschlossene Tür zur Be-
werbung um die Fraktionsspitze
mit überraschender Entschlos-
senheit aufgetreten. Im Doppel-
pack an der Seite der 52-jährigen
Bremer Bundestagsabgeordne-
ten Kirsten Kappert-Gonther for-
dert Özdemir bei den Wahlen in
knapp drei Wochen Göring-Eck-
ardt und Hofreiter heraus.
Im Bewerbungsbrief an die
Partei zeigten sich „Eure Kirsten
und Euer Cem“ davon überzeugt,
„dass ein fairer Wettbewerb der
Fraktion guttut – nach außen wie
nach innen“. Das mag sein.
„KGE“, wie die dem eher bürger-
lichen Flügel zugerechnete Thü-
ringer Protestantin in der Partei
gekürzelt wird, und der als linker
Pragmatiker geltende bajuwari-
sche „Hofreiter Toni“ werden
zwar von den Abgeordneten ak-
zeptiert. Doch Begeisterung über
eine Wiederwahl war in der Frak-
tion nicht zu spüren, als sie sich
vergangene Woche zur Klausur
in Weimar traf.
Während in der Partei durch
das Spitzenduo Robert Habeck
und Annalena Baerbock durchaus
Aufbruch zu spüren und aus
Wahlergebnissen abzulesen ist,
vermittelt die kleinste Bundes-
tagsfraktion eher nur den Ein-
druck von Routine. Özdemir, der
1965 auf der Schwäbischen Alb
geborene Sohn von Türken, die
damals als Gastarbeiter galten,
will nun Dynamik in die Reihen
der Abgeordneten bringen. Bis
zur Bundestagswahl gehe es da-
rum, „mit neuem Schwung der
Gegenpol einer schwachen Re-
gierung zu sein“, schreiben die
beiden Herausforderer.
Der gelernte Erzieher Özde-
mir war bei der vergangenen
Bundestagswahl 2017 noch Vor-
sitzender und Spitzenkandidat
seiner Partei, zusammen mit Gö-
ring-Eckardt, die er jetzt ablösen
will. Für den Fall einer Jamaika-
koalition wurde er als möglicher
Außenminister gehandelt. Laut
Meinungsumfragen war der in
seiner Partei im bürgerlichen
Flügel verortete Özdemir vor gut
einem Jahr vorübergehend sogar
der beliebteste deutsche Politi-
ker, noch vor Kanzlerin Angela

Blickt gespannt
in die Zukunft:
Cem Özdemir

MARTIN U. K. LENGEMANN/ WELT

HESSEN

Entsetzen nach Wahl
von NPD-Politiker

Der Ortsbeirat einer hessi-
schen Gemeinde hat einen
Funktionär der rechtsextre-
men NPD einstimmig zum
Ortsvorsteher gewählt. Alle
sieben anwesenden Ortsbei-
ratsmitglieder von Altenstadt-
Waldsiedlung, darunter Ver-
treter von CDU, SPD und FDP,
wählten den stellvertretenden
NPD-Landesvorsitzenden
Stefan Jagsch zum Vorsteher,
wie die regionalen Verbände
von CDU und SPD am Wo-
chenende bestätigten. Von
hessischen Politikern, aber
auch aus der Bundespolitik in
Berlin kamen entsetzte Re-
aktionen. Zwei Abgeordnete
von SPD und CDU waren bei
der Abstimmung nicht anwe-
send. Nach einem Bericht der
Zeitung „Kreis-Anzeiger“ gab
es keinen anderen Kandidaten.
Der bisherige Ortsvorsteher
war für die FDP angetreten
und hatte bereits im Juni sei-
nen Rücktritt angekündigt.
Laut Hessischem Rundfunk
war der 33 Jahre alte Jagsch
mehrfach im Verfassungs-
schutzbericht des Landes Hes-
sen namentlich erwähnt wor-
den. Die Gemeinde Altenstadt
in Mittelhessen hat etwa
12.000 Einwohner, der Ortsteil
Waldsiedlung, dem Jagsch nun
vorsteht, 2600. Bei der Kom-
munalwahl in Altenstadt 2016
hatte die NPD zehn Prozent
geholt und lag damit vor der
FDP (sieben Prozent).

EXTREMISMUSVERDACHT

Polizeianwärter
entlassen

Weil sie rassistische Botschaf-
ten in einem Chat ausge-
tauscht haben sollen, ermittelt
die Frankfurter Staatsanwalt-
schaft gegen sechs mittlerweile
entlassene hessische Polizei-
anwärter. Das bestätigte ein
Sprecher des Innenministeri-
ums in Wiesbaden. Zuvor hatte
die „FAZ“ über den Fall be-
richtet. Demnach hatten die
Anwärter während ihrer Aus-
bildung über eine WhatsApp-
Gruppe Bilder herumgeschickt,
„die mindestens menschenver-
achtend sind, zu großen Teilen
aber vor allem rassistisch und
antisemitisch“. Details zu den
Inhalten wollte das Innen-
ministerium nicht nennen.
Nachdem die Polizeiakademie
auf die brisanten Inhalte der
ausgetauschten Nachrichten
aufmerksam geworden war,
habe man die Anwärter sofort
entlassen, sagte der Ministeri-
umssprecher. In der hessischen
Polizei hat es bereits mehrere
Rassismus-Vorfälle gegeben.

KOMPAKT


Warum


Cem Özdemir


den Machtkampf


jetzt in der


Fraktion wagt


Mit Kirsten Kappert-Gonther will der frühere Grünen-Chef


Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter verdrängen.


Eine andere, noch wichtigere Position hält er sich damit warm

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